Wie uns die Mitte abhanden kam
Ob man nun für oder gegen den Brexit ist – diese Woche tat es geradezu körperlich weh, sich mit britischer Politik zu beschäftigen. Das britische Unterhaus, die Mutter aller Parlamente, war ausser Rand und Band. Und England ist nicht das einzige Land, das sich immer stärker im Würgegriff der Extreme befindet. In Dänemark und Ungarn, in Italien, in Österreich und in den USA sieht es ähnlich aus. Und auch in der Schweiz. 2018 ist das Jahr, in dem uns die vernünftige Mitte abhanden gekommen ist. Was jetzt?
Theresa May kann einem eigentlich nur noch leid tun: Die britische Premierministerin wird im Unterhaus gerade vor den Augen der Öffentlichkeit zerrieben zwischen den unerbittlichen Polen im Parlament. Die Brexit-Befürworter in der eigenen Partei fordern lauthals den kompromisslosen Ausstieg aus der EU – ohne aber selbst irgend eine Idee oder konstruktive Lösung dazu beizutragen. Sie lehnen das Brexit-Abkommen kategorisch ab. Die EU-Befürworter fordern ebenso laut das Gegenteil. Sie lehnen das Brexit-Abkommen ebenfalls ab und wünschen sich eine zweite Volksabstimmung.
Wenn man sich auf BBC das Hickhack im britischen Parlament anschaut, kriegt man den Eindruck, dass fast niemand an einer Lösung interessiert ist. Die Brexit-Fraktion träumt weiter von einem völlig unrealistischen Brexit-Abkommen, das es den Engländern erlauben würde, alle Rosinen aus dem Kuchen zu picken. Labour-Chef Jeremy Corbyn andererseits geisselt die Brexeteers – aber eben auch die neoliberale EU. Mit anderen Worten: Die Parlamentarier sagen das, was ihre Wähler hören möchten. Vernünftige Kompromisse gehören nicht dazu.
Kompromisse lohnen sich nicht mehr
Das britische Parlament ist nicht das einzige, das sich immer stärker in fruchtlosen Flügelkämpfen übt. Auch in der Schweiz raufen sich die Politiker seltener zu einem übergreifenden Kompromiss zusammen. Ein Beispiel ist das CO2-Gesetz, das diese Woche zwischen den Fronten des Nationalrats zerrieben wurde. Die Rechte zog dem Gesetz so viele Zähne, dass die Linke am Schluss auch nicht mehr dahinter stehen konnte. Das Gesetz fiel deshalb im Nationalrat zwischen Stuhl und Bänke: Links und Rechts lehnten das Gesetz ab.
Das ist untypisch. Die Schweiz ist der Bundesstaat gewordene Kompromiss. Unser ganzes Regierungssystem ist darauf angelegt, dass sich vernünftige Menschen unterschiedlichster, politischer Couleur zusammenraufen und in einem Kompromiss finden. Genau das aber passiert immer weniger. Ganz offensichtlich fühlen sich die einzelnen Politiker weniger dem Land als Ganzes, als ihren Wählern (bzw. ihren Interessen) verpflichtet. Offensichtlich lohnen sich Kompromisse politisch nicht mehr. Ein Indiz dafür ist der Absturz von Mitteparteien wie der CVP: Jene Parteien, die den Kompromiss quasi verkörpern, erodieren derzeit am meisten.
