Wie Terror unser Denken besetzt und was wir dagegen tun können

Publiziert am 10. September 2021 von Matthias Zehnder

Vor 20 Jahren haben Terroristen zwei Flugzeuge ins World Trade Center in New York gesteuert und die Türme damit zum Einsturz gebracht. Die Bilder der Anschläge von «9/11»haben sich in unserem kollektiven Gedächtnis eingebrannt und unsere Medien sorgen dafür, dass das auch so bleibt. Damit erreichen die Terroristen genau das, was sie erzielen wollen: Terroristen wollen nicht unser Land, sie wollen unser Denken besetzen. In den Medien haben sie willige Komplizen gefunden. Was können wir dagegen tun? Die Augen schliessen? Nicht mehr darüber berichten? Gibt es andere Wege? 

Ich erinnere mich gut an den 11. September 2001. Ich hatte kurz vorher eine neue Firma gegründet und sass allein in einem riesigen Büro in einer ehemaligen Fabrikhalle mit blauem Boden. Etwa um 15 Uhr am Nachmittag poppten im Internet Breaking News-Meldungen darüber auf, dass um 08.46 Uhr Ortszeit ein Flugzeug in einen der Zwillingstürme des World Trade Centers in New York gestürzt war. Ich hatte in meinem Büro einen (für damalige Verhältnisse) schnellen Internetanschluss und mehrere Computer, aber keinen Fernseher und kein Radio. Das Internet war rasch komplett überlastet. Die Websites von «New York Times», CNN und anderen Newsorganisationen waren kaum mehr erreichbar. Irgendwie habe ich es wohl doch geschafft, Nachrichten abzurufen. Ich erinnere mich jedenfalls an die Bilder, die zeigten, wie das zweite Flugzeug in den anderen Turm stürzte. Ich bin mir nicht sicher, wann ich die Bilder zum ersten Mal gesehen habe. Sie wurden danach aber in Endlosschleife so oft auf allen Sendern wiederholt, dass sie sich nicht nur in meinem Gedächtnis eingebrannt haben.

Und genau das war wohl das Ziel der Terroristen. Denn die wahre Gefahr geht im Terrorismus nicht vom Sprengstoff aus, sondern von dem, was der Sprengstoff in unseren Köpfen anrichtet. So schrecklich die Anschläge auf das World Trade Center waren, sie waren nur die Auslöser für die eigentlichen Anschläge auf unsere Köpfe – und unsere Herzen. Das ist es, was Terrorismus von einem simplen Verbrechen unterscheidet. Den Terroristen in den Flugzeugen war das World Trade Center und die Menschen darin völlig egal. Sie haben das World Trade Center, das Pentagon und, vermutlich, das Weisse Haus als Ziele gewählt, weil diese Ziele maximale Kommunikationswirkung versprachen. 8’46 Uhr Ortszeit schlug das erste Flugzeug im Nordturm des World Trade Centers ein. Natürlich brachten danach Fernsehjournalisten ihre Kameras in Stellung und filmten den Rauch, der aus dem Gebäude drang – mit dem Effekt, dass der Einschlag des zweiten Flugzeugs um 9’03 Uhr live im Fernsehen zu sehen war. Eine grössere Wirkung kann ein Terroranschlag kaum haben.  

Das Denken besetzen

Terroristen wollen kein Land erobern, keine Stadt besetzen, keine militärischen Ziele vernichten. Terroristen wollen, wie es der deutsche Terrorismusexperte Franz Wördemanns formulierte, «das Denken besetzen» und auf diese Weise Veränderungen bewirken – Veränderungen, die sich nicht auf der Landkarte zeigen, sondern im Denken, im Verhalten und in der Wahrnehmung der Menschen. Terroristen, von der RAF in den 70er-Jahren bis zu den heutigen Islamisten, wollen schockieren und einschüchtern. Terrorismus sucht deshalb immer die Öffentlichkeit. Terrorismusforscher Philip Weissermel bezeichnet Terrorismus deshalb als «Kommunikationsstrategie». Für die Angehörigen der Opfer von Anschlägen klingt das zynisch: Die Menschen, die in den New Yorker Türmen gestorben sind, waren lediglich Kollateralschäden auf dem Weg der Terroristen in die Nachrichtensender. Das war schon bei den RAF-Terroristen so: Sie nutzten den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977 lediglich als Fotosujet, um ihre Botschaft in die Medien zu transportieren.

