Zur Ehrenrettung der Bürokratie

Publiziert am 21. Oktober 2016 von Matthias Zehnder

Die Politik hat ein Lieblingsschimpfwort: Bürokratie. Bürgerliche Parteien rufen zum Bürokratieabbau auf, wettern gegen Beamte und gegen die Verwaltung. Jedem Stimmbürger muss klarwerden: Die Bürokratie ist des Teufels. Doch ist sie das wirklich? Was wäre denn die Alternative zur Bürokratie? Und geht das überhaupt, Demokratie ohne Bürokratie? Eine kleine Ehrenrettung eines grossen Begriffs.

PDF_Button

Jedem wachen Schweizer ist heute klar: Die Bürokratie ist des Teufels. Wirtschaftsverbände, die FDP und die SVP trichtern uns diese Botschaft seit Jahren ein. Ein besonders lauter Anti-Bürokrat in Basel ist Gewerbedirektor Gabriel Barell. Er wettert gegen jedes Formular und gegen jede bürokratische Verwerfung. Jeder muss einsehen: Die Bürokratie schadet, dem Gewerbe sowieso. Die meisten Menschen nicken dazu bloss noch. Sie stellen diese Behauptungen nicht einmal mehr in Frage. Bürokratie ist böse. Doch ist sie das wirklich?

Das Wort Bürokratie kommt aus dem Französischen: Es ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus bureau für Schreibtisch, aber auch Verwaltung, und -cratie für Herrschaft. Wörtlich übersetzt bedeutet Bürokratie also Herrschaft der Verwaltung. Entstanden ist das Wort im 18. Jahrhundert in Paris. Bernd Wunder schreibt in einem Aufsatz über die Geschichte der Bürokratie, dass das Wort ursprünglich spöttisch gedacht war, ein geistreiches aber spottendes Bonmot der Pariser Salons, das die Reglementierungssucht der Behörden übertreibend zur Staatsform stilisierte. So gesehen knüpft die FDP an diese Tradition an, die das Wort Bürokratie als Kampfbegriff einsetzt. Das Problem ist nur: Seit dem 18. Jahrhundert haben sich einige Dinge entwickelt – unter anderem auch der Bürokratiebegriff.

Max Weber war es

Wichtigster Impulsgeber war der deutsche Soziologe Max Weber. In seinem Buch Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie definierte er die Bürokratie als idealtypische Form einer legalen und rationalen Herrschaft. Die bürokratische Verwaltung hält sich im Modell von Max Weber an eine ganze Reihe von Bedingungen. So sind Ämter in eine feste Hierarchie eingebunden und ihre Kompetenzen sind genau definiert. Amtsinhaber haben fest vorgegebene Rechte und Pflichten. Die Amtsführung muss sich an bestehende Regeln halten. Amtsinhaber haben Amtstätigkeit und Privates zu trennen. Amtsinhaber müssen bestimmte Fachqualifikationen besitzen, die durch eine geregelte, professionelle Ausbildung sichergestellt wird. Die Amtsführung muss schriftlich erfolgen. Alle Vorgänge werden in Akten festgehalten und sind damit nachprüfbar. Die Amtstätigkeit wird hauptberuflich ausgeübt, die Bezahlung reicht aus, um den Lebensunterhalt des Beamten zu bestreiten. Das bedeutet, dass der Amtsinhaber nicht auf andere Einnahmequellen angewiesen ist, auch nicht auf Bestechungsgelder.

Dass Max Weber diese Bedingungen überhaupt formulierte, bedeutet auch, dass es alles andere als selbstverständlich war (und ist), dass sie eingehalten werden. Es war eben nicht selbstverständlich, dass klare Regeln in der Amtsführung galten, dass die Beamten vorgegebene Rechte und Pflichten hatten, dass sie Amtstätigkeit und Privates trennten. Die Regeln schieben mit anderen Worten Amtsmissbrauch und Willkür einen Riegel. Beamte haben genau definierte Kompetenzen, sie müssen sich an Abläufe halten und Vorgänge nachprüfbar machen, indem sie sie schriftlich festhalten. Die Vorgänge im Staatsapparat sollen frei von Willkür sein, sie sollen nachvollziehbar und berechenbar werden und einheitlich für alle Bürger gelten. Es ist das, was Max Weber eine legale und rationale Herrschaft nennt. Heute könnte man das Modell als Good Governance bezeichnen.

