Wie die SVP die Medien hackt. Schon wieder.

Publiziert am 6. August 2021 von Matthias Zehnder

Es ist das klassische Spiel mit Provokation und Empörung: Die SVP hämmert verbal drauflos und die Medien reagieren prompt – und wie gewünscht. So wieder geschehen am 1. August: Die SVP bewirtschaftet den Stand-Land-Graben und drischt auf die Städte ein. Die Medien greifen die Story sofort auf. Der «Blick» macht sogar eine Stadt-Land-Graben-Serie daraus. Das Problem dabei ist nicht die SVP – die ist halt so und das ist ihr gutes Recht. Das Problem ist, wie willfährig die Medien sich in den Dienst der Partei stellen und die Provokation eins zu eins weiterverbreiten. Kein Zweifel: Die SVP ist Zucker für die Medien.

In seiner Rede zum 1. August hat der Tessiner SVP-Präsident Marco Chiesa zum verbalen Zweihänder gegriffen. Er wetterte: «Die Luxus-Linken und Bevormunder-Grünen in den Städten wollen allen anderen im Land vorschreiben, wie sie zu denken und zu leben haben.» Und weiter: «Die Luxus-Linken und Bevormunder-Grünen leben abgehoben in ihren Blasen, ohne Bezug zur Realität der meisten Menschen in diesem Land.» Dagegen wolle die SVP vorgehen: «Wir sagen diesen links-grünen Wohlstandsverwahrlosten den Kampf an! Den Städten, die eine für unser Land schädliche Politik betreiben, muss das Geld entzogen werden.» Die Politik der linken Städte sei «Schmarotzer-Politik». Die linken Städte seien «Weltmeister darin, das Geld auszugeben, das andere verdient haben. Sie setzen sich für Sozialschmarotzer ein und hofieren die Schweiz-Schmarotzer, die massenhaft in unser Land strömen.»

Eine vernünftige Reaktion darauf wäre Schulterzucken oder allenfalls ein bitteres Lachen, weil die Vorwürfe sachlich schlicht Humbug sind. Wir können uns das ganz kurz fünf Punkte anschauen:

Das Geld: Städte sind in der Schweiz alles andere als Schmarotzer. Im Gegenteil: Über den Finanzausgleich wird viel Geld von den Städten aufs Land gepumpt – ganz zu schweigen von den Milliarden-Subventionen, die in die Landwirtschaft fliessen.

Die Politik: Städte sind in der Schweiz gar nicht in der Lage, dem Land ihren Willen aufzuzwingen, weil das Ständemehr ländlichen Regionen sehr viel Macht gibt. Es ist eher umgekehrt: Die Stimme von Menschen, die in ländlichen Kantonen wohnen, haben in Abstimmungen viel mehr Gewicht als die Stimme von Menschen, die in den grossen Städten wohnen.

Die Geschichte: Die SVP malt das Bild einer ländlichen Schweiz und beruft sich dabei auf die Geschichte. Das ist falsch: Historisch ist die Schweiz aus einem Städtebund entstanden. Die Schweiz täte gut daran, ihr Selbstbild diesbezüglich zu korrigieren.

Die Realität: Der Vorwurf, dass die Linken und die Grünen «abgehoben in ihren Blasen» leben, «ohne Bezug zur Realität der meisten Menschen in diesem Land» ist lustig bis absurd – die Mehrheit der Menschen in diesem Land lebt in Städten und Agglomerationen und ihre Realität ist nun mal die Stadt.

Das Wissen: Die Schweiz war und ist eine Wissensnation – bekanntlich haben wir keine Rohstoffe und sind auf unsere Innovationskraft angewiesen. Die Zentren der Innovation sind Hochschulen wie ETH und EPFL und die Universitäten – und damit Städte wie Zürich, Basel, Lausanne oder Genf.

Die Reaktion der Medien

So viel zur Sache, der Rede von Chiesa. Was haben die Schweizer Medien daraus gemacht? Das Reaktionsmuster ist überall ähnlich: Vorne, also auf der Titelseite oder im Politikteil, die grosse Schlagzeile zur SVP, die These von den schmarotzenden Städten wird brühwarm weitergetragen, allenfalls mit leicht empörtem Unterton. Hinten, versargt auf der Meinungsseite, findet sich dann das rationale Kopfschütteln in Form eines Kommentars.

