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Abschied
Sebastian Haffner kennen Sie bestimmt als kritischen Historiker und Autor von Büchern über die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus. Haffner war für seine pointierten und messerscharfen Analysen bekannt. Ich denke etwa an «Anmerkungen zu Hitler» oder «Im Schatten der Geschichte». Er schrieb scharf, verständlich und mit grosser historischer Weitsicht. In einem ganz anderen Ton ist «Abschied» geschrieben, ein Roman, den Haffner im Herbst 1932 in wenigen Wochen zu Papier brachte, aber nie veröffentlichte. In seinen Analysen ist er ein Forensiker der deutschen Seele und arbeitet mit einem Skalpell. Sein Roman dagegen ist mit impressionistischer Leichtigkeit hingetupft: In wenigen Worten skizziert Sebastian Haffner die Szenen einer Liebe in Paris: Ich-Erzähler Raimund ist ganz schrecklich verliebt in Teddy. Kurt Tucholsky dichtete: «Was war das? vielleicht dein Lebensglück… vorbei, verweht, nie wieder.» So erlebt es Raimund: ein Augenblicksglück in Paris mit Teddy, sogar die Eifersucht ist süss. Und zugleich weiss Raimund, dass er bald wieder den Zug nach Deutschland besteigen muss. Er weiss, dass der Abschied am Gare du Nord ein endgültiger Abschied ist, nicht nur von Teddy und ihren Küssen, sondern auch von der Leichtigkeit dieses Lebens. In meinem 260. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich Ihnen, gerade jetzt, diese fast 100 Jahre alte Liebesgeschichte wärmstens ans Herz lege.
Sebastian Haffner ist 1907 als Raimund Pretzel in Berlin geboren – zu Sebastian Haffner wurde er erst nach seiner Flucht nach London. Sein Vater war ein hoher preussischer Beamter und privat ein leidenschaftlicher Literaturkenner und -liebhaber. In seinen Lebenserinnerungen «Geschichte eines Deutschen» schreibt Sebastian Haffner, sein Vater habe vor allem die Literatur des europäischen 19. Jahrhunderts geliebt, von Dickens und Thackeray über Balzac und Hugo bis Turgenjew und Tolstoj, Raabe und Keller. Für seinen Vater seien das nicht bloss Namen gewesen, sondern «intime Bekannte, mit denen er leidenschaftliche lange stumme Diskussionen gehabt hatte». Obwohl sein Vater also privat «alle Abgründe und Gipfel des europäischen Dichtens und Denkens» durchmessen habe, sei er «strenger, pedantisch pflichtgetreuer preussischer Beamter» geblieben. «Aber» schreibt Haffner, «er bildete … eine skeptisch-weise Liberalität in sich aus, die sein Beamtengesicht mehr und mehr zur blossen Maske werden liess.» Zusammengehalten habe er beides, die Liberalität und das Beamtengesicht, mit einer feinen, sublimen Ironie.

Sebastian Haffner alias Raimund Pretzel ist also in einem Haus voller Literatur aufgewachsen. Obwohl sein Vater Bücher liebte, war ihm daran gelegen, dass auch sein Sohn Beamter werde. «Er hatte», schreibt Haffner in seinen Erinnerungen, «nicht ohne eine gewisse Bestürzung wahrgenommen, dass das, was bei ihm Lektüre und Diskussion geblieben war, bei mir die Tendenz zeigte, ins Schreiben auszuarten, und er hatte es nicht übermässig ermutigt.» Er habe ihm das Schreiben nicht verboten: «Ich mochte in meiner Freizeit soviel Romane, Novellen und Essays schreiben, wie ich wollte, und sollten sie gedruckt werden und mich ernähren, umso besser. Aber inzwischen hatte ich ‹etwas Vernünftiges› zu studieren und meine Examina zu machen.»
Also studierte Sebastian Haffner Jura. 1933, als er als Referendar am Kammergericht in Berlin sein Ausbildungspraktikum absolvierte, wurde er Zeuge von der rücksichtslosen Machtübernahme der Nazis am Gericht. Er entschied sich gegen eine juristische Laufbahn, schloss sein Studium dem Vater zuliebe aber noch ab. Danach kehrte er der Juristerei den Rücken und arbeitete fortan als Journalist. Das ermöglichte ihm 1938 die Flucht nach England: Im Auftrag der Ullstein-Presse reiste er nach London – und blieb. Von England aus arbeitete er zunächst für deutschsprachige Zeitungen, wechselte aber bald zum englischen «Observer» und avancierte zu einem der wichtigsten Mitarbeiter der Zeitung.
