Wer sind Sie – und wer wollen Sie sein?
Wie stellen Sie sich vor? Klar, mit Namen. Aber was kommt danach? Wie sagen Sie, wer Sie sind? Ich bin, je nach Kontext, Autor, Medienwissenschaftler, KI-Kritiker oder Medienberater. So sehe ich mich – es ist das, was ich tue. Aber: Wer bin ich? Was ist meine Identität? Auf der Identitätskarte stehen Nationalität, Geschlecht und Grösse. Die Hautfarbe steht da nicht, sie ist offensichtlich weiss. Dafür steht der Heimatort. Der hatte vielleicht mal etwas mit meiner Herkunft zu tun, aber sicher nichts mit Heimat. Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Vom Internet haben wir uns damals, als es neu war, eine Befreiung erhofft: die Möglichkeit, endlich unterschiedlichste Identitäten auszuspielen. Eingetreten ist das Gegenteil: Noch nie haben wir die Menschen so sehr in Schubladen gesteckt. Das gilt auch und gerade für Menschen wie Nemo, die sich nicht einschachteln lassen möchten. Auch für sie haben wir Kategorien, Identitäten und Schubladen bereitgestellt. Warum nur beharren wir so auf dieser einen Identität eines Menschen? Max Frisch sagt: Identität ist keine Eigenschaft, sondern die Geschichte, die wir über uns selbst erzählen. Die Geschichte, mit der wir unserem Leben Sinn geben. Oder es zumindest versuchen. Mein Wochenkommentar über die Identität.
Zwei Bilder von Nemo sind mir diese Woche hängen geblieben: Das eine zeigt Nemo in einem hellen Jackett, auf dem Kopf einen Hut aus rosafarbenem Pelz. Es wirkt, als hätte man in einem Bild die klassische Darstellung von Robinson Crusoe mit dem Bild der britischen Königin verschmolzen. Eine ebenso unwahrscheinliche wie reizvolle Kombination. Das andere Foto zeigt Nemo auf dem Sofa von BBC One mit rosa Latschen und einem gelb leuchtenden Häkelkleid, als wäre Nemo eine Blumenelfe aus einem Bilderbuch von Ida Bohatta. Es sind wunderbare Zeugnisse eines unbekümmerten Selbst. Nemo entzieht sich der Einordnung. Klar: Nemo hat den Eurovision Song Contest gewonnen. Nemo macht Musik und das äusserst erfolgreich. Aber was Nemo ist, bleibt offen. Schubladen wie «nonbinär» sind von vornherein zum Scheitern verurteilte Versuche, einem quirlig-fluiden Wesen eine Identität aufzudrücken. Und doch wird genau das geschehen.
In den Anfangstagen des Internets haben wir uns vom Netz die grosse Befreiung von Schubladen und Schachteln versprochen. Ein Ausdruck davon waren die Forschungen der amerikanischen Psychologin Sherry Turkle. Sie ist klinische Psychologin und Professorin für Soziologie am Massachusetts Institute of Technology. Schon früh beschäftigte sie sich mit der Interaktion von Menschen mit Maschinen. 1996 untersuchte sie in ihrem Buch «Life on Screen – Identity in the Age of the Internet» das Verhalten von Menschen im Netz und stellte fest, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Chats und Online-Spielen oft und gerne fremde Rollen und Identitäten ausprobieren. Sie projizieren sich als Helden in ihre ganz eigenen Geschichten und übernehmen dabei auch gleich die Regie. Besonders beliebt war dabei das «Gender Swapping», also das Wechseln des Geschlechts: Online wurde es möglich, ohne Risiko in eine ganz andere Haut zu schlüpfen und eine fremde Identität auszuprobieren.
