Wie sollen wir bloss auf Erdogan reagieren?
Er hat es geschafft, wenn auch denkbar knapp: 51 Prozent der Türken haben für den Umbau des türkischen Staats gestimmt. Recep Tayyip Erdoğan wird faktisch Alleinherrscher über die Türkei. Erstaunlich viele Türken im Ausland haben für die Verfassungsreform gestimmt. Wie bloss sollen wir darauf reagieren? Sollen wir jetzt mit Türken nicht mehr reden? Oder erst recht? Protestieren? Tun als wäre nichts? Sanktionen fordern? Drei konkrete Hinweise, wie Sie auf die Ereignisse in der Türkei reagieren können.
Die NZZ sieht Erdoğan in den Fussstapfen der Sultane, der «Tages-Anzeiger» spricht von einer Lizenz für die Diktatur, die Erdoğan mit der gewonnenen Abstimmung vom Wochenende jetzt in der Hand habe und der «Spiegel» ruft das Ende der türkischen Republik aus: Der türkische Staatspräsident hat sich vom Volk eine Art Ermächtigungsgesetz absegnen lassen. Die Opposition hat begründete Zweifel an der Gültigkeit des Resultats und reklamiert Wahlfälschungen. Wobei es für Erdoğan eigentlich schon blamabel ist, dass er nur 51 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, obwohl er den ganzen Staatsapparat in Bewegung gesetzt hat und verhaften liess, wer ein Nein propagieren wollte.
Die Politiker dieser Welt haben sehr unterschiedlich auf das Ergebnis reagiert. Wir normalen Menschen schauen mehr oder weniger ratlos auf das, was da in der Türkei passiert. Wie sollen wir damit umgehen? Wie sollen Sie und ich auf die Abstimmung reagieren? Sollen wir keine türkischen Produkte mehr kaufen? Mit Türken nicht mehr reden? Protestieren? Resignieren? Ich glaube nicht. Drei konkrete Hinweise, wie Sie auf das Abstimmungsresultat in der Türkei reagieren können.
1. Lassen Sie die Türkei nicht hängen
Der grosse Fehler, den die EU und insbesondere Deutschland gemacht haben, war es, die Türkei am langen Arm verhungern zu lassen. Die wollten die Türken partout nicht ernst nehmen. Da schwang vieles mit. Die Geschichte des osmanischen Reiches, die Immigration von einfachen Arbeitern aus der Türkei, die islamische Tradition. Lassen Sie uns diesen Fehler als Privatpersonen nicht wiederholen. Lassen Sie die Türkei, lassen Sie insbesondere die Türken hier bei uns nicht hängen. Beschäftigen Sie sich im Gegenteil mit dem Land, seinen Bewohnern und den Türkinnen und Türken hier bei uns.
Allerdings ist das schneller gesagt als getan. Istanbul mag nur gerade drei Flugstunden entfernt sein – die Türkei ist uns trotzdem ein fremdes Land. Wir wissen alle beschämend wenig über die Türkei. Das Land ist etwa 19 mal grösser als die Schweiz, hat fast zehnmal so viele Einwohner und ist entsprechend vielfältig. Wobei: Was heisst fremd? Schliesslich trinken wir jeden Tag den Türkentrank, wie der Kaffee früher genannt wurde. Sie könnten dabei jeweils kurz an die Türkei denken.