Noch sind wir aber nicht so weit. 1932 gibt es das Pseudonym Sebastian Haffner noch nicht – Raimund Pretzel steckt noch im Ausbildungspraktikum am Kammergericht. 1932 stand Deutschland am Abgrund. Die Regierung Brüning war gestürzt, die Regierung Papen-Schleicher liquidierte die Republik und setzte die Verfassung ausser Kraft. Der Reichstag wurde gleich mehrfach aufgelöst und wiedergewählt. In seinen Erinnerungen schreibt Haffner über den Sommer 1932: «Man war nun wirklich nur noch um Haaresbreite von dem Ende entfernt, das Gefürchtete konnte täglich eintreten; die Nazis füllten mit ihren jetzt endgültig erlaubten Uniformen schon alle Strassen, warfen schon Bomben, entwarfen schon Proskriptionslisten; schon verhandelte man, im August, mit Hitler, ob er nicht Vizekanzler werden wolle, und im November, nachdem sich Papen und Schleicher entzweit hatten, bot man ihm sogar die Kanzlerschaft an.»
In dieser Stimmung schreibt Sebastian Haffner eine Liebesgeschichte. Ich-Erzähler Raimund ist nach Paris gereist, um da Teddy zu besuchen. Seine Teddy. In die aber alle jungen Männer etwas verliebt waren. Denn niemand trägt den Kopf so zierlich und stolz wie Teddy, niemand geht so schmal und federnd, und es gibt, sagt Raimund im Buch, «nichts Festlicheres auf dieser Welt als das Lächeln, mit dem sie grüßte und das Haar zurückwarf.» Diese Teddy also besucht Raimund 1932 in Paris und er weiss, dass er nach dem Besuch wieder zurück nach Deutschland reisen muss, ins Land am Abgrund, ohne Teddy.
Im Hotelzimmer, am letzten Abend, erinnert sich Raimund, wie es war, als Teddy im letzten Herbst aus Paris zu Besuch war:
Zum Beispiel dachte ich, wie Teddy aus Paris zurückkam, im vorigen Frühherbst, aus ihrem ersten Semester: wie begeistert, und wie jung, und Kopf hoch und federnd und Haar im Wind, und wie ich sie liebte und wie glücklich ich damals war; und wie herzlich und zutraulich sie gleich wieder an unsere alte, jung unterbrochene Freundschaft anknüpfte, und wie verschwenderisch sie mit sich war und wie ansteckend … Und dann, es half nichts, dachte ich an die einzelnen Tage, ich verlor mich, ich rauchte und atmete und flog zurück: Lauter Weekends waren es, denn ich war damals Referendar in Rheinsberg auf dem kleinen Amtsgericht, und konnte nur über Sonntag nach Berlin kommen. Jeden Sonnabend vormittags um dreiviertel elf stieg ich in Rheinsberg in die Kleinbahn – 10:53 ging der Zug, unvergesslich! Und um halb zwei stand ich auf dem Stettiner Bahnhof in der Telefonzelle und verlangte Teddys Nummer und hörte sie «hallo!» rufen – «hallo»: Ich fühlte ihre Stimme wieder auf meinem Trommelfell, und es ging mir wie ein leichter elektrischer Schlag durch alle Glieder. Ja, wenn es so etwas gibt wie Auferstehung und ewige Seligkeit: Kein Tubaton würde mich Langschläfer aus meinem Grabe locken, aber vielleicht das Signal: «Hallo», von Teddys Stimme mir ins Ohr gerufen. (Seite 19)
