Wie unser Gehirn uns in die Informationsfalle lockt

Publiziert am 13. August 2021 von Matthias Zehnder

Warum hören wir Nachrichten, schauen die «Tagesschau», lesen wir diese oder jene Zeitung? Klar: Ein Teil aller Medien dient schlicht der Unterhaltung, das gilt auch für die Nachrichten. Aber was ist mit den Informationen? Informieren wir uns, damit wir uns richtig entscheiden können – oder suchen wir vielmehr die zu unseren Entscheidungen passenden Informationen? Einiges deutet auf Letzteres hin. Das zeigt sich gerade in der Pandemie: Informationen, und seien sie noch so gut, sind kaum in der Lage, eine vorgefasste Haltung zu erschüttern. Ich sage Ihnen heute, warum das so ist und zeige Ihnen Wege, wie wir aus der Falle finden, die unser eigenes Gehirn uns stellt.

Vielleicht kennen Sie diesen Effekt: Sie beschäftigen sich zum ersten Mal mit einem Thema, etwa mit einem Reiseziel oder einem Schriftsteller, und plötzlich begegnen Ihnen überall Information dazu. Es ist so auffällig, dass sie beginnen, an eine Verschwörung zu glauben – oder sich schlecht fühlen, weil offensichtlich die ganze Welt von diesem Schriftsteller spricht und nur Sie ihn bisher nicht gekannt haben. Aber keine Angst: Weder hat sich die Welt bezüglich Ihrer Reiseziele verschworen, noch sind Sie ein Literatur-Ignorant. Es handelt sich dabei um ein psychologisches Phänomen mit einem brachialen Namen: Es ist der «Baader-Meinhof-Effekt».

Dieser Effekt funktioniert so: Sie begegnen etwas Neuem, das Sie interessiert. Das kann ein Wort sein, eine Musikgruppe, ein Schriftsteller, ein spezielles Gericht, ein Reiseziel. Plötzlich steigt die Zahl der Erwähnungen dieser Musikgruppe, dieses Schriftstellers, des Gerichts oder des Reiseziels extrem an. Sie hören einen Song plötzlich «die ganz Zeit» im Radio. Sie lesen einen bestimmten Ausdruck ständig in der Zeitung. In Tat und Wahrheit bleiben die Erwähnungen gleich häufig, der Song wurde immer schon so oft abgespielt und den Ausdruck gibt es auch schon lange, nur hat sich Ihre Wahrnehmung verändert: Sie bemerken sie plötzlich, weil Sie Ihre Aufmerksamkeit darauf richten. Der Baader-Meinhof-Effekt bezeichnet also eine Art Verschiebung im Bewusstsein eines Themas.

Natürlich ist es nicht immer auf diesen Effekt zurückzuführen, wenn Sie plötzlich einen Song häufig im Radio hören. Vielleicht ist er einfach neu in den Charts oder in einem dieser Songreels der Radiostationen, die gefühlt immer kleiner werden. Wenn es aber ein Oldie ist oder sonst ein interessanter Song, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass er nicht häufiger abgespielt wird, sondern dass Sie einfach begonnen haben, ihn wahrzunehmen. Auch keine Folge des Baader-Meinhof-Effekts ist es, wenn Sie auf Zalando nach einem rosaroten Hemd oder bei der Importparfümerie nach einem Duft von Calvin Klein gesucht haben und danach wochenlang auf allen Websites von rosaroten Hemden und Düften von Calvin Klein verfolgt werden. Das ist keine Folge ihrer Aufmerksamkeit, das sind schlicht targeted Ads, es ist also Werbung, die sich nach Ihren (vermeintlichen) Interessen richtet.