Die kommunikative Wirkung von Terroranschlägen hat nicht nur Folgen in unseren Köpfen. Sie beeinflusst auch unser Verhalten und insbesondere unsere Risikoeinschätzung. So zeigen Studien, dass die Menschen in den USA nach 2001 aus Angst vor weiteren Flugzeugentführungen verstärkt vom Flugzeug aufs Auto umgestiegen sind. Die Folge: In den zwölf Monaten nach dem 11. September 2001 kam es zu schätzungsweise 1600 mehr unfallbedingten Todesfällen auf amerikanischen Strassen, als es statistisch zu erwarten gewesen wäre. Denn objektiv gesehen ist Autofahren gefährlicher als das Reisen per Flugzeug – die Terrorgefahr ist viel kleiner, als die riesige kommunikative Wirkung der Anschläge uns glauben lässt.

Die Anschläge auf das World Trade Center 2001 waren für das Live-Fernsehen konzipiert – seither haben die Terroristen ihre Strategie verfeinert und an die neue Medienwelt angepasst. Philip Weissermel spricht von einer «Symbiose von Terrorismus und Massenmedien»: Terroristen beliefern die Medien mit schockierenden Bildern und Nachrichten, die den Medien dabei helfen, jene Aufmerksamkeit zu bewirtschaften, von der sie leben. Medien haben sich unwillkürlich zu Komplizen des globalen Terrorismus entwickelt, indem sie die Schreckensbilder in Endlosschlaufe transportieren und so dafür sorgen, dass die Terroristen mit (zynisch formuliert) minimalem Aufwand einen maximalen Kommunikationseffekt erzielen und global das Denken der Menschen besetzen können.

Soziale Medien als kommunikative Verstärker des Terrorismus

Natürlich wehren sich Medienschaffende gegen die Vorstellung einer Komplizenschaft zwischen Terrorismus und Massenmedien. Es ist keine Option, nicht zu berichten über Ereignisse wie die Anschläge vom 11. September 2001 oder den Anschlag auf das Konzert im Pariser «Bataclan» von 2015. Die Frage ist, wie die Medien darüber berichten und welche Ziele sie dabei verfolgen. Geht es darum, mit einer emotionsgeladenen, sensationalisierten Berichterstattung möglichst viel Aufmerksamkeit zu holen oder steht die nüchterne, sachliche Information im Zentrum mit dem Ziel, den Überblick zu verschaffen und einzuordnen?

Erschwert wird die Situation dadurch, dass Terroristen sich heute nicht mehr nur an die professionellen Medien richten, sondern an alle Menschen, die in den sozialen Medien aktiv sind. Jeder, der twittert oder auf Facebook und Instagram aktiv ist, wird zum potenziellen Verstärker und Verbreiter der terroristischen Botschaft. Die sozialen Medien sind längst zu zentralen Schaltstellen von Propaganda und Aktivismus geworden – die Hashtag-Kampagnen der letzten Jahre zeigen, wie stark die sozialen Medien wirken können. Eine #MeToo-Bewegung mag befreiend und positiv wahrgenommen worden sein – destruktive Kampagnen haben dank der Verbreitung über die sozialen Medien grundsätzlich dasselbe Wirkpotenzial. 