Diese Teddy gab es wirklich. Sie hiess Gertrude Joseph. Sie stammte aus Wien, machte in Berlin ihr Abitur und ging dann nach Paris, um an der Sorbonne zu studieren. Auch im richtigen Leben war der reale Raimund ganz schrecklich verliebt in Teddy. Sebastian Haffner schreibt später in seinen Erinnerungen:
Es ist gewiß eine romantische Lüge – wenn auch eine, die im vorigen Jahrhundert weiteste Popularität genoß – daß man «nur einmal wirklich liebe», und es ist auch ziemlich müßig, unter allen unvergleichbaren Liebeserlebnissen Rangordnungen zu machen und zu sagen: «Die oder die habe ich am meisten geliebt». Aber etwas anderes ist wahr: daß es einmal, meist um das zwanzigste Jahr herum, einen Zeitpunkt im Leben gibt, in dem das Liebeserlebnis und die Liebeswahl mehr als sonst schicksal- und charakterbestimmend wird; in dem man in einer Frau etwas anderes liebt als eben nur diese Frau: nämlich einen ganzen Weltaspekt, eine ganze Lebenskonzeption – wenn man will: ein Ideal; aber ein lebendig gewordenes, in Fleisch und Blut wandelndes Ideal. Es ist das Vorrecht der Zwanzigjährigen – und auch nicht aller – einmal in einer Frau das zu lieben, was später der Mann als seinen Stern empfinden wird. Heut muß ich abstrakte Ausdrücke suchen, um zu beschreiben, was ich auf der Welt liebe, was ich auf der Welt um jeden Preis bewahrt sehen will, und was man nicht verraten darf, man sterbe denn des ewigen Feuers: Freiheit und menschliche Klugheit, Mut, Grazie, Witz und Musik – und ich weiß nicht einmal, ob man mich versteht. Damals brauchte ich nur einen Namen für dasselbe auszusprechen, einen Kosenamen sogar: Teddy, und ich konnte sicher sein, daß wenigstens in unserm Kreise jeder mich verstehen würde. Wir liebten sie alle, die Trägerin dieses Namens, eine kleine Österreicherin, honigblond, sommersprossig, beweglich wie eine Flamme, und wir lernten und verlernten um ihretwillen die Eifersucht, wir erlebten Komödien und kleine Tragödien und wir empfanden Hymnen und Dithyramben ihretwegen, und wir erfuhren, daß das Leben schön wird, wenn man es mit Mut und Klugheit führt, mit Grazie und Freiheit, wenn man auf seinen Witz zu lauschen versteht und auf seine Musik. Wir hatten, in unserm Kreis, eine Göttin. Die Frau, die damals Teddy hieß, mag inzwischen älter und menschlicher geworden sein, und keiner von uns mag auf der Höhe seines damaligen Gefühls geblieben sein: daß es sie einmal gab und dies Gefühl einmal gab, ist nicht auszulöschen. Es formte uns mächtiger und nachhaltiger als irgendein «historisches Ereignis». Teddy schwand früh aus unserm Kreis, wie Göttinnen pflegen. Schon 1930 ging sie fort, nach Paris, schon damals mit dem Vorsatz, nicht umzukehren. Sie war vielleicht die erste Emigrantin. Sie spürte, ahnungsvoller und empfindlicher als wir, schon längst vor Hitler das Anwachsen und Bedrohlichwerden des Dummen und Bösen in Deutschland. Einmal im Sommer kam sie noch alljährlich zu Besuch zurück und fand die Luft jedesmal stickiger und schwerer zu atmen. Das letzte Mal kam sie 1933. Dann nicht mehr.
