Wie viel lesen Sie?

Publiziert am 7. Juli 2023 von Matthias Zehnder

Sind Sie eine Leserin, ein Leser? Wenn Sie diesen Text lesen, klingt das wie eine blöde Frage. Ich meine natürlich: Lesen Sie Bücher? Diese Woche hat das Bundesamt für Statistik die neuen Mediennutzungszahlen veröffentlicht. Das Ergebnis: In der Schweiz lesen knapp 80 Prozent der Bevölkerung mindestens ein Buch pro Jahr, rund 30 Prozent lesen etwa ein Buch pro Monat. Wenn Sie meinen, das sei viel, sollten Sie umdenken: Norwegerinnen und Norweger lesen im Durchschnitt über 15 Bücher im Jahr, 88 Prozent der Norweger liest mindestens ein Buch. Jeder vierte Norweger liest täglich in einem Buch.

Den Grund dafür habe ich in Oslo gefunden. Sie haben sicher schon vom Operahuset Oslo gehört, dem Opernhaus direkt am Oslofjord. Wie die Oper in Sidney steht das gewaltige Bauwerk aus weissem Marmor direkt am Wasser. Entworfen hat es das norwegische Architekturbüro Snøhetta. Das Haus wurde 2009 eröffnet. Schnell ist es zum Zentrum des trendigen Stadtteils Bjørvika geworden.

Gleich hinter dem Opernhaus steht das Museum, das ganz den Werken von Edvard Munch gewidmet ist: Das Munchmuseet erhebt sich auf dreizehn Stockwerken fast direkt aus der Akerselva, die dort in den Oslofjord mündet. Das Munchmuseet beherbergt Tausende von Munchs Gemälde und Grafiken und wirkt selbst wie eine etwas traurige Skulptur des norwegischen Nationalkünstlers.

Von beiden Bauwerken haben sie sicher schon gehört. Aber kennen Sie auch Deichman Bjørvika? Auch das ist ein spektakuläres Gebäude, dessen oberste Stockwerke die unteren wie ein gewaltiger, dreieckiger Pilz weit überragen. Deichman Bjørvika ist die neue Hauptbibliothek von Oslo. Die öffentliche Bibliothek beherbergt eine umfangreiche Büchersammlung, Arbeitsplätze, Restaurants, ein Kino, Lounges, einen Gaming-Bereich und Werkstätten. Und vor allem: Man kann einfach in die Bibliothek hineinspazieren. Im zweigeschossigen Untergeschoss befindet sich die Freihand-Abteilung, darunter eine riesige Kinderbuchsammlung. Wer will, kann sich hier ein Buch aus dem Regal nehmen, sich hinsetzen und lesen, ohne jemanden fragen zu müssen.

Die öffentliche Bibliothek von Oslo befindet sich in einem spektakulären Gebäude an bester Lage zwischen dem Opernhaus und dem Bahnhof Oslo Sentralstasjon. Also dort, wo in der Schweiz die Banken stehen. Die Deichmanske bibliotek hat in Oslo neben der Hauptbibliothek 16 Zweigstellen. Es sind Volksbibliotheken, die jedermann offen stehen.

Die Norwegerinnen und Norwegern haben nicht nur in Oslo freien Zugang zu Büchern: Im ganzen Land stehen ihnen rund 675 Volksbibliotheken zur Verfügung. Zusätzlich haben 1900 Grundschulen und über 300 weiterführende Schulen eigene Schulbibliotheken.

Der norwegische Staat finanziert den öffentlichen Bibliotheken den Ankauf von norwegischen Neuerscheinungen: Der Kulturrat kauft jedes Jahr über 600 Neuerscheinungen für die Bibliotheken ein. Für die Verlage (und für die Autorinnen und Autoren) ist das eine wichtige Absatzgarantie: Die ersten rund 1000 Exemplare eines neuen Buchs sind damit schon verkauft. Das gibt Sicherheit.

