Wie viel Medienschutz braucht unsere Jugend?

Publiziert am 19. März 2021 von Matthias Zehnder

Diese Woche hat der Nationalrat mit den Beratungen zum Bundesgesetz für «Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele» begonnen. Die Ratslinke unterstützt das Gesetz und will künftig Jugendliche besser vor ungeeigneten Inhalten in Games und Streamingangeboten schützen. Die SVP findet das Gesetz unnötig, beeilt sich aber zu versichern, dass sie nur gegen das Gesetz sei, nicht gegen den Jugendschutz. Ja, was jetzt? Braucht unsere Jugend Schutz? Braucht es dazu ein Gesetz? Einig sind sich die Räte, dass die Eltern viel Verantwortung tragen. Aber wie können wir sie in die Lage versetzen, diese Verantwortung wahrzunehmen?

Seit 15 Jahren gibt es die Schweizerische Kommission Jugendschutz im Film. Die Kommission begutachtet Filme und legt für die Schweiz die Altersfreigaben für Kinofilme fest. Je nach Umfang und Art von Szenen mit Sex und Gewalt gibt es Alterseinstufungen: Filme sind freigegeben ab 0, 6, 8, 10, 12, 14, 16 oder 18 Jahren. Diese Freigaben sind in der Schweiz rechtlich verbindlich. Darüber hinaus kann die Kommission auch Altersempfehlungen aussprechen. Sie kann also sagen, ein Film sei ab 12 freigegeben, aber erst ab 14 empfehlenswert. Die Rede ist dabei von «öffentlichen Filmvorführungen» und von «Videoverleih». Und das ist, nicht nur in der Pandemie, nicht mehr ganz zeitgemäss. Denn Jugendliche konsumieren zwar so viel audiovisuelle Inhalte wie noch nie, aber hauptsächlich als Streams im Internet und in Form von Games – und beides immer häufiger auf dem Handy. Die Kommission reguliert also immer stärker an der Realität vorbei.

Der Nationalrat hat deshalb diese Woche mit den Beratungen über eine Verbesserung des Jugendschutzgesetzes beraten. Mit vorhersehbarem Resultat: Die SP befürwortet ein besseres Jugendschutzgesetz, die SVP findet es unnötig. Das Gesetz natürlich, nicht den Jugendschutz. Das betonen alle SVP-Politiker:innen, die im Rat reden. Das rote Tuch für die SVP dürfte sein, dass es mit dem vorliegenden Gesetz eine Angleichung an die EU-Richtlinien geben wird, die vor drei Jahren revidiert worden sind. Für Matthias Aebischer (SP, BE), der im Namen der vorberatenden Kommission sprach, ist der Fall eindeutig: «Es braucht entsprechende international kompatible Lösungen und Regelungen für die neuen Medien.»[1]

Für die SVP sprach sich Verena Herzog (SVP, TG) gegen ein besseres Jugendschutzgesetz aus: «Auch wir sind natürlich für wirksamen Jugendschutz.» Doch dann schob sie fünf «aber» nach: 1. Man solle die Branche das selber regeln lassen, die habe das im Griff. «Dazu braucht es keine neuen, überflüssigen Regulierungen.» 2. «Wir wollen keine Bevormundung der Eltern.» Die Verantwortung zur Beaufsichtigung werde de facto von den Eltern an die Anbieter delegiert. 3. Die Technik sei schon weiter. 4. Das funktioniere auf Plattformen wie Amazon, Apple, Netflix, Sky oder Youtube sowieso nicht. Und 5. löse das Gesetz nur zusätzliche Bürokratie aus.