Wie wir die Komplizenschaft verweigern können

Was also tun? Ich glaube, es sind drei Punkte, auf die wir alle, nicht nur die Medien, achten sollten im Umgang mit Terrorismus. Der erste Punkt betrifft die Bilder: Sie sind das wirkmächtigste Element von Terror als Kommunikationsstrategie. Das Flugzeug, das in den World Trade Center-Turm crasht, die zusammenbrechenden Türme, die mit Trümmern übersäten Strassen von New York, das sind die Bilder, welche die Terroristen verbreiten wollten. Es sind die Bilder des Schreckens, die Angst machen. Also sollten wir uns diesen Bildern verweigern und dafür die Bilder verbreiten, die Hoffnung machen. Bilder von mutigen Rettungskräften und Feuerwehrleuten, Opfer, die gepflegt werden, Bilder, welche die Solidarität und Hilfsbereitschaft der Menschen ins Zentrum stellen. Nicht nur Journalist:innen, auch allen Nutzer:innen von Twitter, Facebook und Co. muss klar werden: Wer emotionalisierte Terrorbilder weiterverbreitet, macht sich zum Komplizen der Terroristen.

Der zweite Punkt betrifft die Art der Berichterstattung: weniger hilflos stammelnde Live-Berichterstattung, mehr sachliche Einordnung und Analyse. Die Wirkmacht der Anschläge von 9/11 war so gross, weil sie so unfassbar waren. Wenn wir früh das Seziermesser der Rationalität ansetzen, lässt sich dieser Unfassbarkeit die Wirkung entziehen. Bei Lichte besehen haben eine Handvoll Verbrecher einige Flugzeuge entführt. Das ist ein schlimmes Verbrechen und sollte nicht derart überhöht werden.

 Der dritte Punkt: Warum schafft es eigentlich der Terrorist mit seiner Schandtat auf jede Titelseite, nicht aber die Ärztin, der Musiker oder die Nonne mit einer guten Tat? Klar: Ein Anschlag auf das World Trade Center ist im Wortsinn weltbewegend. Aber er hat nur eine so gigantische Wirkung, weil wir sie ihm zugestehen. Wir haben uns als Gesellschaft dafür entschieden, dass uns schlechte Nachrichten, dass uns Übeltaten wichtiger sind als gute Nachriten, als die gute Tat. Warum eigentlich? Es würde uns allen vermutlich besser gehen, wenn wir guten Nachrichten mehr Platz einräumen würden. Vielleicht wäre es möglich, die Strategie der Terroristen, die unser «Denken besetzen» wollen, umzudrehen, und das Denken der Menschen mit Gutem und Schönem zu besetzen. Damit wir alle mehr zu lächeln haben. Ist das naiv? Wahrscheinlich. Aber ich glaube, es wäre trotzdem ein Versuch wert. Was meinen Sie?

Basel, 10. September 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jede Woche ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar und einen Buchtipp. Einfach hier klicken. Und wenn Sie den Wochenkommentar unterstützen möchten, finden Sie hier ein Formular, über das Sie spenden können. 

PPS: Wenn Sie den Wochenkommentar nur hören möchten, gibt es jetzt hier eine Audioversion (noch im Experimentalstadium). Hier der Link auf die Apple-Podcast Seite oder direkt auf die Episode:


Quellen

Bild: © KEYSTONE

Bockstette, Carsten (2006): Strategisches Informations- und Kommunikationsmanagement. Bonn: Bernard & Graefe.

Elter, Andreas (2007): Die Definition Von Terrorismus. In: Geschichte der RAF. bpb. [https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/geschichte-der-raf/49218/definition-von-terrorismus?p=all; 10.9.2021].

Gaissmaier, Wolfgang und Gigerenzer, Gerd (2012): 9/11, Act II: A Fine-Grained Analysis of Regional Variations in Traffic Fatalities in the Aftermath of the Terrorist Attacks. In: Psychological Science 23/12. S. 1449–1454. doi:10.1177/0956797612447804. [10.1177/0956797612447804; 10.9.2021].