Bürokratie als Befreiung von Willkür

Für Max Weber ist dieser Idealtypus der Bürokratie nicht starr und überreglementiert. Entscheidend ist laut Weber, dass die Verwaltung nicht ein Reich der freien Willkür und Gnade, der persönlich motivierten Gunst und Bewertung bilden. Max Weber warnt auch vor dem Selbsterhaltungstrieb der Bürokratie und ruft dazu auf, dem einzelnen Beamten auf dem Grund der rationalen Regeln freies Schaffen zuzubilligen. Verwaltung und Rechtsprechung dürfe nicht zum Automatismus werden. Beamte dürften nicht zu Automaten werden, in die man oben Akten und Kosten einwerfe, damit sie unten ein Urteil ausspuckten. Es brauche weiterhin den Menschen. Entscheidend ist für uns nur: dass prinzipiell hinter jeder Tat echt bürokratischer Verwaltung ein System rational diskutabler «Gründe», das heisst entweder: Subsumtion unter Normen, oder: Abwägung von Zwecken und Mitteln steht.

Genau dieser Aspekt der Verlässlichkeit und Willkürfreiheit geht im allgemeinen Bürokratiebashing heute unter. Wenn der bürgerliche Block nach mehr Augenmass ruft, dann ruft er eben auch nach mehr Willkür. Wenn er nach schlankeren Abläufen ruft, dann kann das auch zufälligere Entscheide bedeuten. Wenn er nach Abbau von Beamten schreit, kann das auch Verlust von Professionalität meinen. Aus der Sicht eines einzelnen Gewerbebetriebs mag es positiv sein, wenn er keine Bewilligung mehr braucht, um einen Grill aufzustellen, eine lärmende Maschine in Betrieb zu nehmen oder den Lieferwagen möglichst nah am Betrieb zu parkieren. Aus der Sicht der Anwohner werden diese Freiheiten aber möglicherweise als Übergriffe wahrgenommen. Was für die einen bürokratischer Zwang ist, ist für die anderen Schutz. Es frag sich bloss, wer sich gerade lauter aufregt.

Spätestens seit Margarete Thatcher in Grossbritannien und Ronald Reagan in den USA wird die Welt auf ein simples Gegensatzpaar reduziert: Bürokratie kontra Markt. Bürokratie bedeutet in diesem Weltbild Einmischung in den Markt. Doch einen Markt gibt es nicht per se, aus sich selbst heraus. Märkte sind nicht Gegensätze staatlichen Handelns, sondern das Resultat davon. Nur wenn Märkte richtig abgesteckt sind, funktionieren sie effizient. Laissez-faire implementiert nur das Recht des Stärkeren und ist deshalb im wörtlichen Sinn Gegensatz einer Bürokratie, deren Ziel es ist, allen Teilnehmern dieselben Regeln zu geben.

Auswuchs narzisstischer Egozentrik

Die steigende Zahl von bewilligungspflichtigen Vorgängen und auszufüllenden Formularen sind nicht einfach ein Auswuchs einer bösen Bürokratie, sondern vor allem Ausdruck einer Gesellschaft, in der Konflikte nicht mehr mit Gesprächen über den Gartenhag ausgeräumt, sondern an Beamte ausgelagert werden. Und die brauchen Formulare und Regeln, weil sie ja keine Willkürherrschaft betreiben dürfen. Ausgeheckt werden diese Regeln und Regulatorien von den Parlamenten. Das ist denn auch das Absurde an der Diskussion in Basel: Die Bürgerlichen beschweren sich über eine Regeldichte, die ihnen das bürgerlich dominierte Parlament eingebrockt hat.