Beide Seiten haben (ein bisschen) recht

Auf den ersten Blick haben die Argumente beider Seiten etwas. Die SP hat recht: Wenn wir Kinder vor unerwünschten Inhalten schützen wollen und sich die Technik weiterentwickelt hat, dann müssen wir mit den Gesetzen nachziehen. Und ein bisschen stimmt natürlich auch, was die SVP sagt: Es sind und bleiben die Eltern für ihre Kinder verantwortlich. Und dann bringt die SVP noch ein Argument ins Spiel, mit dem sie ihrer eigenen «Die Schweiz ist unabhängig»-Doktrin widerspricht: Ein Gesetz in der kleinen Schweiz hat keinen Einfluss auf «Streaming-Angebote wie Apple TV, Netflix, Youtube usw.», wie das Mauro Tuena (SVP, ZH) gut zusammenfasst. In der Tat. So schlecht ist die Idee einer EU eben doch nicht…

Dazu kommt noch, dass Jugendschutz manchmal auch genau gegenteilige Folgen hat. J.K. Rowling bringt das im fünften Band der Harry-Potter-Saga auf den Punkt, als die böse Schulleiterin Dolores Umbridge die Ausgabe einer Zeitschrift verbietet. In der Zeitschrift hatte Harry Potter ein Interview gegeben und darin über die Rückkehr von Voldemort gesprochen. «Jedes Mal wenn Hermines Blick auf einen dieser Aushänge fiel, strahlte sie aus irgendeinem Grund vor Vergnügen.

«‹Worüber freust du dich eigentlich so?›, fragte Harry.

‹Ach, Harry, verstehst Du denn nicht?›, seufzte Hermine. ‹Das Beste, was sie tun konnte, um absolut sicherzustellen, dass auch noch der Letzte hier in dieser Schule dein Interview liest, was, es zu verbieten.›»[2]

Machen wir also, indem wir Inhalte regulieren und für einzelne Altersstufen verbieten, den Dolores-Umbridge-Fehler? Machen wir die Inhalte erst recht interessant?

«Unsere Jugend ist in Gefahr!»

Damit wir uns darüber Gedanken machen können, sollten wir uns einmal vergegenwärtigen, woher der Wunsch nach Jugendschutz eigentlich kommt. Schauen wir uns einmal dieses Plakat an:

Plakat «Arbeiter und Arbeiterinnen! Unsere Jugend ist in Gefahr!». Wien, 1918. Katalog der Wienbibliothek im Rathaus

«Unsere Jugend ist in Gefahr!» steht in fetten Lettern auf dem Plakat. «Schützt unsere Jugend, unsere Kinder!» Es ist ein Plakat von 1918, das in eindrücklichen Worten die Gefahren schildert: «So wie der Krieg die Blüte unseres Volkes hingerafft hat, droht die jetzige schwere Zeit des Ueberganges unsere Kinder, unsere Jugendlichen seelisch zu vernichten. Tausendfältig sind heute die Gefahren der Strasse.» Das Plakat ruft deshalb die «Arbeiter und Arbeiterinnen» dazu auf, die Kinder soweit als es möglich daheim zu behalten. «Trachtet insbesondere, dass eure Jungen und Mädchen unter dem 18. Lebensjahr abends zu Hause bleiben!»[3]

Das Plakat aus Wien ist typisch für seine Zeit: Es erinnert an den eben überwundenen Weltkrieg und richtet sich vor allem an die Arbeiterinnen und Arbeiter. Abgesehen von der zeittypischen Aufmachung und dem Wortschatz von 1918 fasst das Plakat aber präzise das zusammen, was noch heute Jugendschutz ausmacht. Es ist zum einen die Feststellung «Unsere Jugend ist in Gefahr!» – und zum anderen die Angst, dass Kinder und Jugendliche die Gefahren, denen sie da ausgesetzt sind, alleine nicht bewältigen können. Weil Kinder und Jugendliche aber unsere Zukunft sind, müssen wir sie besonders schützen. Nach dem Krieg fasst das Plakat das in drastische Worte: «Schirmt das letzte, das uns diese fürchterliche Krise gelassen hat» – unsere Kinder.