Spuren im Netz
Das war auch deshalb möglich, weil 1996 die meisten Menschen noch kaum Spuren im Netz hinterlassen hatten. Heute ist das ganz anders: Wir alle sehen uns einem manchmal fast übermächtigen digitalen Spiegelbild gegenüber. Einem Spiegelbild im Internet, das sich weder dafür interessiert, wer wir sein wollen, noch vergisst, wer wir einmal waren. Unsere digitale Vergangenheit ist allgegenwärtig und jederzeit abrufbar. Sie klebt wie Lehm an unseren Füssen und macht es uns immer schwerer, uns neu zu erfinden.
Wir erleben damit alle das, was Max Frisch in seinem Roman «Stiller» geschildert hat. Sie erinnern sich: Der Schweizer Bildhauer Anatol Stiller will sich neu erfinden. Er ist in die USA ausgewandert und nennt sich jetzt James Larkin White. Bei der Einreise in die Schweiz wird dieser Mr. White festgenommen, weil er für die Grenzpolizei mit dem verschollenen Bildhauer Anatol Ludwig Stiller identisch ist. Ehemalige Freunde, sein Bruder, seine Frau Julika und der Staatsanwalt bestätigen in Aussagen und gemeinsamen Erinnerungen diesen Verdacht. Doch in seinen Aufzeichnungen wehrt sich Mr. White in der Untersuchungshaft gegen diese Festlegung. So beginnt denn auch der Roman. Der erste Satz lautet: «Ich bin nicht Stiller!»
Festlegung auf die Vergangenheit
Stiller wehrt sich gegen die Festlegung, die Fixierung auf die Identität aus seiner Vergangenheit, weil diese Identität für ihn fragwürdig geworden ist. Er will sich die Freiheit der Wahl bewahren, ein anderer sein zu können. Das Ich wird zur Behauptung der Gesellschaft, der Stiller eine Gegenbehauptung entgegensetzt. Weil das aus formaljuristischen Gründen nicht funktioniert, wird das Ich zum Kriminalfall. Die Gesellschaft lässt die freie Wahl des Ich nicht zu. Der Zollbeamte erklärt Mr. White «mit der Miene eines gesetzlich geschützten Hochmuts», wie Frisch schreibt, man werde ihm schon sagen, wer er in Wirklichkeit sei.
Stiller alias White wird eingesperrt in eine Zelle und mit Tinte und Papier versehen:
Erzählen soll ich! Und zwar die Wahrheit meines Lebens, nichts als die schlichte und pure Wahrheit! Ein Block weissen Papiers, eine Füllfeder mit Tinte, die ich auf Staatskosten jederzeit nachfüllen lassen kann, und dazu ein bisschen guten Willen: – was soll der Wahrheit schon übrigbleiben, wenn ich ihr mit meiner Feder komme! Und wenn ich mich bloss anständig an die Tatsachen halte, meint mein Verteidiger, haben wir ja die Wahrheit schon im Gehege, sozusagen mit Händen zu greifen. Wo sollte die Wahrheit, wenn ich sie niederschreibe, denn hin? Und unter Tatsachen, glaube ich, versteht mein Verteidiger insbesondere Ortsnamen, Daten, die man nachprüfen kann, beispielsweise Angaben über Beruf oder sonstiges Einkommen, Dauer von Aufenthalten, Anzahl der Kinder, Anzahl der Scheidungen, Konfession usw. (Seite 18)
Stiller soll sich an die Tatsachen halten, weil es die Tatsachen sind, die für den Staat und die Gesellschaft die Identität eines Menschen ausmachen. Genau das erlebe ich heute im Internet und in der digitalen Welt: Geschlecht und Nationalität, Grösse und Heimatort, Hautfarbe und Herkunft – so definieren uns die Datenbanken. Sie schaffen Tatsachen.