Schreihälse erhalten mehr Aufmerksamkeit
Der Grund ist einfach: Schreihälse kommen in den Medien besser weg als vernünftige Politiker, die mit Bedacht den Kompromiss suchen. Wer stur auf Extremargumente pocht und dabei auch mal eine Anstandsgrenze überschreitet, hat mehr Chancen, in den Medien Beachtung zu finden. Bestes Beispiel in der Schweiz ist Alt-Bundesrat Christoph Blocher: Obwohl er kein Amt mehr bekleidet, ist er nach wie vor einer der am meisten eingeladenen Politiker im Schweizer Fernsehen. Seit September 2017 war er satte sechs Mal zu Gast in der Diskussionsendung «Arena».[1] Roger Schawinski hatte Blocher bereits sieben (!) Mal zu Gast, allein 2018 war der Alt-Politiker zwei Mal zum Einzelgespräch geladen.[2] Warum? Weil der alte Polteri mehr Quote bringt, als ein besonnener Mitte-Politiker, der sich für eine Lösung interessiert. Kein Wunder, wird es auch im Parlament schwieriger, solche Politiker zu finden.
Das Resultat ist eine politische Blockade. Und wenn sich das Parlament zusammenrauft und einen Kompromiss zusammenzimmert, scheren Linke und Rechte gleichzeitig aus und bodigen den Kompromiss mit einer unheiligen Allianz. So droht es derzeit dem AHV-Steuer-Kompromiss zu gehen und daran dürfte die nächste Vorlage für ein neues Militärflugzeug scheitern. Dem Land bringt dieses Verhalten nichts. Das Problem ist, dass es sich für die einzelnen Politiker aber umso mehr lohnt.
Auch in der Schweiz werden die Flügel stärker
Medien, die interessiert sind an Einschaltquoten und Klicks, interessieren sich für harte Positionen und klare Rollen. Medien brauchen kantige Figuren wie den erzkonservativen, britischen Abgeordneten Jacob Rees-Mogg, den leicht verrückten Ex-Aussenminister Boris Johnson oder Jeremy Corbin, Salon-Sozialist und Anführer der Opposition. In der Schweiz belegen laut Parlamentarierrating der «NZZ» Toni Brunner und Luzi Stamm (beide SVP) auf der rechten Seite sowie Carlo Sommaruga, Margret Kiener Nellen, Silva Semadeni, Marina Carobbio Guscetti, Susanne Leutenegger Oberholzer und Silvia Schenker (alle SP) die Extrempositionen rechts und links.[3]
Das Parlamentarierrating zeigt auch, dass die Flügel stärker werden: Die SVP wird immer rechter, die SP wird immer linker, schreibt die «NZZ».[4] Das mag gut sein für das Profil der beiden Pol-Parteien – für die Schweiz ist das eine schlechte Nachricht. Es wird damit nämlich immer unwahrscheinlicher, dass sich die beiden Flügel gleichzeitig in einen Kompromiss einbinden lassen. Die Schweiz aber basiert auf solchen Kompromissen, bei denen Linke und Rechte beide einen Schritt aufeinander zugehen und sich in den Dienst der Sache stellen. Stattdessen werden Politiker medial belohnt, die keinen Jota von ihren Positionen abweichen und quotengerecht auf den Tisch hauen.
Politik der Extreme für die Galerie
Ähnliche Tendenzen sind in allen europäischen Ländern zu beobachten. Die Folge ist immer häufiger eine Politik der Extreme. In Dänemark überbieten sich die Parteien derzeit darin, Massnahmen für die Bekämpfung von Ausländern zu fordern. So will Dänemark künftig Ausländer-Ghettos bekämpfen, indem in Ghettos für gleiche Straftaten doppelt so hohe Strafen verhängt werden.[5] Und das ist nur eine der Massnahmen, welche die Regierung der Konservativen Volkspartei vorschlägt. Und was machen die oppositionellen dänischen Sozialdemokraten? Die unterstützen den Plan und stellen sogar noch härtere Forderungen gegen Ausländer. Medial lohnt sich das.
In Italien drischt Innenminister Matteo Salvini auf die EU ein, obwohl er genau weiss, dass Italien von der EU abhängig ist und der EU die Verantwortung für die italienische Misswirtschaft nun beim besten Willen nicht in die Schuhe geschoben werden kann. Salvini will Flüchtlinge daran hindern, italienischen Boden zu betreten, auch wenn er dafür ins Gefängnis muss. Ein eigenes Social-Media-Team sorgt dafür, Salvini angemessen zu inszenieren.[6] Resultat: Salvini ist in allen Medien. Vernunft lohnt sich derzeit in Italien überhaupt nicht.
