Was, bitteschön, sind «hiesige Werte»?

Publiziert am 16. Dezember 2016 von Matthias Zehnder

Die Schweiz soll Zuwanderer und Flüchtlinge auf «hiesige Werte» einschwören. Immer häufiger ist dabei auch von «christlichen Werten» die Rede. Das Baselbiet will den Vorrang der «hiesigen Werte» sogar in Gesetz und Verfassung verankern. Bloss: Was sind «hiesige Werte»? Mir scheint, der Weihrauch, mit dem dieses Anrufen der Werte verbunden ist, soll bloss vernebeln, dass da gar keine Werte sind, auf die man sich berufen könnte. Ausser vielleicht das Bankgeheimnis, die Marktwirtschaft und ein kalter Egoismus. Aber es gibt einen Ausweg.

Auf den ersten Blick lesen sich die Kommentare im Internet ja ganz vernünftig: Wer in die Schweiz kommt, hat sich den «hiesigen Werten» anzupassen. Manchmal ist auch die Rede von der hiesigen Ordnung und Kultur. Immer häufiger werden «christliche Werte» angerufen, auf denen die Schweiz basiere. Ich habe diese Woche viel darüber gelesen und frage mich: Was meint «hiesige Werte» genau? Gibt es so etwas wie Schweizer Werte überhaupt? Ist unser Land eine Wertegemeinschaft, der man beitreten kann – oder ist es bloss eine nützliche Zweckgemeinschaft?

Ist die Schweiz christlich?

Insbesondere CVP-Präsident Gerhard Pfister hat sich in den letzten Monaten immer wieder darauf berufen, dass die Schweiz ein christliches Land sei. Gegenüber dem «Blick» sagte er: Die Schweiz ist ein christliches Land. Dazu sollten wir wieder stehen. Und wir sollten klarmachen, dass wir bereit sind, dieses Erbe zu verteidigen. Wer bei uns lebt, muss lernen, diese christlichen Werte anzuerkennen. Sind die «hiesigen Werte», die nicht nur das Baselbiet beschwört, also christliche Werte?

Noch bevor wir inhaltlich darauf eingehen, um welche Werte es dabei gehen könnte, stellen sich drei formale Fragen. Die erste: Wenn die Schweiz sich über christliche Werte definiert – was ist dann das «hiesige» an diesen Werten? Christliche Werte müssten überall im christlichen Abendland etwa dieselben Werte sein, also dürfte es zwischen den Werten der Schweiz, Deutschlands, Österreichs oder Italiens keinen Unterschied geben. Dann wären diese Werte aber keine «hiesigen» mehr im Sinne einer regionalen Gültigkeit, sondern nur «hiesige» im Sinne von westlichen Werten.

Das zweite Problem: Mit christlichen Werten könnte die Schweiz sich (wie wohl von den Protagonisten gewünscht) von Moslems abgrenzen. Sie würde aber gleichzeitig Juden ausgrenzen. Das kann und darf nicht das Ziel sein. Juden gehören zur Schweiz. In der Vergangenheit war das nicht immer so. In der Verfassung von 1848 erhielten Juden weder Niederlassungsfreiheit, noch Kultusfreiheit. Das zeigt übrigens auch, wie gefährlich das historische Argument ist. Wenn wir uns auf ein Gottesbild beziehen, das die Juden einschliesst, wäre es der Gott Abrahams – das ist aber auch der Gott des Islams. Die Politisierung des Christentums führt also entweder zu einer unzulässigen Ausgrenzung des Judentums – oder der Islam muss einbezogen werden.

Mit christlichen Werten würde die Schweiz drittens aber auch Agnostiker, Atheisten und andere Nichtgläubige ausgrenzen. Das wäre problematisch, ist die Schweiz doch (heute) ein laizistisches Land, in dem Staat und Religion strikt getrennt sind. Da kann die Religion nicht plötzlich durch die Hintertür eingeführt und als definierender Wert präsentiert werden.

Welche christlichen Werte könnten es sein?