Dieser Teddy hat Sebastian Haffner in seinem frühen Roman ein Denkmal gesetzt. Wobei das die falsche Bezeichnung für diese luftig-leichte, zarte Liebesgeschichte ist. In seinen historischen Analysen schreibt Sebastian Haffner mit dem Skalpell in der Hand. Nehmen Sie nur den Anfang von «Anmerkungen zu Hitler»:
Adolf Hitlers Vater war ein Aufsteiger. Der uneheliche Sohn einer Dienstmagd brachte es zu einer gehobenen Beamtenstellung und starb geehrt und angesehen. Der Sohn begann als Absteiger. Er beendete die Realschule nicht, scheiterte an der Aufnahmeprüfung für die Kunstakademie und führte von seinem achtzehnten bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr, erst in Wien, dann in München, ohne Beruf oder Berufsziel, eine Frührentner- und Bohemeexistenz. (Seite 7)
Sebastian Haffner führt die Feder wie ein Skalpell und seziert gnadenlos die deutsche Geschichte. In seinem Roman schreibt er dagegen mit dem Aquarell-Pinsel. Er tupft die Worte hin wie ein Impressionist, schnell und flüchtig, Ziel ist nicht die Erkenntnis, sondern das Gefühl. Zum Beispiel der Abschied zwischen Teddy und Raimund:
Es gibt eine Euphorie des Abschieds. Es war plötzlich so, als hätten wir noch eine ganz lange, herrliche, ungestörte Zeit. Die Bahnhofsuhren zeigten zwanzig vor zehn. Wir gingen rasch am Zug entlang, und ich hielt Teddys sehr kleine Hand in meiner und ihren Arm zwischen meinem Arm und meinem Körper und meinen Arm zwischen ihrem Arm und ihrem Körper, und es war alles so, als könnte es gar nicht aufhören. Teddy schnoberte in die Luft und sagte: «Ich rieche Bahnhöfe gern, riechst du Bahnhöfe auch so gern?», «ich weiß nicht», sagte ich, «sie riechen so nach Reise», sagte Teddy, «dieser jetzt so nach Abreise», sagte ich, und wir lachten, und Teddy sagte: «Gare du Nord ist schon etwas – wie ich hier im Sommer abreiste, das war fabelhaft, weißt du, wer mich alles herbrachte – ich habe gezählt, vierzehn Leute waren es, ein kleiner Demonstrationszug, und dann war Sommer. Ach, es war so fabelhaft!» Wie sie den Kopf hob, glich sie der Teddy vom vorigen Sommer. «Ja», sagte ich, «fabelhaft!» «Du hättest im Sommer hier sein müssen», sagte Teddy, und jetzt waren wir ganz am Ende des Bahnsteigs, wo es nicht mehr weiterging, und dort blieben wir stehen und küssten uns, und wenn wir aufblickten, sahen wir draußen die Gleise und die Signale und die kleinen Lichter über den Gleisen, alles ganz endlos, endlos, und wir machten die Augen zu und küssten uns wieder, und die Zeit verging gar nicht so furchtbar schnell, sie war ganz gnädig, wenn man sich umsah, zeigten die Bahnhofsuhren immer noch achtzehn oder siebzehn Minuten bis zehn, und Teddy schauderte etwas und sagte: «Kalt», und dann küssten wir uns wieder, und dann rannten wir wieder ein Stück am Zug zurück. (Seite 176)
Erinnern Sie sich auch an solche Szenen? Wie man sich damals gleichzeitig unbändig leicht und unendlich schwer zugleich fühlen konnte, wie sich küssend eine Minute zur Ewigkeit dehnen liess – und die Ewigkeit in Sekunden zerstob, wie man schon beim Abschied bis tief unter die Haut voll Sehnsucht war … das beschreibt Sebastian Haffner in seinem kleinen Roman so zauberhaft leicht.
Wir wissen aber beim Lesen des Buchs, dass Raimunds Abschied nicht nur ein Abschied von Teddy ist, sondern auch ein Abschied von der Jugend und vom fröhlichen Leben. Wir wissen, dass den realen Raimund in Deutschland den Abgrund der Nationalsozialisten erwartet. Dass er sich nicht nur von einer Liebe verabschiedet, sondern auch vom literarischen Schreiben. Die Seiten werden in einer Schublade landen. Das Leben hat anderes vor mit ihm. All das liegt ahnungsvoll in der Abschiedsszene auf dem Gare du Nord und macht das Buch nicht nur zur zartbitteren Ode an die Jugend, sondern auch zum Denkmal für die vielen jungen Leben, die der Absteiger aus Braunau nur wenig später so rücksichtslos zerstören sollte.
Und warum sollen Sie diese fast 100 Jahre alte Liebesgeschichte gerade jetzt lesen? Weil das kleine Buch uns vor Augen führt, wofür es sich zu Leben lohnt. Nicht für die Stahlgewitter, mit denen Deutschland kurze Zeit später die Welt überziehen sollte und die uns heute wieder beschäftigen, hier, bei uns in Europa, im Nahen Osten und an vielen weiteren Orten auf der Welt, sondern für diese zarten, flüchtigen Augenblicke der Liebe, die Raimund mit Teddy in Paris erlebt.
Sebastian Haffner: Abschied. Roman. Mit einem Nachwort von Volker Weidermann. Hanser, 192 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-446-28482-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446284821
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 19.06.2025, Matthias Zehnder
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