So etwa bei den Tamedia-Zeitungen: Auf den Titelseiten der Tamedia-Blätter, prangt der Titel: «Die SVP will aufzeigen, was die Stadt das Land kostet». Beni Gafner und Charlotte Walser machen sich auf diese Weise etwa in der «BaZ» und im «Tages-Anzeiger» gleich die These der SVP zu eigen. Hinten dann die Einordnung: «Gut für die SVP, schlecht für die Schweiz» kommentiert Raphaela Birrer: Die SVP instrumentalisiere eine gefährliche, politische Gemengelage und zeige damit, dass ihr das Landesinteresse egal sei: «Für einen potenziellen Erfolg bei den nächsten Wahlen nimmt sie eine tiefere Spaltung der Gesellschaft gern in Kauf.»

Zwei Medien stechen besonders heraus. Der «Blick» fährt seit dem 2. August gleich eine «grosse Blick-Serie» zum Stadt-Land-Graben und bewirtschaftet das Thema damit auf die grösstmögliche Art und Weise. Die erste Folge der Serie trägt den Titel: «SVP schiesst sich auf links-grüne Städte ein». Die «Grosse Blick-Serie» stellt fest: «Der Stadt-Land-Graben ist grösser geworden. Nun wird er richtig beackert. Blick schaut diese Woche auf eine geteilte Schweiz». Dass die Schweizer Boulevardzeitung am Tag nach der Wut-Rede des SVP-Präsidenten genau zum Thema dieser Rede eine ausführliche Serie startet, kann kein Zufall sein – zumal der Tag vorher, an dem die Zeitung entstand, ein Sonntag war. Der «Blick» spannt sich also geplant vor den SVP-Karren. Sicher: Die Serie betet nicht nur die SVP-Thesen herunter. Die Zeitung widerspricht der Partei auch. Trotzdem verschafft der «Blick» den SVP-Polteri die grösstmögliche Präsenz.

Ähnlich die «NZZ»: Sie gibt Marco Chiesa einige Tage später auf einer ganzen Seite im Rahmen eines (freundlichen) Interviews die Gelegenheit, seine Thesen noch einmal ungefiltert auszubreiten. Etwa: «Die rot-grünen Stadtregierungen und die Parlamente sind Weltmeister darin, das Geld auszugeben, das andere verdient haben.» Die «NZZ» lässt den Mumpitz unwidersprochen so stehen – da war selbst der «Blick» kritischer: «Füttert das Land wirklich die Städte durch?», fragte die Boulevard-Zeitung unter dem Titel «1.-August-Rede von SVP-Präsident Chiesa im Faktencheck» und kommt zum Schluss, dass eher das Gegenteil stimmt. Nachtrag: Ein Tag später schiebt auch die «NZZ» eine sachliche Auseinandersetzung nach und kommt zum Schluss: «Wer Gemeinden finden will, die wirklich am Tropf hängen, muss auf dem Land suchen, in den Hochburgen der Volkspartei». Spät, sehr spät, aber immerhin.

Interessante Analysen

Trotzdem kann die SVP mit der «NZZ», dem «Blick» und vielen anderen Medien zufrieden sein. Die Provokation hat sich offensichtlich gelohnt. «Städte wehren sich gegen SVP-Attacke vom 1. August», titelt «Nau.ch»: «Die SVP lancierte zum Nationalfeiertag einen Frontalangriff auf die linken Städte». Nun wehren sich die Zentren». Das Onlinemagazin «Watson» titelt: «Land gegen Stadt: Wie die SVP die Schweiz spalten will». In seiner Analyse bezeichnet Peter Blunschi die Chiesa-Rede als «Hasstirade» und konstatiert: «Der Trumpismus ist definitiv in der Schweiz angekommen.» Und immer wieder der «Blick» mit seiner Stadt-Land-Graben-Serie: Städtische SVP-Politiker finden Chiesas Frontalangriff keine gute Idee und befürchten: «So werden wir eine Fünf-Prozent-Partei». Einen Tag später weiss die Zeitung, was das Problem ist: «Am Klimawandel scheiden sich die Geister».