Weil die Bücher an die Bibliotheken im ganzen Land verteilt werden, sorgt diese Abnahmeregelung gleichzeitig dafür, dass die norwegische Bevölkerung freien Zugang zu aktueller Literatur aus dem eigenen Land hat. Bücher sind zudem von der Mehrwertsteuer befreit, und zwar sowohl gedruckte Bücher, als auch E-Books. Darüber hinaus fördert der Staat Autorinnen und Autoren und den Vertrieb norwegischer Bücher im Ausland.

Es ist deshalb kein Zufall, dass in Oslo an bester Lage im Stadtzentrum zwischen dem Bahnhof und dem Opernhaus ein spektakuläres Gebäude steht, das eine öffentlich zugängliche Bibliothek beherbergt. Norwegen ist ganz offensichtlich stolz auf seine Bücher.

Und die Schweiz? Gemäss der Medienstatistik des Bundes ist die Nutzung von Radio und Fernsehen im Jahr 2022 leicht zurückgegangen: TV auf durchschnittlich 111 Minuten pro Tag (-9 Minuten im Vergleich zu 2021), Radio auf 80 Minuten pro Tag (-6 Minuten). Verloren haben die klassischen Medien ans Internet: Dessen durchschnittliche Nutzungszeit ist auf über viereinhalb Stunden pro Tag gestiegen. Natürlich auch bei Jugendlichen. Bücher tauchen in vielen Statistiken gar nicht mehr auf. Die aktuelle James-Studie stellt immerhin fest, dass nur noch jeder fünfte Jugendliche regelmässig ein Buch in die Hand nimmt.

Vielleicht sollten wir uns also ein Beispiel an Norwegen nehmen und in unseren Städten an bester Lage öffentliche Bibliotheken einrichten. Entsprechende Gebäude stehen ja bald zur Verfügung, wenn die UBS die Credit Suisse integriert. Bibliotheken statt Banken – das wäre doch etwas.

Mit diesen Zeilen aus Oslo grüsse ich Sie aus meinen Sommerferien, einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht. Lesen Sie gut!

Bild: Die Deichman Bjørvika in Oslo, die neue, öfentliche Zentralbibliothek der Stadt, zwischen Hauptbahnhof (links) und Opernhaus (rechts) gelegen. (mz)

6 Kommentare zu "Wie viel lesen Sie?"

  1. Bibliotheken sowie warum, wie und wo es sie gibt, entsprechen einem Teil der Bildungsorganisation. Was mir speziell am Beispiel Finnland bewusst wurde. In der Schweiz scheint Bildung in Tat und Wahrheit hauptsächlich als Mittel zum Zweck einer finanz-, prestige- und machtträchtigen Karriere zu dienen. Dafür kann auf Literatur verzichtet werden.

  2. Man kann die stark lesende Bevölkerung Finnlands nicht mit der schwächer lesenden Bevölkerung der Schweiz vergleichen. Massgebend ist, wie diese Bevölkerung zusammengesetzt ist. Denn in Finnland hat der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung Anfang 2022 rund 5,3 Prozent betragen, wovon rund 2,4 Prozent auf Frauen und rund 2,9 Prozent auf Männer entfallen.
    Ende 2022 lag hingegen jedoch der Ausländeranteil an der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz bei 26 Prozent und lag damit wiederum mehr 0,3 Prozentpunkte über dem Vorjahresniveau.
    Dies muss mit berücksichtigt werden, wenn man die finnische und der Schweizer Bevölkerungsstruktur vergleicht. Und leider ist es nun mal so, das die ausländische Bevölkerungsschicht um ein vielfaches weniger bis gar nicht Bücher liest (teils aus plausiblen, verständlichen Gründen die mannigfaltig sind). Ändern wird sich daran wenig, denn allein 2022 zogen 180’000 Menschen in die Schweiz. Das entspricht der Bevölkerungszahl der Stadt Basel.
    Führende Prognostiker und Institute schätzen, dass allein die 180’000 Zuzüger von 2022 folgende schwindelerregende Nachfragen ausgelöst haben:
    850 Ärzte, 90 Zahnärzte, 800 Spitalbetten, 4800 Pfleger, 10’000 Fahrzeuge, 85’000 Wohnungen.
    Eine endlose Spirale, ein «Perpetuum mobile», ein uferloses Mehr-mehr-mehr-bis-zum-geht nicht mehr, doch da sind wir bei der Politik angelangt.
    Hoffen wir, das die Bücher, die Büchereien und das Lesen in der Schweiz, in Finnland und weltweit nie ausstirbt. Denn wer liest – macht nichts Dümmeres…..