Vernunft lohnt sich nicht mehr
Man könnte etwas zugespitzt sagen: 2018 ist das Jahr, in dem uns die politische Mitte abhanden kam. Ein wichtiger Grund dafür sind die Medien: Bekanntlich berichten Medien über jeden Flugzeugabsturz, der sich irgendwo auf der Welt ereignet – aber nie über ein Flugzeug, das sicher landet. Mit dem Aussergewöhnlichen holt man Aufmerksamkeit, das Gewöhnliche bringt weder Klicks noch Quote. Das führt dazu, dass in der politischen Berichterstattung Schreihälse mit Extrempositionen deutlich übervertreten sind, während die vernünftigen Kompromisspositionen kaum Erwähnung finden.
Ein Grund, warum die Medien stark auf das Extreme setzen, ist das ökonomische Modell, dem sie folgen: Die meisten Medien setzen auf möglichst grosse Reichweite, weil sie sich (zumindest zu einem grossen Teil) mit Werbung finanzieren. Das hat zur Folge, dass die meisten Medien heute im Wesentlichen wie eine Boulevardzeitung funktionieren: Sie sind immer auf der Suche nach dem Kick, der überraschenden Story, welche die Leserinnen und Leser dazu bringt, den Artikel anzuklicken, zu sharen und darüber zu diskutieren.[7] Es gibt nur ganz wenige Ausnahmen, die anders funktionieren. In der Schweiz sind es im Wesentlichen die «Republik», die «Zeit» und die «WoZ» sowie die Informationsangebote der SRG, allen voran das «Echo der Zeit».
Was Sie selbst tun können
Und jetzt? Wie bringen wir unsere Politiker (und unsere Medien) wieder zur Vernunft? Eine schwierige Frage. Ich sehe drei kleine Beiträge, die jeder von uns leisten kann.
1) Wehren Sie sich.
Lassen Sie Beleidigungen nicht auf sich sitzen, wehren Sie sich gegen Extrempositionen. Das beginnt schon im kleinen Kreis. Gegen extreme Aussagen in der Politik können Sie sich allenfalls mit einem Leserbrief oder mit einer direkten Zuschrift wehren.
2) Meiden Sie Boulevardmedien
Es mag ein klitzekleiner Tropfen auf den ahc so heissen Stein sein – trotzdem: Lassen Sie sich von den grossen Schlagzeile nicht verführen.
3) Nächstes Jahr sind Wahlen
Nächstes Jahr, am 20.Oktober 2019, werden wir alle (wenigstens die Stimmberechtigten unter uns) entscheiden können, welche Politiker wir (wieder) nach Bern schicken werden. Wir können auf diese Weise ganz direkt konstruktive Politik belohnen.
Davon abgesehen: Ich glaube nicht, dass sich der eingeschlagene Weg der Lautstärke langfristig lohnen wird – weder für die Medien, noch für die Politik.