Nehmen wir einmal an, diese quasi formalen Fragen liessen sich lösen – welche christlichen Werte könnten es denn sein, auf die die Schweiz sich beruft? Lassen wir dabei einmal Feinheiten ausser Acht wie die Frage, ob wir nach römisch-katholischen Werten oder nach evangelisch-reformierten Werten suchen. Wenn wir ganz generell nach den zentralen, christlichen Werten fragen, auf was kommen wir?

In der Bergpredigt verkündet Jesus von Nazareth dem Volk von Israel seine Lehre und damit auch seine Werte. Zentral sind die neun Seligpreisungen, die verknüpft sind mit Armut, Trauer, Demut, Sanftmut, Gerechtigkeitssuche, Barmherzigkeit, reinem Herzen, Friedensstiftung und Leidensbereitschaft wegen Verfolgung. Man könnte diese neun Begriffe wohl als zentrale Werte des Christentums bezeichnen. Wenn wir diese christlichen Werte inhaltlich ernst nehmen und nicht einfach wie eine Monstranz vor uns hertragen, dann müsste das Resultat eine Politik der Demut, der Sanftmut und der Barmherzigkeit sein. Es wäre das genaue Gegenteil einer egoistischen, auf Abgrenzung bedachten Politik des Stärkeren, wie sie die SVP (und mittlerweile auch die CVP) pflegt.

Der grosse Gegensatz zwischen den proklamierten und den gelebten Werten fällt in der Weihnachtszeit ganz besonders auf. Der Advent wäre die Zeit der Besinnung, der inneren Einkehr – in den westlichen Ländern ist es die Zeit des Konsums und der besonders heftigen Geschäftigkeit. Verstehen Sie mich recht: Ich sage nicht, dass unsere Welt im Advent in christlicher Besinnung erstarren sollte. Es ist aber heuchlerisch, in einer auf Konsum fokussierten Leistungsgesellschaft christliche Werte ins Feld zu führen – erst recht, wenn damit Flüchtlinge von der eigenen Schwelle weggewiesen werden sollen.

Missbrauch der Wertediskussion

Bei Lichte besehen geht es in der Wertediskussion ja nicht darum, dass unsere Gesellschaft sich auf ihre Werte zurückbesinnt. Den Promotoren der «hiesigen Werte» geht es darum, «dem Araber» zu zeigen, wo bei uns der Hammer hängt. Der Rückbezug auf Werte wird missbraucht, um eine Ordnung durchzusetzen, die als hiesige missverstanden wird. Denn wer genau hinschaut, muss doch bemerken, dass die propagierten Werte der Ordnung und der Unterordnung gerade nicht zur Schweiz passen.

Bundespräsident Johann Schneider-Ammann hat in der Radiotalkshow «Focus» auf SRF3 diese Woche Bemerkenswertes gesagt. Angesprochen darauf, was denn die Schweiz ausmache, sagte Schneider-Ammann (ab Minute 16.40): Wir haben keine Mehrheiten, wir haben lauter Minderheiten. In dieser Situation müssen auch die grossen Blöcke miteinander im Dialog jedes Detail verhandeln und abwägen und dann einen Kompromiss schliessen. Die Schweiz ist das Kompromissfähigste, was es überhaupt gibt. Das Diktat ist verpönt und wird nicht akzeptiert.

Wenn es also einen zentralen Wert, eine zentrale Eigenschaft der Schweiz gibt, dann ist es ihr sorgfältiger Umgang mit den Minderheiten und die Fähigkeit zum Kompromiss. Genau dieser zentrale Wert gerät jedoch unter die Räder, wenn die Schweiz populistischen Scharfmachern auf den Leim kriecht. Dass die Scharfmacher dabei behaupten, dass sie und nur sie das wahrhaft Schweizerische vertreten, ist besonders zynisch – dass immer mehr Menschen das auch glauben, ist besonders bitter.

Nehmen wir die Politiker beim Wort!