    1. Ach hören Sie doch mal auf mit dieser tumben SVP-Propaganda. Erstens ist hier nicht von Finnland die Rede, sondern von Norwegen. Deshalb Oslo. Zweitens ist es genau umgekehrt, wie sie behaupten: 2021 besassen 26,3 Prozent der Schweizer Bevölkerung mit Migrationshintergrund einen Hochschulabschluss, bei den Schweizern ohne Migrationshintergrund waren es nur rund 19,7 Prozent. Die Schweizer Wirtschaft ist längst bitter angewiesen auf gut ausgebildete Fachleute aus dem Ausland. Informatiker, Ingenieure, Ärzte sowieso. Die Schweiz bildet seit Jahren zu wenig Ärzte aus. 2022 hat sich die Demographie gedreht: Es sind zudem zum ersten Mal mehr Menschen pensioniert worden, als ins Erwerbsleben eingetreten. Sie erzählen mir dann mal, wie all die Stellen ohne Einwanderung besetzt werden sollen. Wir haben im Moment eine Arbeitslosenquote von 1,9 Prozent. Bei den RAV sind über 50’000 offene Stellen gemeldet. Das hat mit dieser Demographie zu tun. Wie wollen Sie denn ohne Einwanderung die Schweiz am Laufen halten? Wieviele Schweizer haben Sie in den letzten 50 Jahren auf einer Baustelle getroffen? Wissen Sie, wie wenige Schweizer Informatik studieren und wie viele Informatiker wir brauchen? Aber dass die Einwanderer weniger lesen würden, das ist wirklich nur dumme Propaganda, ein Vorurteil, das von Verachtung zeugt und mich massloss ärgert. Das Gegenteil ist wahr.

      1. Antwort:
        Ich bezog meinen Kommentar auf U. Kellers Beispiel Finnlands.
        Ich wollte Sie nicht ärgern, und schon gar nicht masslos.
        Ja, Zuwanderung hat zwei Seiten. Die eine, die Wirtschaftliche (die Schweiz, den Motor „am Laufen“ halten) und die andere, den gesamten Rest.
        Wie der allüberall spürbare Siedlungsdruck die Stimmung im Land verändert, darüber kann sich dank direkter Demokratie die Stimmbevölkerung bald äussern.
        Ich wünsche schöne Ferienzeit und schliesse mit einem „Alten“: ‚Lesen macht keinen Lärm‘. Und das ist in dem Ferien ja gerade das Richtige….

  3. Die Ausländer sind mehr als das Salz in ihrer Suppe: Ohne Ausländer keine SVP! Sie ist ein Teil der parlamentarischen Parteiendemokratie. Ein System, das es als Ganzes und von links über die Mitte bis nach rechts kaum mehr bringen kann. Wie auch so viele andere gängige und gewohnte Systeme nicht mehr. Diese Wahrheit steht noch nicht in sehr vielen Büchern: Weder in Finnland, noch in Norwegen, und auch nicht beispielsweise in der Schweiz. Sehr viele wollen sie auch nicht wissen: Vielleicht weil sie Angst macht. Oder weil sie zu einem ganz andern politischen Handeln verpflichtet.

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