Basel, 14. Dezember 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen:
[1] Blocher in der Arena:
22.09.2017: https://www.srf.ch/sendungen/arena/blocher-gegen-alle
24.11.2017: https://www.srf.ch/sendungen/arena/schweiz-und-eu-25-jahre-nach-dem-ewr-nein
09.03.2018: https://www.srf.ch/sendungen/arena/blocher-auf-zum-letzten-gefecht
28.09-2018: https://www.srf.ch/sendungen/arena/doppelruecktritt-bremse-fuers-eu-dossier
30.11.2018: https://www.srf.ch/sendungen/arena/der-eu-showdown-teil-1
07.12.2018: https://www.srf.ch/sendungen/arena/der-eu-showdown-teil-2
[2] Blocher 2018 bei Schawinski:
26.11.2018: https://www.srf.ch/sendungen/schawinski/roger-schawinski-im-gespraech-mit-christoph-blocher-7
16.04.2018: https://www.srf.ch/sendungen/schawinski/roger-schawinski-im-gespraech-mit-christoph-blocher-6
Wie Sie an den URL sehen, werden die Auftritte von Blocher bei Schawinski durchgezählt…
[3] Quelle: Parlamentarierrating der «NZZ» vom 10.12.2018, https://www.nzz.ch/schweiz/parlamentarier-rating-2018-die-positionierungen-im-nationalrat-ld.1442131
[4] Vgl. https://www.nzz.ch/schweiz/parlamentarierrating/nationalrat-die-politische-ausrichtung-von-1996-bis-heute-ld.131149
[5] Vgl. https://www.bento.de/politik/daenemark-das-steckt-hinter-dem-ghetto-plan-der-regierung-a-00000000-0003-0001-0000-000002157793
[6] Vgl. https://www.zeit.de/2018/48/matteo-salvini-stellvertretender-ministerpraesident-italien-hetze-faschismus-vorwuerfe/komplettansicht
[7] Ich habe darüber vor einem Jahr ein Buch geschrieben: «Die Aufmerksamkeitsfalle»
6 Kommentare zu "Wie uns die Mitte abhanden kam"
Der Autor dieses Wochenkommentars hatte sich selbst (hat sich selbst) mal als links-liberal bezeichnet. Ist doch voll ok.
Am Schluss seines Kommentares will er uns seriöse, leise und „mittige“ Medienerzeugnisse empfehlen, welche wir konsumieren sollen.
Es fällt mir aber auf, dass er uns vor allem links-liberale bis ultralinke Medien ans Herz legt und wie auch bei dieser Aufzählung „die Mitte abhanden kam“:
– Die WoZ-Zeitung (CH) sieht alles aus linker Sicht (was auch ihr Geschäftsmodell ist und allen bekannt ist).
– Die „Republik“ (CH, ZH) ist ein weiters reines (sehr links angehauchtes) Onlinlesemedium.
– „Die Zeit“ (D) ist eine deutsche Zeitung mit ein paar angehängten Schweiz-Seiten in den Ausgaben, welche für den Schweizer Markt bestimmt sind. Und was liest man in Wikipedia zum Profil der „Zeit“:
Die politische Haltung der Zeitung gilt als liberal beziehungsweise linksliberal.
– Und zur SRG (also Radio-, TV-SRF usw)…. Was las man letzthin im Tagesanzeiger / Sonntagszeitung / NZZ… kurz überall, über diese Anstalt: Fast drei Viertel aller SRG-Journalisten sind links! Wissenschaftlich detaillierte Zahlen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) der wissenschaftlichen Arbeit von Journalismusforscher Vinzenz Wyss und Filip Dingerkus ergaben dies klar.
Kurz: Alles linke Medien, welche uns hier wärmstens als „Seriös“ empfohlen werden.
Einfach gegen die Einseitigkeit und der Ausgewogenheit halber (…wie schwer ist doch „Mitte“ und „Mittigkeit“! Wie hier sehr auffallend auch zum Schreiben, seine Ideologie einfach mal hintenanzustellen…) seien auch rechtsbürgerliche Medien erwähnt, welche teilweise sehr seriöse, hintergründige und formidabel ausgeglichene Beiträge beinhalten: Z.B. die „Weltwoche“ soll fürs Papierlesen stehen; „Primenews.ch“ aus Basel des smarten Vollblutjournalisten Christan Keller fürs Onlinlesen. Einfach mal reinklicken bzw. reinblättern.