Klonk, Charlotte (2017): Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.

Uecker, Stefan (2021): 9/11 – 20 Jahre Krieg gegen den Terror. Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Weissermel, Philip (2017): Terrorismus als Kommunikationsstrategie. Baden-Baden: Nomos.

Wördemann, Franz und Löser, Hans-Joachim (1977): Terrorismus: Motive, Täter, Strategien. München: Piper.

9 Kommentare zu "Wie Terror unser Denken besetzt und was wir dagegen tun können"

  1. Den grössten Terror inszenieren gegenwärtig die Behörden mit dem katastrophalen Krisenmanagement bei Covid, Klimawandel und Energiekonzept. Das tägliche Einhämmern von unbelegten Narrativen mit einer Gesinnungsdiktatur mit Hilfe der zu 80 % unglaubwürdigen Medien aller Gattungen ist eine unwiderrufliche Tatsache, welche das normale Denken völlig der BürgerInnen zersetzt.

    1. Wissenschaftlich und evidenzbasiert klar unbelegt d.h. nicht gesichert. Deshalb die willkürlichen Massnahmen, die völlig einseitig und inkonsequent vollzogen werden und dadurch die Gesellschaft mit höchster Unverantwortlichkeit der führenden Politiker unterstützt durch einseitig ausgewählte Experten völlig spalten.

  2. 60-20-20: Etwa 60 Prozent der Bevölkerung, der Medien, der Politiker*innen, der Wirtschaft und der Wissenschaft verhalten sich so, wie wenn es ihnen wurscht wäre, was aus unserer Welt wird. Etwa 20 Prozent versuchen aktiv Veränderungen in Gang zu bringen, die aus ihrer Sicht einen günstigen Einfluss auf die Entwicklung haben. Und etwa 20 Prozent tun alles, um solche Veränderung zu verhindern.

    1. … und hier noch eine Long-Version:
      Global gibt es viele mehr oder weniger tief greifende Veränderungen. Auch lokal stehen wir zum Teil mitten drin. Die Mehrheit der Bevölkerung sowie politisch und wirtschaftlich Verantwortliche lassen es – mit etwas Kosmetik da, und mit etwas Symptombekämpfung dort – laufen, wie es kommt.
      Zusammen mit inzwischen Zehntausenden von andern auf unserer Erde wollen wir die unabdingbaren Veränderungen aktiv als Chance nutzen, und die damit verbundenen Herausforderungen so meistern, dass für alle Menschen ein gutes Leben in Frieden und Freiheit möglich ist.
      Wir wissen, dass gross Mächtige und schwer Reiche alles tun, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Dafür nehmen sie unter vielem anderem auch überall Kriege mit Millionen von Toten und Verletzten sowie mit vielen Flüchtlingen in Kauf. Wenn wir sie lassen, werden sie unsere Welt verprassen.
      Ich lasse mir kein X für ein U vormachen: für eine alle und alles umfassend gute Welt braucht es ganz andere Wege als sie die Mehrheit seit Hunderten von Jahren geht, und immer noch weiter gehen will. Die Erde wird so oder so – mit oder ohne Menschen – ihre Zukunft haben. Will auch die Menschheit selber eine Zukunft haben, müssen wir aufstehen und im Kleinen wie im Grossen mit Herz, Kopf, Hand und Fuss ganz andere Wege gehen.

  3. Schon vor den Anschlägen 9/11 war das Spannungsfeld Journalismus, Täter, Opfer, Sensation aktuell.
    Wer (gute) Geschichten aus diesem Problematik-Umfeld mag, sei die deutsche Filmserie „Ein Fall für zwei“ empfohlen. Insbesondere Folge
    https://www.youtube.com/watch?v=8Oivn26GTaw
    Hintergründig, Tiefgreifend wie alle ersten 60 Folgen von „Ein Fall für zwei“. (Danach setzte die allgemeine TV-Verblödung ein…)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.