Terroristen und Heuhaufen

Wie kommt es zum Baader-Meinhof-Phänomen und warum ist es nach einer Terroristengruppe benannt? Die Erklärung ist einfach: Wir werden jeden Tag mit Zillionen von Informationen bombardiert. Das Leben bewirft uns quasi ständig mit Heuhaufen. In diesen Haufen ist aber nur das wenigste für uns wichtig. Damit das Hirn die Heuhaufen, mit denen es beworfen wird, nicht ständig nach den sprichwörtlichen Stecknadeln durchsuchen muss, filtert es all die Informationen und Eindrücke so stark aus, dass gar nicht erst Heuhaufen entstehen im Kopf. Ein Song oder ein Reiseziel kann lange so irrelevant für Sie sein, dass Ihr Hirn die Information als überflüssiges Heu ausfiltert. Bis Sie aus irgendeinem Grund sich plötzlich für den Song oder das Reiseziel interessieren und das Wort oder das Bild damit zur Stecknadel machen. Das Hirn stellt den Filter von «abblocken» auf «durchlassen» und plötzlich sehen Sie überall den Namen des Reiseziels oder hören ständig den Song. Inhaltlich hat das Phänomen nichts mit der deutschen Terrorgruppe aus den 70er-Jahren zu tun. Es kam zu seinem Namen, als 1995 diese Art der selektiven Wahrnehmung online diskutiert wurden und einer der Diskutanten den Effekt an sich selbst erlebte, weil er gerade ständig auf Informationen über die Baader-Meinhof-Bande stiess. Der Name ist so speziell, dass Sie, wenn Sie ihn einmal gehört haben, plötzlich immer wieder auf ihn stossen werden. Wetten?

Der heimtückische Algorithmus im Hirn

Aber zurück zu unserer Wahrnehmung. Auch die Medien bombardieren uns täglich mit vielen Informationen, von denen unser Hirn die meisten als überflüssiges Heu taxiert. Oder erinnern Sie sich noch, was gestern in der «Tagesschau» gekommen ist? Eben. Einige wenige Informationen taxiert das Hirn aber als Stecknadeln und speichert sie. Sei es, weil Sie sich dafür interessieren, sei es, weil die Themen es aus einem anderen Grund geschafft haben, den Heu-Filter Ihres Gehirns zu überspringen. Das Gehirn funktioniert damit ähnlich wie die Google-Suche: Sie können nur nach etwas suchen, was Sie schon haben (ein Suchwort oder ein Suchbild). Den Heu-Filter passieren vor allem Themen, die Ihnen bereits wichtig sind. Das ist der Baader-Meinhof-Effekt. Das Hirn hat also, ganz ähnlich wie Facebook, eine Art Algorithmus eingebaut, der dazu führt, dass Sie sich immer in einer Art Filter-Bubble bewegen. Sie sehen vor allem das, was Sie schon wissen, weil Sie sich dafür interessieren und das Hirn diese Informationen deshalb bevorzugt.

Psychologen nennen das Baader-Meinhof-Phänomen eine kognitive Verzerrung. Leider ist es nicht die einzige Verzerrung, die sich unser Hirn leistet. Daniel Kahneman und Amos Tversky haben sich schon in den frühen Siebziger-Jahren mit kognitiven Verzerrungen beschäftigt. Kahnemann hat 2002 für seine Forschungen darüber, wie Menschen sich bei Unsicherheit entschieden, den Nobelpreis erhalten. Eine der wichtigsten Verzerrungen, die sich das Hirn leistet, ist der Verfügbarkeitsfehler: Wir neigen dazu, die Bedeutung einer Information an der Häufigkeit abzulesen, mit der sie uns begegnet. Das klassische Beispiel dafür sind Flugzeugabstürze: Weil die Medien jeden Flugzeugabsturz auf der Welt melden, auch wenn es sich dabei um ein Frachtflugzeug handelt, das in Sibirien von der Piste abgekommen ist, begegnen wir häufig Informationen über Flugzeugabstürze. Wir überschätzen deshalb die Gefahr des Fliegens massiv und unterschätzen das Risiko der Reise an den Flughafen. Wenn Sie es bis an Gate geschafft haben, haben Sie den gefährlichsten Teil der Reise schon hinter sich. Aber welche Zeitung berichtet schon über einen Auffahrunfall im Flughafenparkhaus?

Die Werbung macht sich den Verfügbarkeitsfehler zunutze: Wenn Sie im Supermarkt von der Angebotsvielfalt überwältigt eine Kaufentscheidung fällen und zwischen mehreren ähnlichen Produkten wählen müssen, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Sie zu jenen Produkten greifen, die Sie aus der Werbung bereits kennen. Sie überschätzen deren Bedeutung, weil Ihr Hirn Informationen über das Produkt oder die Marke abgespeichert hat. Markenhersteller versuchen deshalb mit penetranter Werbung dafür zu sorgen, dass ihre Marke in Ihrem Hirn ein Plätzchen findet.