Mediale Schonräume für die Kinder

Bis ins 19. Jahrhundert hinein galten Kinder als kleine, fehlerhafte Erwachsene. Sie sollten in erster Linie möglichst rasch gross und erwachsen werden. Die Wende leitete ein Schweizer ein: 1759 erklärte Jean-Jacques Rousseau in seinem Roman «Émile» die Kindheit zu etwas Kostbarem. Mit der Zeit entwickelte sich die Vorstellung der Kindheit als eines Schonraums: Kinder haben ein Recht auf freie Entwicklung, Entfaltung und auf Bildung. Damit sie dieses Recht wahrnehmen können, muss die Gesellschaft sie vor Einschränkungen und Gefahren schützen. Deshalb ist Kinderarbeit verboten, aber auch Alkohol und Drogen sollen vom Kinderzimmer ferngehalten werden. Nicht nur die körperliche Gesundheit der Kinder wollte die bürgerliche Gesellschaft schützen, sondern auch die sittliche: Der deutsche Kinder- und Jugendmedienschutz schreibt von «medialen Schonräumen», die eine «positive Entwicklung» gewährleisten sollen.[4]

In der EU sorgt heute die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste für einen verbindlichen Rahmen, der in allen EU-Mitgliedstaaten für die Medienregulierung gilt.[5] Darin ist etwa geregelt, dass in einem Film nicht zu Gewalt aufgerufen werden darf. Streaming-Angebote und neue Medien sind übrigens explizit mitgemeint. In Deutschland gibt es zudem das Jugendschutzgesetz des Bundes, das sogenannt «jugendgefährdende Medien» auf einen Index setzen und deren Vertrieb einschränken kann. Am 5. März 2021 hat der deutsche Bundestag das Jugendschutzgesetz aktualisiert.[6] Bundesfamilienministerin Franziska Giffey sagte dazu, es gehe darum, «den Jugendschutz aus dem Zeitalter von CD-ROM und Videokassette ins 21. Jahrhundert» zu bringen. Im Fokus stehen dabei vor allem digitale Medien im Internet, also soziale Plattformen, Games, Videos und Bilder. Das neue, deutsche Jugendschutzgesetz schützt Kinder und Jugendliche vor so genannten «Interaktionsrisiken» wie Mobbing, sexueller Anmache oder Kostenfallen und es sorgt für Orientierung der Eltern, Fachkräfte und der Jugendlichen selbst durch einheitliche Alterskennzeichen. Also etwa das, was die Schweiz jetzt (vielleicht irgendwann) auch installiert.

Drei Fragen zum Jugendschutz

Vor diesem Hintergrund kann man sich drei Fragen stellen:

  1. Brauchen Jugendliche wirklich einen Schutz? Sind sie uns, was neue Techniken angeht, nicht ohnehin überlegen?
  2. Wenn ja: Kann ein Gesetz den Schutz leisten?
  3. Welche Rolle oder welche Aufgabe haben die Eltern?

Über die erste Frage müssen wir wohl nicht lange diskutieren. Mindestens die Extremfälle sollten klar sein: Pornografie, Geldspiele und Gewaltverherrlichung gehören nicht ins Kinderzimmer. Das Problem dürfte sein, dass es zwischen den klar verbotenen und den klar erlaubten Inhalten eine grosse Grauzone von Inhalten und Angeboten gibt, die mehr oder weniger erwünscht sind. Dazu kommt: Kinder und Jugendliche mögen neue Techniken rasch beherrschen, sie stehen aber einer globalen Unterhaltungsindustrie gegenüber, die mit ausgefeilten Mitteln Kinder möglichst früh zum Konsum ihrer Inhalte bringen will. Zudem darf man technische Fertigkeiten nicht mit der Fähigkeit verwechseln, mit problematischen Inhalten umgehen zu können.

Wir brauchen also eine Form von Jugendschutz. Hat also die SP recht? Ich glaube, wir brauchen ein Jugendschutzgesetz, wie es der Deutsche Bundestag soeben beschlossen hat, aber es wäre blauäugig, wenn wir nur auf das Gesetz vertrauen würden. Zum einen ist das Internet nach wie vor schwierig regulierbar, zum anderen ist das Problem die grosse Grauzone zwischen klar erlaubt und klar verboten. Ein Gesetz allein reicht also nicht aus.