WokoBanner

Wenn die Bürokratie überhandnimmt, dann deshalb, weil unsere Gesellschaft eine tiefe Sehnsucht nach Regeln hat – und in narzisstischer Egozentrik alle Menschen immer befürchten, schlechter wegzukommen als ihre Nachbarn. Die Bürokratie als solche ist ist nicht des Teufels. Bürokratie ist im Gegenteil unsere Rettung vor Willkür und Feudalherrschaft. Bürokratie beschert uns überprüfbar gleiche Rechte für alle, ohne Bevorzugung von Reichen und Mächtigen. Kurz: Bürokratie ist die logische Folge der Demokratie. Wer die Bürokratie grundsätzlich ablehnt, lehnt die Demokratie ab.

Wie die Ökonomie zur Religion wurde

5 Kommentare zu "Zur Ehrenrettung der Bürokratie"

  1. Die bürgerliche Klage über die Bürokratie lenkt mehr schlecht als recht ab von den eigentlichen politischen Fragestellungen, die die Gesellschaft angesichts der Dominanz der oekonomischen Interessen und der spürbaren Verschärfung der Zukunftsperspektiven beschäftigen sollten. Matthias Zehnter weist klar und deutlich auf die schlechte Alternative zum Bürokratie-Bashing hin. Denn Bürokratie ist im Gegenteil unsere Rettung vor Willkür und Feudalherrschaft. Bürokratie beschert uns überprüfbar gleiche Rechte für alle, ohne Bevorzugung von Reichen und Mächtigen. Kurz: Bürokratie ist die logische Folge der Demokratie. Wer die Bürokratie grundsätzlich ablehnt, lehnt die Demokratie ab. Die Folgen können dann etwa Donald Trump als President of the USA heissen.

  2. Idealtypisch mag das mit der Bürokratie so zutreffen. Nach meiner Wahrnehmung verhält es sich damit aber in der Realität leider in etwa so wie mit dem Sein und Schein in unserer Demokratie: Offensichtlich sind es in etwa 20 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner (Kinder und Ausländer/innen mitgezählt), die in der Tat hinter einem so genannt demokratisch getroffenen Entscheid stehen. Den andern ist es Wurst, oder sie sind dagegen, oder sie dürfen gar nicht mitreden. Ein Hoch auf die Bürokratie vermag deshalb wahrscheinlich unsere Welt ebensowenig ins Lot zu bringen wie ein Hoch auf die Demokratie.

  3. Von der Wiege bis zur Bahre –
    Formulare, Formulare, Formulare.

    … man merkt es, schon die Ahnen klagten über Bürokratisches.

    „Die Bürokratie ist des Teufels. Wirtschaftsverbände, die FDP und die SVP trichtern uns diese Botschaft seit Jahren ein.“ vernimmt der geneigte Leser dieses Blogs ab der siebten Zeile. Ich glaube kaum, das diese Aussage je so in dieser Form geäussert wurde. Sie will von den Unternehmern jeglicher Couleur einfach nur so klein wie nötig gehalten werden, was durchaus Sinn macht. Es ist leider so, das z.B. heute ein wunderbarer Gipser, der sein gelerntes Tagewerk famos ausübt, nachts oder sonntags stundenlang über Formulare, Anträge, Verfügungen usw. brüten muss. Meist fällt jenen talentierten Berufsleuten die Schreibarbeit dreifach so schwer wie ihr eigentlicher gekonnter Broterwerb, sie sind im „Behördenkram“ nicht so gelenkig wie auf der Baustelle, kommen oftmals nicht vorwärts und sehen es aus ihrer Optik als „Schikane“ an, welche sie verrichten müssen. Das muss man eben auch begreifen. Und gerade in diesen einfachen Berufen fehlt ohnehin schon der Nachwuchs. Dieses Jahr konnten in Basel gerade nur 2 (zwei!) Gipserlehrlinge gewonnen werden. Vergällen wir Ihnen diesen ehrenwerten und hochbenötigten Beruf durch unnötige Bürokratie nicht. Es wäre schade um die tapferen Berufsleute.
    Weil (wiedereinmal die böse) SVP, FDP und Co. gegen zuviel Bürokratie sind, wird in diesem Wochenkommentar reflexartig eine Lanze für die Bürokratie gebrochen, so klingt es nach dem Lesen der dieswöchigen Zeilen von oben in mir.
    Ach lassen wir die Bürokratie was sie ist: Ein notwendiges Übel. Oder wie schon die Alten lästig sungen: „Von der Wiege bis zur Bahre…..“