Soviel zum medialen Kosmos. Im politischen Biotop hat die „Mitte“ das Verfalldatum längst überschritten und wurde zum Abwahlprodukt. Denn wenn die SVP immer rechter wird, die SP wird immer linker wird (laut NZZ), ist das positiv ausgedrückt eine klare Profilierung. Man weiss, was man wählt. Man weiss, was man hat. Ohne Verwässerung. In einer orientierungslos gewordenen Welt wichtig. Deshalb wird die CVP – „die selbsternannte (heilige) schweizerische mittige Mitte“ bei den nächsten Wahlen auch unter die 10% rutschen. Weshalb? Nehmen wir CVP-NR Schneider-Schneiter aus BL: Ich bin für die Bauern (bin Bauerstochter etc.) – Stimmte aber gegen alle CH-Landwirte und für das Cassis-de-Dijon-Prinzip, welches Auslandagrarprodukte CH-Türen weiter öffnet. / Bin für Familien – Stimmte aber gegen die fälschlicherweise eingezogene Billag-MWST-Rückerstattung, welche den Familien (und uns allen) abgezwackt wurde.
Bin für ÖV – Votierte aber klar gegen „das Läufelfingerli“. Bin für Lohnschutz und rote Linien – aber die Gewerkschaften sollen sich doch bitte dort „sehr flexibel“ zeigen. Bin für Öko – aber wir brauchen breitere Strassen (Handelskammer-Präsi-Aussage von ihr) und am besten Privatisierung der Autobahnen….
Und und und….
Das ist politische Mitte live aus dem Bundeshaus. Wenn davon die Wähler genug haben, kann man es ihnen nicht verübeln.
Die Zeit der Wendehälse ist verflossen.
Lieber Herr Zweidler, das Märchen von der Linken SRG wird nicht wahrer, wenn Sie es wiederholen. Um die «Zeit» als links zu empfinden, muss man schon deutlich rechts der Mitte stehen. Aber das ist nicht der springende Punkt. Den haben Sie nämlich verpasst: Der springende Punkt ist, dass Medien, die auf Quoten, Provokation und Sensationen setzen, die Extreme fördern. Genau das macht Ihre vielgelobte «Weltwoche». Und noch ein Hinweis in Sachen Medien: Medien haben die Aufgabe, den Herrschenden (in Wirtschaft und Politik) auf die Finger zu schauen. Nun leben wir in der Schweiz in einer bürgerlichen Gesellschaft, im nationalen Parlament sind die Bürgerlichen auch in einer deutlichen Mehrheit und sie waren es schon immer. Da ist es logisch, dass die kritische Beschäftigung mit deren Politik als links empfunden wird.
Noch was zum Thema klares Profil und da weiss man, wen man wählt: Das stimmt in Deutschland, wo es eine Regierungskoalition und eine Opposition gibt. In der Schweiz war es schon immer so, dass die Parteien sich zu einem Kompromiss zusammenraufen mussten, weil wir in der Schweiz eine Konkordanzregierung haben. In unserem politischen System auf der eigenen Position zu beharren, ist fast schon Landesverrat, weil man auf diese Weise nur im Interesse der eigenen Partei und nie im Interesse des Landes politisieren wird, das eine Lösung braucht. Die Medialisierung der Politik drängt die Schweiz in ein Regierungs-Oppositions-System, das bringt in der Schweiz aber gar nichts, weil bekanntlich das Volk über Sachabstimmungen und Referenden im Zweifelsfall das letzte Wort hat.