Immerhin gibt es nicht nur Skandalisierungen der Chiesa-Rede, sondern auch nüchterne Kommentare. So bezeichnet Andreas Valuta die Stadt-Land-Debatte in der «Handelszeitung» als «unsäglich» und stellt fest: «Das Land profitiert stärker von Einkommen der Städte als umgekehrt.» Das sei nicht nur des Finanzausgleichs wegen so, sondern auch im Verkehr: Pro Kopf werden auf dem Land der öffentliche Verkehr, die Autobahn und andere Infrastrukturbauten viel stärker subventioniert als in der Stadt. Besonders interessant ist die Analyse von Alan Cassidy in den Tamedia-Zeitungen. Cassidy war bis vor kurzem USA-Korrespondent für den «Tages-Anzeiger». Jetzt schreibt er: «Die SVP klingt mit ihrer neuesten Provokation nicht zum ersten Mal wie ihre Vorbilder in den USA. Und unterliegt dabei einem Missverständnis.» Trump habe sich in den USA auf reale Probleme berufen, als er gegen die Städte wetterte. «In der Schweiz kann von solchen Zuständen keine Rede sein», schreibt Cassidy. Auch mit der urbanen Bevormundung sei es in der Schweiz nicht weit her. Cassidy bezeichnet die Rede deshalb als «faktenfreie Provokation»: «Mit Städte-Bashing lässt sich eben Kulturkampf machen – Identitätspolitik von rechts.» Trump rede vom «real America», die SVP von der «wahren Schweiz» – die es natürlich nur auf dem Land gibt.

Was soll das Ganze?

Was mich daran erstaunt, ja ärgert, ist nicht die SVP. Die macht, was Parteien und Politiker halt machen. Die SP hat den 1. Mai, die SVP den 1. August – Grüne protestieren gegen Umweltverschmutzung, die FDP gegen Steuern. So sind sie halt. Mücken stechen, Katzen fressen Vögel, Schlangen beissen. Es hat keinen Sinn, ihnen deswegen Vorwürfe zu machen.

Was mich ärgert ist die Willfährigkeit der Medien, insbesondere von «Blick» und «NZZ», sich die Provokationen einer Partei, die auf Wahlkampf umgeschaltet hat, zu eigen zu machen. Jetzt sagen Sie vielleicht: Aber genau das machen die Medien doch seit Jahren mit den Klimawarnungen der Grünen oder den Corona-Informationen des BAG. Doch da gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die Mechanismen der Klimakrise sind seit Jahrzehnten wissenschaftlich erwiesen. Die Corona-Informationen des BAG basieren auf breit akzeptiertem wissenschaftlichem Konsens. Die Fakten sind da – eine andere Frage ist, welche Politik daraus abgeleitet wird. Wir können also über die Folgerungen, die Problemlösungen diskutieren, aber nicht über die Fakten.

Der Vorwurf der SVP, die Städte seien Schmarotzer, die das Land dominieren, sind jedoch vollkommen faktenfrei. Es gibt kein breit akzeptiertes Problem. Der Vorwurf der SVP ist mit anderen Worten pure Propaganda, die (mindestens in den Städten) aufregt und ärgert. Indem die Medien diese Propaganda ungefiltert weitertragen, möchten sie von diesen Emotionen profitieren. Es ist das klassische Spiel der Boulevardmedien: Personalisieren, emotionalisieren, skandalisieren. Das gibt Klicks. Kurzfristig.

Ein Kick für die Klicks

Es ist wie mit dem zuckerigen Berliner oder dem Doughnut aus dem Fastfood-Schuppen: Kurzfristig tanzen unsere Steinzeitkörper im Kreis, wenn sie mit dem Zuckerboost gefüttert werden. Langfristig macht der viele Zucker dick und krank – und der Hunger bleibt. Kurzfristig mag die Aufreger-Berichterstattung Klicks bringen – Klicks durch den Kick der Empörten. Langfristig wenden sich viele Menschen angewidert davon ab, weil sie merken, dass solche Medien den Hunger nach Wissen und Information nicht stillen.

Und was ist jetzt mit dem Stadt-Land-Graben? Natürlich gibt es den Gegensatz zwischen Stadt und Land, so, wie den Gegensatz zwischen Deutschschweiz und Romandie, zwischen Reformierten und Katholiken, zwischen reichen und armen Gegenden, zwischen Basel und Zürich. Das Glück der Schweiz ist, dass all die Gräben unser Land kreuz und quer durchziehen und unsere Vorväter mit klugen Strukturen dafür gesorgt haben, dass kein Landesteil einen anderen dominieren kann. Speziell am Stadt-Land-Gegensatz ist zudem, dass es zwischen den Kernstädten und dem abgelegenen Land die Agglomeration gibt. Und hier, quasi im Graben zwischen Stadt und Land, lebt die grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer – und wundert sich über die SVP. Und die Medien.