Wie sollen wir uns über dieses Land informieren? Aktuelle Themen und Entwicklungen diskutiert Can Dündar in einer wöchentlichen Kolumne auf «Zeit Online». Can Dündar war bis 2016 Chefredakteur der Tageszeitung «Cumhuriyet». 2015 wurde er wegen Spionage angeklagt, weil seine Zeitung einen Bericht über Waffenlieferungen der Türkei an den IS in Syrien veröffentlicht hatte. Dündar lebt und arbeitet zurzeit in Deutschland. In seiner Kolumne beschäftigt er sich mit aktuellen Ereignissen und erklärt auf diese Weise seine Türkei den deutschen Lesern. Die Kolumne finden Sie hier: http://www.zeit.de/serie/meine-tuerkei
Die Rolle, welche die Türkei für uns spielt, spiegelt sich auch im Buchmakt: verfügbar sind vor allem Reiseführer. Als Einführungen in die moderne Geschichte der Türkei möchte ich Ihnen folgende Titel empfehlen:
Einen guten, kurzen Überblick über die Geschichte der modernen Türkei bietet Klaus Kreisers Buch aus der Beck’schen Reihe. Das Buch ist kurz, nüchtern geschrieben und lässt sich gut an einem Nachmittag lesen. Das Buch ist 2012 erschienen und enthält damit keine Informationen über die jüngsten Entwicklungen.
Kaus Kreiser: Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart. C.H. Beck – Wissen, 128 Seiten, ISBN 978-3-406-64065-0
Einiges ausführlicher und deutlich weniger nüchtern ist Gerhard Schweizers Buch Türkei verstehen. Schweizer setzt nicht mit historischen Fakten ein, sondern mit dem Türken in unseren Köpfen. Er diskutiert die Angst vor dem Islam und die Türkengefahr als historisches Trauma Europas. Das Buch ist 2016 erschienen und damit sehr aktuell.
Gerhard Schweizer: Türkei verstehen. Von Atatürk bis Erdogan. Klett-Cotta, 547 Seiten; ISBN 978-3-608-96201-7
2. Lesen Sie Türkische Literatur und Intellektuelle
Geschichtsbücher bieten einen rationalen Zugang zu einem Land und seiner Kultur. Sie können die Kultur selbst aber nicht ersetzen. Bei Lichte besehen ist es erschreckend, wie wenig wir über die Türkei, ihre Literatur und ihre Kultur wissen. Oder können Sie aus dem Stegreif drei türkische Künstler oder Schriftsteller aufzählen? Vielleicht kommt Ihnen Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk in den Sinn – aber die meisten Menschen realisieren nicht einmal, dass Pamuk Türke ist.
Ich gebe Ihnen auch hier drei Tipps. Ich möchte mit Aslı Erdoğan beginnen. Das ist eine Schriftstellerin (nicht verwandt mit dem Staatspräsidenten), die in der Schweiz bekannt geworden ist, weil sie Dezember 2011 bis Mai 2012 als writer in residence des Literaturhauses in Zürich weilte. Sie ist ursprünglich Physikerin und hat sich früh für die kurdische Minderheit eingesetzt. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurde sie mit 22 anderen Journalisten der Zeitung Özgür Gündem verhaftet und sass bis im Dezember im Gefängnis. Ihre Erlebnisse hat sie im Buch Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch verarbeitet. Spätestens mit diesem Buch ist sie zu einer der wichtigsten Stimmen der türkischen Opposition geworden. Es sind politische Essays, die in der Türkei derzeit nicht erscheinen können.
Aslı Erdoğan: Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Knaus Verlag, 192 Seiten, ISBN 978-3-8135-0780-5
Einen packenden Familienroman vor dem Hintergrund der jüngsten türkischen Geschichte hat Murat Isik geschrieben: Das Licht im Land meines Vaters beschreibt, wie der zehnjährige Miran in den 1960er Jahren im Dorf Sobyan aufwächst. Seine Familie gehört zum kurdischen Volk der Zaza. Die Uslus führen ein karges, aber gutes Leben – bis ein Lehrer aus der Hauptstadt ins Dorf kommt, der den Kindern auf Anordnung der Regierung Türkisch beibringt. Miran heisst nun Mehmet, und der Stolz seines Vaters verursacht ein Unglück, das alles für immer verändert.