Zwei Fehler hintereinander

Jetzt haben wir zwei kognitive Fehler: Der Baader-Meinhof-Effekt sorgt dafür, dass Sie Dinge, die Sie schon kennen, besser wahrnehmen als Dinge, die Sie nicht kennen. Der Verfügbarkeitsfehler sorgt dafür, dass Sie die Bedeutung von Informationen, denen Sie häufig begegnen, überschätzen. Hintereinandergeschaltet sorgen diese beiden kognitiven Fehlleistungen dafür, dass Sie die Bedeutung von Informationen, die Sie schon haben, überschätzen. Mit anderen Worten: Das Gehirn sperrt Sie in einer Filterbubble ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine einmal gefasste Meinung ändern, sinkt.

Warum sind die Effekte heute wichtiger als vor, sagen wir, 50 Jahren? Weil das Internet wie ein gigantischer Supermarkt funktioniert. Wir haben nicht mehr ein, zwei Medien, die uns rundum mit Informationen versorgen, wir sind alle ständig in der Situation einer medialen Überwältigung und müssen zwischen sehr vielen verschiedenen Informationen auswählen. Wie im Supermarkt vor dem Regal mit den Buntwaschmitteln greift das Hirn in seiner Hilflosigkeit auf bewährte Mechanismen zurück – und schwups wählen wir aus der überwältigenden Fülle der Informationen jene aus, die unserer Haltung am ehesten entsprechen, weil wir sie besser wahrnehmen und deshalb ihre Bedeutung überschätzen. Obwohl wir auf Mausklick eine riesige Informationsfülle zur Verfügung haben, bestätigen wir damit also unser bestehendes Weltbild. Oder besser: gerade deswegen. Unser eigenes Gehirn sperrt uns also in einer Filter-Bubble ein. Was können wir dagegen tun? Und was kann die Gesellschaft tun, wenn immer grössere Bereiche sich durch wissenschaftliche Fakten nicht erreichen lassen?

So befreien Sie sich aus der Falle der Kognitionsfehler

Das Rezept gegen die Überwältigung im Supermarkt ist der Gang ins Restaurant: Statt sich am Lebensmittelregal verwirren zu lassen, bestellt man im Restaurant das Tagesmenü. Übersetzt in die Medienwelt heisst das: Statt sich in den Informationsdschungel des Internets zu werfen, vertraut man auf das Tagesmenü, das ein professionelles Medium serviert. Wer eine gute Tageszeitung von A-Z liest oder regelmässig eine Nachrichtensendung wie das «Echo der Zeit» hört, wird von professionellen Journalisten mit einem ausgewogenen Tagesmenü bedient. Deshalb ist es so wichtig, dass auch künftig Medienprodukte existieren, welche die wilde Welt der Nachrichten kuratieren und daraus ein sinnvolles Angebot zusammenbauen.

Der Profi-Zusatzipp dazu: Fressen Sie öfter mal über den Hag, besuchen Sie also öfter mal ein Restaurant, das eine Küche anbietet, die Sie nicht kennen. Indisch, vietnamesisch, bulgarisch, marokkanisch – einfach anders. Wieder in die Medienwelt übersetzt: Lesen Sie öfter mal eine Zeitung, die ihnen eigentlich nicht gefällt. «WoZ»-Leser:innen die «Weltwoche» (und umgekehrt), «NZZ»-Leser den «Tagi», «Republik»-Leser den «Schweizer Monat». Bloss eine Bitte: beschränken Sie sich auf professionelle Medien. Vielleicht schüttelt Sie das durch – aber es öffnet die Augen für andere Perspektiven und sprengt mit der Zeit vielleicht Ihre Filterbubble.

Und die Wissenschaft? Wie kann sie sich wieder mehr Gehör verschaffen in der Gesellschaft? Vermutlich muss sie sich des Rezepts bedienen, das die Markenartikler anwenden: Wenige, einfache und verständliche Botschaften immer wieder wiederholen. Was bei Visa, Victorinox und Volvo funktioniert, das funktioniert vielleicht auch bei Virologie.

Basel, 13. August 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © BullRun – stock.adobe.com

A (2019): Understanding The Baader-Meinhof Phenomenon. In: Healthline. [https://www.healthline.com/health/baader-meinhof-phenomenon; 11.8.2021].