Hat also die SVP recht? Müssen die Eltern Verantwortung übernehmen? Ja klar, das müssen sie auf jeden Fall. Aber wir dürfen sie dabei nicht sich selbst überlassen, wie das die SVP machen möchte. Das grosse Problem ist doch diese grosse Grauzone zwischen verbotenen und erwünschten Inhalten. Pornografie zu erkennen, ist relativ einfach. Aber was ist mit sexuell aufgeladenen Szenen, die ich meinen Kindern nicht (oder noch nicht) zumuten möchte? Was ist mit Filmen und Videospielen, die zwar erlaubt sind, aber sich doch so stark um Gewalt drehen, dass ich nicht möchte, dass meine Kinder viel Zeit damit verbringen?

Die meisten Eltern möchten Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und die Filme und Games, die sie konsumieren, sorgfältig auswählen. Also brauchen sie Informationen, damit sie diese Verantwortung übernehmen können. Alterskennzeichnungen von Filmen und Games können dabei helfen. Es sind allerdings sehr grobe Schubladen, die da zum Einsatz kommen. Besser wäre, Experten würden die Filme in Worten beschreiben und bewerten. Interessierte Eltern könnten dann diese Beschreibungen abrufen und einen informierten Entscheid über die Medien fällen.

Bewertungen von Experten für Eltern

Über Filme liegen in der Schweiz genau solche Informationen bereits vor – bloss sind sie gut versteckt. Die Schweizerische Kommission Jugendschutz im Film begutachtet die Filme, die in der Schweiz ins Kino kommen. Die Expertenkommission belegt die Filme nicht nur mit Altersbeschränkungen, sondern schreibt auch interessante Kommentare dazu. Über den Marvel-Film «Avenger – Age of Ultron» schreiben die Experten zum Beispiel: «Die dauernde Gewalt, die in diesem Film gezeigt wird, ist mit der Gewalt in den Comics vergleichbar, auf dem er basiert… Es handelt sich um einen langen Film mit zahlreichen Aspekten, die ihn in physiologischer Hinsicht für Kinder und Jugendliche ungeeignet machen: sehr schnelle Schnittfolge, permanent hoher Sound-Level mit vielen Bässen, sehr aggressive Bilder, teilweise mit stroboskopischen Effekten, sehr anstrengende 3D-Effekte aufgrund ständiger Änderungen der Tiefenschärfe. Doch der Film bietet auch hervorragende Unterhaltung, hauptsächlich aufgrund der sehr spektakulären und teilweise sogar ganz neuen Spezialeffekte.» Die Dialoge seien «von grosser Geschwätzigkeit und pseudophilosophischen Inhalten geprägt.» Die Experten kommen zum Schluss: «Eine Freigabe ab 14 Jahren ist daher unserer Auffassung nach ideal: Ab diesem Alter kann dieser Film, der sich in erster Linie an ältere Jugendliche richtet, uneingeschränkt verstanden werden.»

Das ist eine differenzierte Bewertung, die Eltern in die Lage versetzt, eine informierte Entscheidung zu treffen – bloss ist diese Bewertung gut versteckt in einer Excel-Datei, die man von der Website der Kommission herunterladen kann.[7] Wenn man weiss, wo. Viel dienlicher wäre es doch, wenn diese Bewertung in einer öffentlichen Datenbank anbrufbar wäre und zum Beispiel in Form einer App auf dem Mobiltelefon zur Verfügung gestellt würde, damit Eltern sich rasch und einfach ein Bild von einem Film oder einem Game machen können. Eine solche Datenbank wäre umso wichtiger, als die meisten Medien sich aus der Filmkritik verabschiedet haben.

Darüber hinaus scheint mir ein weiterer Punkt wichtig. Der deutsche Kinder- und Jugendmedienschutz schreibt von «medialen Schonräumen». Er meint damit Schonräume in Medien. Ich würde meinen, vor allem unsere jüngeren Kinder brauchen Räume, wo sie vor Medien verschont sind. 2019 waren Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren 205 Minuten täglich online. Im Jahr 2020 waren es sogar 258 Minuten täglich.[8] Das sind fast viereinhalb Stunden pro Tag – im Durchschnitt! Was unsere Kinder und Jugendlichen vor allem brauchen, ist mehr Zeit ohne Medien, also mehr reale Welt. Auf Bäumen klettern, spielen auf der Wohnstrasse oder im Park, Räuber und Poli im Quartier spielen, basteln im Keller. Zum Kinder- und Jugendschutz gehört deshalb nicht nur der Schutz vor unerwünschten Inhalten, es gehören auch Schutzräume dazu wie Wohnstrassen oder Spielräume in der realen Welt. Damit unsere Kinder auch ausserhalb von Medien gut und gerne frei leben können.