Stiller schreibt in seiner Zelle in sein Notizheft:
Ich bin nicht ihr Stiller. Was wollen sie von mir! Ich bin ein unglücklicher, nichtiger, unwesentlicher Mensch, der kein Leben hinter sich hat, überhaupt keines. Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle. Warum lassen sie nicht ab? (Seite 49)
Das ist bis heute so: Was uns die Gesellschaft anbietet, ist nicht Freiheit, sondern Flucht in eine Rolle. Die Rollen sind vielleicht etwas vielfältiger geworden, es gibt auf der Skala der Geschlechtsidentitäten ein paar Buchstaben mehr, aber es sind immer noch Rollen. Ganz besonders gilt das für die Rolle des Europäers, des Weissen, des Mannes, dem per se Kolonialismus und kulturelle Übergriffe zugeschrieben werden. Weil das, als Resultat von Tatsachen, seine Identität ist.
Stiller schreibt:
Es gibt keine Flucht. Ich weiss es und sage es mir täglich. Es gibt keine Flucht. Ich bin geflohen, um nicht zu morden, und habe erfahren, dass gerade mein Versuch, zu fliehen, der Mord ist. Es gibt nur noch eins: dieses Wissen auf mich zu nehmen, auch wenn dieses Wissen, dass ich ein Leben gemordet habe, niemand mit mir teilt. (Seite 60)
Stiller hat versucht, sein altes Ich umzubringen. Das aber akzeptiert die Gesellschaft nicht. Sein Problem ist, dass er es nicht schafft, sein neues Ich so darzustellen, dass ihm Staat und Gesellschaft diese neue Identität glauben. Denn ihm fehlt dazu die Sprache.
Stiller schreibt:
Das ist es: ich habe keine Sprache für die Wirklichkeit. Ich liege auf meiner Pritsche, schlaflos von Stundenschlag zu Stundenschlag, versuche zu denken, was ich tun soll. Soll ich mich ergeben? Mit Lügen ist es ohne weiteres zu machen, ein einziges Wort, ein sogenanntes Geständnis, und ich bin ‹frei›, das heisst in meinem Fall: dazu verdammt, eine Rolle zu spielen, die nichts mit mir zu tun hat. Anderseits: wie soll einer denn beweisen können, wer er in Wirklichkeit ist? Ich kann’s nicht. Weiss ich es denn selbst, wer ich bin? Das ist die erschreckende Erfahrung dieser Untersuchungshaft: ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit! (Seite 84)
Das bleibt die zentrale Frage: Wie soll einer denn beweisen können, wer er in Wirklichkeit ist? Einmal abgesehen davon, dass man dafür selbst zuerst einmal wissen müsste, wer man wirklich ist. Schon das ist äusserst schwierig. Und dann kommt noch die erschreckende Erfahrung dazu, die Stiller in der Untersuchungshaft macht: ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit! Dieses Innere lässt sich nicht so einfach beschreiben wie die Haarfarbe. Oder die Hautfarbe.
Ich glaube nicht, dass sich daran viel geändert hat. Unsere Welt mag heute bunter sein, greller vielleicht. Das heisst aber nicht, dass wir uns besser ausdrücken können. Der entscheidende Punkt ist: Stiller sagt, er habe keine Sprache für seine Wirklichkeit. Seine eigene Wirklichkeit also. Damit meint er nicht die Realität, die wir alle teilen, die wir alle wahrnehmen und über die wir uns einigermassen verständigen können. Er meint die innere Wirklichkeit eines Menschen, die nur ihm selbst zugänglich ist. Diese Wirklichkeit ist fragil, fluide, vielleicht flüchtig. Diese innere Identität wird förmlich zermalmt von harten Zuschreibungen wie Körpergrösse, Heimatort oder Geschlecht.