Die mediengeile Politik à la Champions-League, wo es bis zum Penaltyschiessen (= Volksabstimmung) immer wieder nur Gewinner oder Verlierer und keine breite und starke Mitte gibt, ist der Motor des Parteiendemokratie-Karussells, das sich immer noch aufwendiger und rasender im Stillstand dreht. Mit dem «Entweder-Oder-Prinzip» (entweder bestimmen wir oder es bestimmen die andern; entweder die Linken oder die Rechten; entweder die EU oder die Schweiz; entweder die Wirtschaft oder die Umwelt; ….. und so weiter) geht es in der Regel vor allem und gierig um Macht und weniger um die Sache. Sie bleibt auf der Strecke. Die Mehrheit kann bestimmen, was recht ist. Und das auch dann, wenn es nicht das Richtige ist. Das Resultat solcher machtbasierter Entweder-Oder-Politik ist in der Regel höchstens ein hochkomplizierter aber substanzarmer Kompromiss, bei dem schon morgen die Luft draussen ist. Die parlamentarische Parteiendemokratie steht somit sozusagen in einem Lösungsstau. Sie erweist sich als schwach und ist de facto ein Auslaufmodell: auch wenn der Bruch noch nicht offiziell anerkannt und vollzogen ist. Für eine starke Demokratie braucht es das «Dialogische Prinzip». Hier lautet die Frage: Welche Herausforderungen stellen sich uns allen – und wie können wir sie gemeinsam, in welchem Rahmen und auf welche Art für alle am chancenreichsten meistern? Nachhaltig zukunftsfähige Entscheidungen kommen in der Politik dann zustande, wenn unterwegs alle Ideen und Interessen sowie auch alle Hindernisse und Widerstände bestmöglich berücksichtigt sind und bleiben. – Eine weitere sehr relevante Systemgrenze ist im Zusammenhang mit weltübergreifend existenziellen Themen wie beispielsweise der Digitalisierung, der Klimazerstörung, der Migration und der globalisierten Raubtier-Kapitalismus-Wirtschaft erreicht: Die damit verbundenen Herausforderungen lassen sich in keinem nationalstaatlich begrenzten Rahmen und schon gar nicht mit Initiativen oder Referenden meistern.
Das Verrückte ist, dass das System, wie Sie es beschreiben, in totalem Widerspruch zur Schweizer Tradition steht. Die Schweiz ist der Staat gewordene Kompromiss. Schon 1842 haben nicht die Sieger des Sonderbundskriegs den Verlierern ihre Bedingungen diktiert, sondern beide Seiten haben sich zusammengerauft und gemeinsam überlegt, mit welchen Prinzipien sie zu einem nationalen Ausgleich kommen können. Das politisch Extreme läuft der Schweiz und ihrem System mit Referendum und Sachabstimmung völlig zuwider, deshalb haben wir heute in vielen Dossiers auch einen Stillstand. Noch geht es dabei der Bevölkerung in der Schweiz relativ gut, aber der Druck wächst, weil der Mittelstand, wie in Frankreich, feststellt, dass am Ende des Geldes immer mehr Monat übrig ist und gleichzeitig die Reichen immer reicher werden. Ich bin gespannt, wann dieser Druck aus der Bevölkerung auch in der Schweiz steigt, zum Beispiel bei der Frage, wie wir unser Gesundheitssystem künftig finanzieren werden.
Die Mehrheit der politischen Schweiz (nebenbei bemerkt: es sind ja nur etwa 35 Prozent der Bevölkerung, die sich daran beteiligen können oder wollen) scheint sich immer noch im Konkordanz-System zu wähnen, das ja eigentlich wunderbar dem «Dialogischen Prinzip» entspricht. De facto spielt aber die Musik wie die Champions-League ohne Mittelweg nach dem «Entweder-Oder-Prinzip». Und zudem herrscht kollektiv unbewusst organisiert das System einer Verantwortungs- und Wertelosigkeit, wo alle tun oder lassen können, was und wie sie es wollen: solange es nur Profit bringt und Spass macht. Und läuft es schief, ist jede*r sich selbst der*die Nächste. Solange die Mehrheit leben kann wie die Affen im Schlaraffenland, mag zwar die Lage objektiv betrachtet kritisch erscheinen, aber für eine Veränderung besteht kein dringender Anlass. Speziell scheusslich finde ich als überzeugter Demokrat und als Mensch, der an die Wirkung der Aufklärung und der Bildung glaubt, wie es in der Schweiz Superreichen gelingt, ihr sogenanntes Volk zu blenden und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.
Besser könnte man’s nicht sagen!