Wir Richtigtuer
Abstand halten! Hände desinfizieren! Mundschutz tragen! Wir bekämpfen die Pandemie mit Regeln. Wer es richtig macht, bleibt gesund. Und wer krank wird, hat wohl etwas falsch gemacht. So ist das in der Regel-Gesellschaft. Wir sind darauf getrimmt, alles richtig zu machen. Wer sich richtig ernährt, sich richtig bewegt, sich richtig verhält, dem kann nichts passieren. Wir sind zu einer Gesellschaft von Richtigtuern geworden. Aus Angst, etwas falsch zu machen. Am Ende machen wir alles richtig – und machen damit den grössten Fehler: Wir verpassen das Leben.
Die Regeln des Bundesamts für Gesundheit kennen wir jetzt zur Genüge: Abstand halten, Hände waschen, in die Armbeuge husten. Diese Regeln kennt mittlerweile wirklich jedes Kind. Und natürlich sind die Regeln vernünftig. Schliesslich haben wir noch immer weder Medikamente, noch eine Impfung gegen das Coronavirus. Doch es bleibt nicht bei diesen Grundregeln. Mit den vielen Branchenschutzkonzepten ist geradezu ein Regelwald gewachsen, der von der Morgenandacht bis zum Nachtclub alle Bereiche des Lebens regelt.
Und das ist nicht erst seit der Coronakrise so. Die freie Marktwirtschaft zeichnet sich absurderweise in den letzten Jahren geradezu durch eine Explosion der formellen und informellen Regeln aus. Fünf Portionen Früchte oder Gemüse am Tag essen! Nicht rauchen! Täglich zehntausend Schritte tun! Keine Kleider aus Kinderarbeit kaufen! Immer das andere Geschlecht mitberücksichtigen! Was heisst: das andere – alle Geschlechte*r! Wie kommt es nur, dass die Menschen plötzlich so regelsüchtig geworden sind? Und welche Folgen hat das, wenn wir die Gesellschaft mit immer mehr Regeln immer mehr einhegen?
Die Sucht nach Regeln
Woher kommt diese Regelsucht? Warum haben immer mehr Menschen ein Bedürfnis nach immer mehr Regeln? Ich glaube, dahinter steckt die Angst. Gerade jetzt die Angst vor Ansteckung, vor Jobverlust, vor Unsicherheit. Ganz generell die Angst vor Fehlern, die Angst, aus den vielen Möglichkeiten, die wir haben, die falsche Möglichkeit auszuwählen. Angst ist der Feind der Freiheit. Wer frei ist, lebt selbstbestimmt. Das lässt sich auch so lesen, dass Freiheit mit der Pflicht verbunden ist, selbst über das eigene Leben zu bestimmen. Je grösser die Unsicherheit ist, desto schwieriger ist die Selbstbestimmung. Wer Angst hat, möchte keine Fehler machen. Er beugt sich lieber vielen Regeln und versucht, immer alles richtig zu machen. Er wird zum Richtigtuer.
Das Problem dabei: Angst ist ansteckend. Die Regelsucht wird damit zu einer verbreiteten Kollateralfolge der Pandemie. Ich erlebe das in unterschiedlichen Funktionen, dass immer mehr Menschen zurückfragen, jeden Sonderfall geregelt, jede Detailfrage beantwortet haben möchten – und sich dann ärgern, wenn sich doch noch ein Sonder-Sonderfall findet, der noch immer nicht geregelt ist. Aus Angst versuchen sie, die scheinbar feindliche Realität mit Regeln einzuhegen – und merken dabei nicht, dass sie vor allem sich selber beschränken.
Regeln stammen aus der Vergangenheit
Fatal daran ist, dass Regeln immer aus der Vergangenheit stammen. Aufgrund von Erfahrungen oder (bisher gültigen) Gesetzmässigkeiten stellen wir eine Regel auf, die in Zukunft gelten soll. Regeln können entlasten, weil sie auf diese Weise Erfahrungen formalisieren. Regeln sind Abkürzungen für das Denken. Oder genauer: Regeln machen es unnötig, zu denken. Das ist bequem. Regeln sind deshalb im wörtlichen Sinn unvernünftig.
In einer komplett neuen Situation wie der Pandemie sind Regeln oft wenig hilfreich, weil sich die Vergangenheit, aus der sie stammen, nur bedingt nutzen lässt. Wenn wir unser Handeln zu sehr von Regeln diktieren lassen, stehen wir einer neuen, unbekannten Situation gegenüber am Berg. Obwohl Improvisieren gerade die Stärke ist von uns Menschen, verlieren wir diese Fähigkeit. Wir degradieren uns zu regelgesteuerten Wesen und werden im Umgang mit Unbekanntem so hilflos wie Roboter.
Gesundheit wird moralisiert
Wenn sich die Regeln auf die Gesundheit beziehen, entsteht zudem ein unangenehmer Nebeneffekt: der Umkehrschluss. Wer richtig lebt, bleibt gesund. Ergo hat, wer krank wird, etwas falsch gemacht. Dieses Phänomen kennen wir aus der Zeit, als Aids aufkam. Eine Infektion mit dem HI-Virus lässt sich durch das Tragen eines Präservativs verhindern. Wer sich ansteckt, hat also etwas falsch gemacht, ja: unmoralisch gehandelt. Die Diagnose Aids wurde mindestens in der Anfangszeit so zu einem moralischen Verdikt über den Lebenswandel der betroffenen.