So gesehen ist dieser Ruf nach «hiesigen Werten» reine Ablenkung: Die Politiker, die das Weihrauchfass der Werte schwenken, wollen bloss davon ablenken, dass es diese Werte gar nicht gibt. Dass die Schweiz keine Wertegemeinschaft ist, sondern eine Zweckgemeinschaft egoistischer Selbstoptimierer, zusammengehalten von Bankgeheimnis und Steuerprivilegien. Klar, dass Flüchtlinge dabei nur stören.

Spannend ist, dass die wirklichen Werte, auf denen die Schweiz baut, der Ausgleich zwischen den Minderheiten, der gegenseitige Respekt und das vorbehaltlose Anerkennen der Institutionen dieses Staates, dass diese Werte den Absichten populistischer Politiker diametral zuwiderlaufen würden. Deshalb wäre das Schlimmste, was diesen Politikern passieren könnte, dass wir sie beim Wort nehmen und uns tatsächlich auf die «hiesigen Werte» berufen.

Kleine Schweiz – was nun?

6 Kommentare zu "Was, bitteschön, sind «hiesige Werte»?"

  1. Vielen Dank für diese Klarstellung. Das ist ein wahrhaft weihnächtliches Geschenk an uns Leser, ein geistiges „Süssgebäck“ mit leicht bitterem Abgang. Ein Denkanstoss für alle Selbstgerechten, der hoffentlich nicht von den berüchtigten Kommentatoren zerfleddert wird.

  2. Letzte Woche war u.a. der Pubertierende einer Therwiler Schule das Thema, welcher seiner Lehrerin nie die Hand gibt. Das sei in seiner Kultur, aus welcher er kommt, nicht üblich. Diese Woche nun geht’s weiter mit „Hiesige Werte“. Zur Begrüssung die Hand geben, ist bei uns einer.
    Jetzt lässt sich natürlich darüber herrlich philosophisch Schwadronieren, wie bünzlig dieses „Bestehen auf das Händegeben“ ist; stundenlang intelektuell Auseinandernehmen, wie kleinkariert unsere Gesellschaft über solch eine Handschlagverweigerung denkt.
    Doch dieser „Hiesiger Wert“ missachten, ist mehr als nur Unanstand. Ich wiederhole mich nur kurz: Es zeugt bei diesem ehemaligen Flüchtenden davon, dass er keinen Respekt gegenüber der Lehrerin (Frauen allgemein) zeigt, dass er keine Dankbarkeit dem Gastland, uns gegenüber zeigt, dem er vom nackten Überleben, von medizinaler Versorgung über Nahrung, warmer Wohnung bis zur Schulausbildung und einer endlos langen Liste an weiteren „Diensten“ alles verdankt.
    Dem weiterdenkenden Zeitgenossen stellt sich anhand solchen Verhaltens von Immigranten in Schulausbildung zwangsläufig die Frage: Was passiert, wenn er einen Beruf ergreifen soll? Wie reagiert die Frau des Marroniverkäufers, wenn er bei ihr arbeiten sollte und am ersten Arbeitstag so auf sie zukommt? Wie handelt die Human Resource-Frau beim Vorstellungsgespräch der Migros-Genossenschaft in Münchenstein, wo er die Chance hätte, als Attest-Lagerist zu beginnen? Und wie erfolgreich läuft die Begrüssung ab, wenn er bei der Elsässer Filialleiterin im Coop zu arbeiten beginnen sollte?
    Nix, Null, Zero, Nada – Chance. Es bleibt nur der lebenslange Gang aufs Sozialamt. Die schütten auch weiterhin ohne Handschlag.
    „Hiesige Werte“ sind existentiell, handfest und 100 x weitreichender als die schriftstellernden Zeilen dieses Wochenkommentars.

  3. Wir haben ja schon gemeinsame Werte, eine gute Bundesverfassung welche immerhin unter der Präambel „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“ steht. Mehr ist eigentlich für unser Zusammenleben nicht nötig. Wie Herr Zweidler pragmatisch feststellt, richtet sich in unseren gelebten Realitäten vieles von selbst. Damit meine ich nicht nur die beiden Jungs. Meine Hoffnung, vielleicht weihnachtlicher Wunsch ist, dass Menschen welche Anstand und Respekt gegenüber Andersdenkenkenden vermissen lassen in unserer Gesellschaft weiterhin in der Minderheit bleiben.