Basel, 19. März 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©Mr. Note19 – stock.adobe.com

[1] Alle Voten zur Debatte finden sich hier im amtlichen Bulletin: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=52439

[2] Joanne K. Rowling: «Harry Potter und der Orden des Phoenix», S. 683; Hamburg: Carlsen 2003

[3] Plakat «Arbeiter und Arbeiterinnen! Unsere Jugend ist in Gefahr!». Wien, 1918. Katalog der Wienbibliothek im Rathaus: https://search.wienbibliothek.at/primo-explore/fulldisplay?docid=WBR_alma2184732100004516&context=L&adaptor=Local%20Search%20Engine&vid=WBR&lang=de_DE&search_scope=default_scope&tab=default_tab&query=addsrcrid,exact,AC10558088

[4] Vgl. https://www.kjm-online.de/themen/jugendmedienschutz

[5] Die deutsche Fassung der Richtlinie gibts hier: https://www.kjm-online.de/fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Gesetze_Staatsvertraege/Audiovisuelle_Mediendienste-Richtlinie_AVMD-RL.pdf

[6] Vgl. «Bundestag verabschiedet Reform des Jugendschutzgesetzes», Pressemitteilung des Bundesfamilienministeriums vom 5. März 2021; https://www.bundespruefstelle.de/bpjm/service/alle-meldungen/bundestag-verabschiedet-reform-des-jugendschutzgesetzes-174220

[7] Hier gibts die Excel-Datei: https://filmrating.ch/xls/verfahrensliste.xls

[8] Quelle: https://www.bundespruefstelle.de/bpjm/service/alle-meldungen/bundestag-verabschiedet-reform-des-jugendschutzgesetzes-174220

2 Kommentare zu "Wie viel Medienschutz braucht unsere Jugend?"

  1. Der Schluss von Matthias Zehnder stimmt auch für mich. Auch mir scheint es wichtig: Menschen – ob jung, älter oder alt – brauchen möglichst vielfältige, alltägliche und leibhaftige Auseinandersetzungen in ihren Lebensräumen. Erfahrungen mit Kopf, Herz, Hand und Fuss können immun machen gegen Viren aller Art: auch gegen mediale. Ein Schutz, der nicht mit einem Gesetz erreicht werden kann. – Im übrigen würde die Politik gut tun, den Kollaps, der stattfindet, nicht mehr weiter blauäugig oder scheinheilig zu verleugnen. Und es braucht jetzt auch Medien, eine Wirtschaft und eine Wissenschaft, die sich hoffnungs- und lebensfroh mit den Chancen auseinandersetzen, die der Wandel bietet. Damit die Folgen der Zusammenbrüche gemildert werden, und alle Menschen bestmöglich heil bleiben können.