Bellows, Alan (2006): The Baader-Meinhof Phenomenon. In: Damn Interesting. [https://www.damninteresting.com/the-baader-meinhof-phenomenon/; 11.8.2021].

Kahneman, Daniel (1982): Judgment under uncertainty. Cambridge: Cambridge University Press.

Ohne Autor. What Is The Frequency Illusion And How Can You Use It. In: CC&A Strategic Media. [https://www.ccastrategicmedia.com/frequency-illusion/; 11.8.2021].

Zwicky, Arnold (2005): Language Log: Just Between Dr. Language And I. In: University of Pennsylvania. [http://itre.cis.upenn.edu/~myl/languagelog/archives/002386.html; 11.8.2021].

Zwicky, Arnold (2006): Why are we so illuded? In: Stanford University. [https://web.stanford.edu/~zwicky/LSA07illude.abst.pdf; 11.8.2021].

 

2 Kommentare zu "Wie unser Gehirn uns in die Informationsfalle lockt"

  1. Zustimmung!
    Und der wichtigste Satz des Jahres, des Jahrhunderts:
    Lesen Sie öfter mal eine Zeitung, die ihnen eigentlich nicht gefällt.
    «WoZ»-Leser:innen die «Weltwoche» (und umgekehrt), «NZZ»-Leser den «Tagi», «Republik»-Leser den «Schweizer Monat».
    Superb!
    Den «WoZ»-Leserinnen und Leser kann man, als Ergänzung, durchaus auch noch den Nebelspalter.ch mit seinen formidablen Interviews empfehlen! Gegen Meinungsblasen: Monatlicher Nebelspalter-Talk «Friendly Fire» mit Laura Zimmermann und Markus Somm (dort treffen Planeten aufeinander) oder «The Somm Show» – aktuell mit Michael Herrmann, Politgeograf.
    Wo der Nebel gespalten ist, herrscht klare Sicht…..
    Auch «Weltwoche daily» auf Youtube (oder im App) ist immer wieder erhellend; die andere Sicht – aber stets gutgelaunt und ohne moralische Keule.
    Abschliessend – ich sag es immer wieder – muss auch der «Blick» erwähnt werden. Denn nur mit «NZZ», «Welt», «Zeit» ist man nicht allumfassend informiert.
    Auch «Blick» hat grossartige Autoren. Frank A. Meyer – eine Figur, die den Schweizer Journalismus die letzten Jahrzehnte prägte und immer noch prägt, läuft dort zur Höchstform auf. Auch hier ein sehenswertes Muster seines Könnens
    https://www.blick.ch/meinung/frank-a-meyer/frank-a-meyer-kritisiert-gendersprache-elitaere-arroganz-id16695499.html
    Diesmal beschäftigt er sich mit der «Elitären Arroganz» – und bemerkt dazu richtig, dass eine eingebildete Schicht glaubt, eine Sprache verfügen zu können. Er kommt zum Schluss, dass sich der Einsatz für die Gleichberechtigung sich in Handlungen äussere – und nicht im medialen Sprach-Aktivismus!
    Gottlob ist der Journalismus in der Schweiz (noch) vielseitig(er als z.B. in D)
    Ich bin überzeugt: Den «WoZ»-Leserinnen und Leser werden alsbald mehr als die Augen aufgehen…..

  2. Sogenannte Leit- oder Massenmedien sind substanziell nicht viel wert. Um sich verkaufen zu können – so wird argumentiert – müssen sie sich am Mainstream orientieren. Ein Mythos, der verschleiert, dass es wenige gross Mächtigen und schwer Reiche sind, die nicht nur der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft, sondern auch den Medien den Takt und den Ton angeben und sagen wo’s lang gehen soll. Da bin ich nicht mehr mit von der Partie: schön, dass und wenn wir immer noch mehr werden!

    Medien können asozial oder sogar zerstörerisch wirken. Wenn sie Wahrheiten verschweigen. Oder wenn sie gar Unwahrheiten verbreiten. Der in den letzten Jahrhunderten von Menschen gemachte Teil der Welt ist mehr und mehr am Zusammenbrechen: ökologisch, ökonomisch und sozial. Für eine Welt, die alle und alles nachhaltig zukunftsfähig umfassen wird, braucht es unter anderem auch andere Medien. Mit einer Bevölkerung, die Wahrheiten nicht wissen, und nicht entsprechend handeln kann oder will, ist eine andere Welt nicht möglich.

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