  4. Vielfalt bedeutet Reichtum. Es ist menschlich und professionell sehr anspruchsvoll, mit Vielfalt kreativ und konstruktiv zu leben. Wer das nicht kann und nicht lernen will, bleibt einfältig und ist arm dran. Vielfalt ist nicht verhandelbar. Sie besteht immer und überall. Damit Vielfalt produktiv sein kann, braucht es einen Rahmen, der von uneingeschränkt allen hier Wohnhaften (=aus meiner Sicht die so genannt «Hiesigen»!) gemeinsam ausgehandelt ist und à jour gehalten wird. Damit alle Hiesigen, so wie sie sind, darin ihren Platz finden und halten können. Für einen gemeinsamen Rahmen ist es insbesondere in einer so genannt globalisierten Welt nötig, dass alle Hiesigen immer wieder neu dazu lernen, und sich bei Bedarf neu orientieren wollen. Wer das Anderssein – sein eigenes oder das von andern – grundsätzlich nicht mag und nicht haben, oder gar verbieten und bestrafen will, scheint mir de facto sozial verloren und geladen mit einer Tendenz zur Gemeingefährlichkeit. Auch wenn er oder sie sich dabei in einer ethnischen, kulturellen, politischen, religiösen oder wie auch immer genormten oder geschönten Mehrheit wähnt.

  5. Sind mit «Schweizerischen Werten» in dieser Diskussion nicht eher westliche (manchmal schweizerisch gefärbte) Konventionen gemeint? Es kann tatsächlich lässtig werden, wenn man in jeder Situation einer Frau die Hand verweigern würde. Ich kenne übrigens auch einen Schweizer, der behauptet seinen Lehrern nie die Hand gegeben zu haben, allerdings nicht nur den weiblichen. Dabei ist er selber Lehrer geworden und würde seinen Schülern, wenn gewünscht, die Hand schon geben, aber nie einfordern.

    Wenn nun ein Schüler aus religiösen Gründen einer Lehrerin die Hand verweigert (vielleicht kaum mehr als eine Islamische Konvention), heisst das noch lange nicht, dass er sie als Lehrkraft nicht akzeptiert und nichts von ihr lernen will. Erst wenn das der Fall wäre, würde ein ernsthafteres Problem entstehen. (In dem Fall bräuchte er wohl zuerst einen Lehrer)

    Die Lehrerin (oder zur Not der Lehrer) könnte die Verweigerung als Symptom anschauen und überlegen, wie sie dem Schüler (und sicher nicht nur ihm) helfen könnte. Natürlich nicht direkt, indem sie den Islam in Zweifel ziehen würde, sondern indirekt. Die Zuhilfenahme der Kunst wäre hier angebracht, aber leider in den meisten Schulen nur stiefmütterlich behandelt. Z. B. könnte sie Lessings «Nathan der Weise» aktiv mit szenischen Darstellungen durchnehmen oder Mozarts Zauberflöte heranziehen und zeigen wie Mozart neben den menschlichen (männlichen und weiblichen) Schwächen auch zeigt, wie Mann und Frau einen gleichwertigen Weg gehen können. Durch die gewaltige Musik bekommt das auch Glaubwürdigkeit. Das hat Mozart dann den Hass der konservativen Freimaurer eingebrockt, die eine reine Männergesellschaft bleiben möchten und immer noch sind. Ein solcher Unterricht würde, solange auch das Elternhaus mitbestimmend ist, vielleicht nicht sofort die Verweigerung der Hand beenden, aber schon einen Keim für später legen können.

    Auch in Europa ist Frauendiskriminierung, oft versteckt hinter einer höflichen Konvention, mehr verbreitet als man meinen würde. Der Schüler ist eigentlich ehrlicher als mancher Mann, der seine Geringschätzung geschickt kaschiert, aber unter gewissen Umständen, z. B. am Stammtisch (oft nur Männer), kennbar macht.

    Joannes Bergsma

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.