  4. Die Problematik an der Bürokratie sehe ich dort, wo sie selbst Politik betreibt. Ein Regierungsrat und Vorsteher eines Departements, eines mittleren bis grossen Unternehmens also, ist auf seine Beamten, zumindest auf seine Chefbeamten und Amtsvorsteher angewiesen, denn ihm selbst fehlt oft der fachliche Hintergrund.
    In der Privatwirtschaft ist es kaum denkbar, dass ein Biochemiker ein Baugeschäft leitet.
    Dort wo das Fachwissen also nur in der Verwaltung vorhanden ist, besteht die Gefahr, dass diese auch politik betreibt und die eigentlichen Vorgaben aus Parlament und Regierung weniger vollzogen, als vielmehr „interpretiert“ werden.

    Ich wollte meinen Enkel, der in der verkehrsfreien Innerstadt wohnt, mit dem Motorrad zu einer Ferienfahrt abholen. Ich ging brav zum Claraposten und wollte mir eine Bewilligung für diese Extrafahrt holen. Die entsprechende Beamtin machte mir klar, dies sei nicht möglich. Für ein Auto hätte ich die Bewilligung problemlos erhalten, für den Töff aber nicht, der ist in der Verordnung offenbar nicht vorgesehen. Da ich kein Auto besitze und mit dem Töff in die Feiren fahre, hat meine Tochter beim nachbarlichen Hotelier eine Gästebewilligung eingeholt, was mir ermöglichte, meinen Enkel mit dem Motorrad, als Hotelgast getarnt, zur Ferienfahrt abzuholen. Solches ist Seldwyla, ähnlich der in der BaZ kürzlich beschriebenen Problematik bezüglich der verweigerten Gestaltung eines Grabsteins durch eine Bronzeblume. Wenn der Bürger und Steuerzahler den Eindruck erhält, er würde von den Ämtern nicht ernst genommen oder gar sinnlos gegängelt, ist es schwierig, die unbestrittene Notwendigkeit einer Verwaltung verständlich zu machen.

    Dieses kleine Detail zeigt, was nicht nur die KMUs sondern jeden Bürger an der Bürokratie ärgert. Es ist oft der Entscheid einer Behörde, welcher aus purem Mangel an Gesetzes- oder Verordnungsqualität, aus Unkenntnis des politischen Willens, im Zweifelsfall meist zum Selbstschutz des entsprechenden Beamten, negativ ausfällt. Die Umsetzung des politischen Willens der Legislative und der Exekutive wird allzuoft aufgrund mangelnder Fachkenntnis der Verwaltung überlassen, was ihr unverhältnismässige Macht zugesteht.

    1. Das was Lorenz Egeler beschreibt, habe ich in den letzten 20 Jahren bei der Bildungspolitik erlebt, die in der Regel von einer Verwaltung beherrscht wird, die sich jenseits sowohl vom so genannten Gesunden Menschverstand als auch von wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen in einem schlechten Sinn bürokratisch fett in Szene setzt, und die Bevölkerung sowie die Schulen mit superteurem nichtsnutzigem Krimskrams beispielsweise à la Pisa, Lehrplan21, Fremdsprachenbeginn und Lesitungstests auf Trab hält.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.