Basel, 6. August 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © flowertiare – stock.adobe.com

Ballmer, Daniel (2021): Am Klimawandel scheiden sich die Geister. In: Blick, 4. 8. 2021. S. 4. [; 5.8.2021].

Birrer, Raphaela (2021): Gut für die SVP, schlecht für die Schweiz. In: «Tages-Anzeiger», 3. 8. 2021. S. 2. [; 5.8.2021].

Blunschi, Peter (2021): Land gegen Stadt: Wie die SVP die Schweiz spalten will. In: Watson , 2. 8. 2021. [https://www.watson.ch/schweiz/analyse/735778282-land-gegen-stadt-wie-die-svp-die-schweiz-spalten-will; 5.8.2021].

Cassidy, Alan (2021): Analyse zum Städte-Bashing der SVP: Schamlos auf Trumps Spuren. In: Tages-Anzeiger, 3. 8. 2021. [https://www.tagesanzeiger.ch/schamlos-auf-trumps-spuren-668833094374; 5.8.2021].

Chiesa, Marco (2021): Die freie Schweiz gegen die links-grünen Städte verteidigen! Rede von SVP-Präsident Marco Chiesa zum 1. August 2021. In: SVP Schweiz. [https://www.svp.ch/news/artikel/referate/die-freie-schweiz-gegen-die-links-gruenen-staedte-verteidigen/; 5.8.2021].

Gafner, Beni und Walser, Charlotte (2021): Die SVP will aufzeigen, was die Stadt das Land kostet. In: «Basler Zeitung», 3. 8. 2021. S. 1. [; 5.8.2021].

Hartmann, Lea (2021): Füttert das Land wirklich die Städte durch? 1.-August-Rede von SVP-Präsident Chiesa im Faktencheck. In: Blick, 3. 8. 2021. S. 3. [; 5.8.2021].

Neuhaus, Christina (2021): Marco Chiesa: «Es sind die Luxus-Sozialisten, die diese Entfremdung zwischen Stadt und Land mit ihrem arroganten Verhalten herbeigeführt haben». In: Neue Zürcher Zeitung . Zürich. [https://www.nzz.ch/schweiz/marco-chiesa-die-arroganten-staedte-sind-schuld-am-graben-ld.1638694; 5.8.2021].

Schäfer, Fabian (2021): Wirklich am Tropf hängen die Hochburgen der Volkspartei. In: Neue Zürcher Zeitung, 6. 8. 2021. S. 9. [https://www.nzz.ch/schweiz/schweiz-die-polemik-der-svp-gegen-die-staedte-ist-gewagt-ld.1638709; 6.8.2021].

Triaca, Ladina (2021): «So werden wir eine Fünf-Prozent-Partei». In: Blick, 3. 8. 2021. S. 3. [; 5.8.2021].

Triaca, Ladina und Ballmer, Daniel (2021): SVP schiesst sich auf links-grüne Städte ein. In: Blick, 2. 8. 2021. S. 2–3. [; 5.8.2021].

Valda, Andreas (2021): Eine unsägliche Debatte. In: Handelszeitung, 5. 8. 2021. S. 14. [; 5.8.2021].

Vuille, Christof (2021): Städte wehren sich gegen SVP-Attacke vom 1. August. In: Nau.ch. [https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/stadte-wehren-sich-gegen-svp-attacke-vom-1-august-65975583; 5.8.2021].

 

 

 

 

 

 

2 Kommentare zu "Wie die SVP die Medien hackt. Schon wieder."

  1. Welches (tote) Pferd welche Partei reitet, ist für die Politik in Tat und Wahrheit etwa so wichtig, wie die Waschmittelmarke für die Wäsche. Die Blase der Leitmedien habe ich für mich platzen lassen. Weil sie aus meiner Sicht engmaschig für eine gut- und obrigkeitsgläubige Gesellschaft agieren, und dafür konsumistisch unterhaltsam von gross Mächtigen und schwer Reichen alimentiert sind, die ganz und gar kein Interesse haben, in Frage gestellt zu werden. Wie beispielsweise bei den Wissenschaftler*innen, so sehe ich auch bei den Medien solche, die sich grossartig verkaufen wollen, und solche, die unbequeme Wahrheiten sagen. So lese ich jetzt beispielsweise täglich den INFOsperber, und hier insbesondere auch regelmässig und für mich ergiebig die Meinungen von Leser*innen.

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