Die Gefahr ist gross, dass sich bei Covid-19 ein ähnlicher Effekt einstellt. Wer die Regeln einhält, bleibt gesund. Ergo hat, wer krank wird, die Hände nicht gewaschen, Abstände nicht eingehalten oder sich sonst nicht richtig verhalten. Dazu kommt noch, dass schwere Krankheitsverläufe gehäuft auftreten bei Menschen mit starkem Übergewicht, Diabetes und Herzproblemen. Das sind alles Krankheiten, die sich nach Meinung der Öffentlichkeit vermeiden lassen, wenn man die Regeln einhält. Kurz: Richtigtuer werden nie krank. Wer nicht 99 Jahre alt wird, ist selber schuld. Eine gefährliche Haltung.
Wir Richtigtuer
Wir haben immer mehr Angst etwas falsch zu machen und befolgen deshalb immer mehr Regeln. Am Ende machen wir alles richtig – und machen damit den grössten Fehler: Wir verpassen das Leben. Regeln sollten für das Leben sein, was die Einfassungen in einem Garten für die Gartenbeete sind: Das Leben findet im Raum dazwischen statt. Wenn der Garten nur noch aus Einfassungen besteht, hat das Leben keinen Platz mehr. Es erstickt im Regelwald.
Richtigtuer haben deshalb keine Zukunft. Das Problem in Pandemiezeiten ist: Falschmacher auch nicht. Gesucht ist die eigenverantwortliche Balance dazwischen. Leben als Balanceakt zwischen fehlerhafter Unvernunft und regelverhafteter Vernunftlosigkeit.
Regeln sind manchmal wichtig. Das Leben aber ist ein Tanz auf dem Hochseil. Deshalb: Lassen Sie uns tanzen. Mit Vernunft und Menschenverstand.
Basel, 12. Juni 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
Bild: ©Flexmedia – stock.adobe.com
8 Kommentare zu "Wir Richtigtuer"
Instantes
de Jorge Luís Borges (1899-1986)
Si pudiera vivir nuevamente mi vida.
En la próxima, trataría de cometer mas errores.
No intentaría ser tan perfecto, me relajaría mas.
Sería mas tonto de lo que he sido,
de hecho tomaría muy pocas cosas con seriedad.
Sería menos higiénico, correría mas riesgos.
Haría mas viajes, contemplaría mas atardeceres,
subiría mas montañas, nadaría mas ríos.
Iría a mas lugares donde nunca he ido,
comería mas helados y menos habas.
Tendría mas problemas reales y menos imaginarios.
Yo fui una de esas personas que vivió sensata y prolíficamente
cada minuto de su vida.
Claro que tuve momentos de alegría, pero si pudiese volver atrás,
trataría de tener solamente buenos momentos.
Por si no lo saben, de eso está hecha la vida, solo de momentos.
No te pierdas el ahora.
Yo era uno de esos que nunca iba a ninguna parte, sin un termómetro,
una bolsa de agua caliente, un paraguas y un paracaídas.
Si pudiese volver a vivir, viajaría mas liviano.
Si pudiera volver a vivir, comenzaría a andar descalzo a principios de la
primavera y seguirá así hasta concluir el otoño.
Daría mas vueltas en calesita, contemplaría mas amaneceres y jugaría con niños.
Si tuviera otra vez la vida por delante.
Pero ya ven, tengo 85 años y sé que me estoy muriendo.
Wunderbar!
Paradox: Während männiglich und weibiglich total damit beschäftigt scheinen, individuell für sich das final Richtige bis zum Geht-nicht-mehr zu tun, lassen sich offensichtlich immer mehr Gesellschaften von einer kollektiv organisierten Verantwortungs- und Wertelosigkeit beherrschen, die Auto- und Plutokraten ihre narrenfreie Entfaltung ermöglicht. Wo für die Mehrheit vor allem nur noch zählt, was Profit bringt und was Spass macht, würde Gölä’s Hedo-Song „I hätt no viu blöder ta!“ zur Nationalhymne einer Schweiz, die hoffentlich so nicht werden und untergehen wird.
Ein wunderbares Plädoyer für den Liberalismus.
Leider teile ich die Beobachtung, gerade auch in der Politik. Jedes Problemchen versuchen wir zu Tode zu regulieren, anstatt dass wir uns auf Freiheit und Selbstverantwortung besinnen.
Das ist aber keineswegs eine Eigenschaft der freien Marktwirtschaft. Im Gegenteil wird die freie Martkwirtschaft durch diesen staatlichen Dirigismus mehr und mehr in eine Ecke gedrängt, bis wir irgendwann in unserem eigenen Regelwerk erstarren. Es braucht eine Rückbesinnung auf unsere zentralen Werte als freie Gesellschaft, sonst verpassen wir tatsächlich noch das Leben.
Diese Regulierswut ist leider nicht nur beim Staat festzustellen, sondern genauso in der Wirtschaft. Sämtliche Prozesse werden definiert und kontrolliert; dem Einzelnen wird wenig Verantwortung übertragen. Ich denke, das hat auch mit unseren digitalen Möglichkeiten zu tun, dass wir alles erfassen und steuern wollen und meinen, so Sicherheit zu bekommen und Fehler vermeiden zu können.
Dahinter steckt wohl tatsächlich Angst, auch die Angst der Vorgesetzten, damit in ihrer Abteilung ja nichts schief läuft und ihr Ruf beschädigt werden könnte.
Beengend ist nicht, dass Menschen nach Regeln leben sondern, dass es nur noch Richtig oder Falsch gibt. Das ganze Dazwischen, die tausend anderen Möglichkeiten kommen nicht in Frage und werden oft herablassend unterdrückt.
Die Regulierungswut in der Politik mit Covid 19 zu verknüpfen halte ich für falsch. Ohne Regeln wären wir bis jetzt…. nicht so glimpflich davongekommen und leider ist es noch nicht vorbei, da die hochgelobte Eigenverantwortung bei vielen kaum bis gar nicht vorhanden ist.
Es gibt Richtigtuer und Wichtigtuer.
Was ist mühsamer?