  2. Der Schluss des heutigen Wochenkommentars empfinde ich als das Wesentlichste:
    Wenn die Jugend mehr vor Illegalem (und Legalem) geschützt wäre/ist, bricht viel PC- und Handy-Zeit weg. Dieses „Loch“ an Zeit wäre am besten mit einem „Kontrastprogramm“ gefüllt. Rausgehen, Bewegung, Spiel, Spass.
    Dies zog ich als einsamer Kämpfer (schon damals) mit meinem Kinde durch.
    Wir gingen in Wald auf dem Hosenboden den Hang runterrutschen (was natürlich schmutzige Kleidung gab, zerissene Kleidung welche am Abend noch zusätzlich Arbeit gab) – während die andern Kids (auch im Winter) mit den weissen Tennissocken und den kurzen Hosen im vorgewärmten Auto von sauber gescheiteltem Papa in die Tennis-Hall gefahren wurden….
    Am Ski-Hang bauten wir unsere eigene Skipiste und die (damals öden Skis) zu einem Schlitten um, rauf(stapfen) und akrobatisch runter – ein günstiger Spass und abends kaputt-müde vom vielen Schnee – während die anderen Papis ihre Kids geordnet der Ski-School übergaben und sich darauf an der Eis-Bar den ersten Drink genehmigten….
    Der schönste Park und die kreativste Wohnstrasse besassen nicht die Anziehungskraft wie der unverbaute Bach mit seinen tausenden von Spiel-Ideen. Und der belassene Steinbruch brachte mehr Kinderfreude hervor wie es das ausgeklügeltste Klettergerüst in BS von den extra eingeflogenen Berliner „Spielplatzarchitekten“ je kann.
    HEUTE hapert es gleich Drefach beim „Rausgehen“:
    1.) Viele Eltern schauen erst mal für ihr Wohl anstatt fürs Kinderwohl. Was ist für MICH angenehmer, ab in den Indoor-Spielplatz oder 3 Stunden „Pfützenspringen“? Mutti frägt sich, soll es ein Ikea-Shopping-Trip mit meinen Freundinnen sein (und die Kleinen gratis im Ikea-Kinderland abgeben) oder begebe ich mich zu den Höhlen im Kaltbrunnental mit meinem Nachwuchs. Schmutz, durstige Kinder, kaputte Kleidung am Abend inbegriffen oder eine Schwedische Apfeltasche mit Sahne mit meinen Liebsten im wohltemperierten Möbel-Restaurant….
    2.) Man muss sagen, dass es (europaweit) in der Arbeitswelt anzog. Die Eltern sind oft echt müde, müder als der Bahnhofvorstand vor 50 Jahren nach seinem Dienst. Müder als der Grenzbeamte in seiner Zollstube am Zoll Neuwiller nach seiner Schicht. Müder als der Schulhausabwart von Seewen beim Sonnenuntergang.
    Eltern sind keine Supermenschen, welche Job und Kids 100% stemmen können. Diese Illusion ist ein Irrglaube. Eine saubere (altmodische?) Aufgabenaufteilung ist von vorgestern, doch beim Job wie beim Kind braucht es volles Dabeisein und Aufmerksamkeit.
    3.) „Rausgehen“ in der CH-2021: Das bedeutet: Raus in eine überbaute Umwelt. Wo ich vor 20 Jahren noch mit meinem Kind Schäfchen fütterte, steht heute ein Wohnblock. Wo ich früher beim Bauern noch Geissen streichelte und Hühner jagte, steht heute ein steriles Gewächshaus und ein Unterstand für den angewachsenen Landwirtschaftsmaschinen-Fuhrpark. Wo eine Brache war (Kiesgrube, Lotterhütte) steht heute ein ausgebautes Tramdepot. Ja – man merkt die 1 Millionen-Zuwanderung in unser kleines Land in den letzten 20 Jahren.
    Mehr Infrastruktur, unendlich mehr Häuser, längere Wege in die unberührte Natur, keine leeren Vorortstrams mehr, wo die Kinder auch mal laut sein konnten.
    Wohnstrassen, Parks ok – aber Kinderaugen beginnen zu leuchten bei Bächen, bei Sümpfen, in Wald, Feld und Wiese.
    50’000 Zugewanderte im Corona-Jahr 2020 (!), wo die halbe Schweiz auf Kurzarbeit war. Gegen 100’000 Menschen plus stets jährlich zuvor – pro Sekunde wird 1m2 Kulturland in der Schweiz betonversiegelt, sprich verbaut.
    Und keine Politpartei hat einen Plan. Das muss einem schon zu denken geben.
    Schönreden kann man immer alles. Spürbar ist es aber erst richtig mit voller Wucht beim „Naturnahen-Eltern-sein-wollen“, das einem heute in der Schweiz an allen Ecken und Enden schwer gemacht wird. Am wahrhafigsten aber spüren der ungemeine Siedlungsdruck unsere Kleinsten, die ungesunden Kinder im 2021 – ohne Rausgehen, ohne Bewegung und ohne Naturfreuden mehr – dafür mit den schnellsten 5-G Masten überall, auf denen leider steht: „Klettern verboten…“

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