Murat Isik: Das Licht im Land meines Vaters. Arche Verlag, 448 Seiten, ISBN 978-3-7160-2744-8
Und jetzt doch noch einen Hinweis auf ein Buch des grossen Orhan Pamuk. Ich empfehle Ihnen Diese Fremdheit in mir. Pamuk erzählt darin eine erstaunliche Liebesgeschichte: Mevlut ist Ende der 1960er Jahre Strassenverkäufer in Istanbul. Er verliebt sich in eine junge Frau in Anatolien. Drei Jahre lang schreibt er ihr Liebesbriefe. Doch dann schickt man ihm die ältere Schwester. Pflichtbewusst heiratet Mevlut Rayiha, und ausgerechnet ein Jugendfreund nimmt seine Angebetete zur Frau. Die beiden Familien leben drei Jahrzehnte in enger Verbundenheit, doch dann nimmt ihr Schicksal eine dramatische Wende.
Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir. Hanser, 592 Seiten, ISBN 978-3-446-25058-1
Das waren drei zugegebenermassen etwas willkürlich herausgegriffene Tipps. Weitere Namen der türkischen Literatur wären Elif Shafak und ihr Roman Der Geruch des Paradieses, der Romancier Yasar Kemal oder der Satiriker Aziz Nesin.
3. Und was ist jetzt mit Erdoğan?
Jetzt haben Sie sich über die Türkei informiert und türkische Literatur kennen gelernt. Aber was machen wir mit Recep Tayyip Erdoğan? Machen Sie sich über ihn lustig! Lachen statt Verehrung – das ist das schlimmste, was einem Alleinherrscher passieren kann. Und wenn es nicht so traurig wäre, wäre es wirklich lächerlich: Erdoğan sitzt in einem riesigen Palast, herrscht über ein riesiges Land und fühlt sich dabei so unsicher, dass er jeden, der etwas gegen ihn sagt, verhaften lässt. Lachen wir also über ihn. Kennen Sie zum Beispiel den? Erdoğan hat den Vollmond verhaften lassen – wegen Verunglimpfung der türkischen Flagge.
5 Kommentare zu "Wie sollen wir bloss auf Erdogan reagieren?"
Ihre Rezepte sind gut gemeint, aber sie werden nicht helfen. Leute, die nicht einmal die eigene Literatur lesen, werden auch keine türkische lesen, und Humor hat bisher noch keinen Diktator getötet.
Bezüglich Lesen gebe ich Ihnen recht. Aber mit meinen vielen Buchstaben richte ich mich ja auch nicht ans Publikum des Schweizer Farbfernsehens. Beim Lachen wäre ich nicht so sicher. Das Diktieren funktioniert nur, so lange der Diktierende ernst genommen wird. Lachen kann da durchaus tödlich sein.
Lese ich aus diesen Zeilen, das Zuschauer von SRF auf herablassende Art als dümmlich hingestellt werden?
Vorsicht mit solch eingenommenen Bemerkungen.
Keineswegs. Das ist einfach eine realistische Einschätzung der Chancen, dass sich jemand einem Text widmet. Deutschschweizer schauen pro Tag im Schnitt 131 Minuten Fernsehen und lesen etwa 20 Minuten. Ich bilde mir nicht ein, dass ich so wichtig bin, dass die Deutschschweizer ihre 20 Minuten auf meinen Text verwenden… Es gibt (eher wenig) Vielleser und es gibt (eher mehr) Vielseher. Ich spreche die Vielleser an.
Einer unser aller Erdogane ist der Flugverkehr. Er braucht unsere Ressourcen und macht damit sein Geschäft. Er schädigt unsere Gesundheit. Und es soll immer noch mehr werden. Unsere Politiker*innen können und wollen dagegen nichts tun. Der Flugverkehr ist ein Teil vom Wohlstand. Dafür sehen sie sich gewählt. Es herrscht die verantwortungsfreie Marktwirtschaft. Nur drei Prozent finden: Immer noch mehr geht nicht mehr. Der Rest ist Gier. Das ist kein Witz. Humor hat, wer trotzdem lacht. Galgenhumor?