Nach «Stiller» hat sich Max Frisch in einem weiteren Roman mit der Suche nach der Identität auseinandergesetzt. In «Mein Name sei Gantenbein» probiert die Hauptfigur Geschichten an wie Kleider. Gantenbein schlüpft in die Rolle eines Blinden. Das verändert sein Verhältnis zu den Menschen: Hinter seiner Blindenbrille kann er sie beobachten, ohne dass sie sich beobachtet fühlen. Sie beginnen, sich zu enttarnen, weil sie seinen urteilenden Blick nicht zu fürchten brauchen. Im Mittelpunkt steht das Bedürfnis der Menschen nach einer Geschichte: Identität ist keine Eigenschaft mehr, keine Summe von Merkmalen. Identität ist die Geschichte, die wir über uns selbst erzählen. Es ist die Geschichte, die wir erzählen, um unserem Leben einen Sinn zu geben. Identität wird zur notwendigen Selbsterfindung.
Eine Selbsterfindung ist es, weil wir dabei aus dem Inneren schöpfen. Weil wir dabei nicht nur finden, sondern erfinden. Notwenig ist diese Selbsterfindung, weil jeder Mensch seine Geschichte braucht. Nur eine Geschichte kann dem Leben Sinn geben. Es ist wunderbar, einem jungen Menschen wie Nemo dabei zuzusehen wie er sich selbst erfindet. Gantenbein probiert Geschichten aus wie Kleider – Nemo probiert Kleider aus wie Geschichten. Darin steckt viel Hoffnung und das Versprechen auf eine Fortsetzung der Geschichte.
Und dann? In meinem Alter? Da ist die Gefahr gross, dass man sich den Tatsachen, wie sie der Staatsanwalt von Stiller einfordert, geschlagen gibt. Dass man es aufgibt, sich selbst zu erfinden und sich mit seinen Daten und Fakten abfindet. Zumal das Internet voll von Daten ist, die ich hinterlassen habe. Voll von Tatsachen, weil meine Taten zu Sachen geführt haben, die man speichern und zählen kann. Nichts anderes zählt in der digitalen Welt.
Dennoch glaube ich, dass Leben auch in meinem Alter bedeutet, sich selbst zu erfinden. Die eigene Geschichte immer wieder neu zu erzählen und so zu sich selbst zu finden. Nein, Identität ist keine Frage von Schachteln und Schubladen, von Abstammung, Heimatort, Hautfarbe und Geschlecht. Sie ist keine Frage des Seins, sondern der Wahl. Immer wieder neu. Die Frage ist nur, ob Staat und Gesellschaft, ob die digitale Welt und ihre Daten und eine auf Statistik und Wahrscheinlichkeit beruhende Künstliche Intelligenz uns die Freiheit dazu lassen. Oder ob wir sie uns nehmen müssen. Wie Stiller. Und Nemo.
Basel, 24. Mai 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen:
Bild: KEYSTONE/Rolf Neeser
Nemo im Mai 2024 in Bern.
Frisch, Max (1954): Stiller. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Frisch, Max (1964): Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Turkle, Sherry (1995): Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet. New York: Simon and Schuster.
Zehnder, Matthias (2019): Die digitale Kränkung. Über die Ersetzbarkeit des Menschen. Zürich: NZZ Libro.
Ein Kommentar zu "Wer sind Sie – und wer wollen Sie sein?"
Guten Morgen,
besten Dank für diesen Kommentar, hat meine Erinnerungen an Max Frisch aufgefrischt. Die persönliche Einschätzung der eignen Identität durch Autor zum Schluss, finde ich sehr gut. So weit ich mich erinnere mag, hat Max Frisch im Spätwerk „der Mensch erscheint im Holozän“ den Gedanken der Identitätssuche zu Ende gedacht. Ich denke, der Opa da oben in den Tessiner Berge hat – trotz Zettelwirtschaft- den Zerfall seiner Identität nicht aufhalten können. Im digitalen Zeitalter werden wir wohl nach unserem Ableben als Zombis noch eine Zeit lang druch das das Netz geistern, aber über kurz oder lang werden sich die Spuren verflüchtigen, und das ist auch gut so. Wünsche weiterhin frohes Schaffen. Guido Besmer