Wer hat Angst vor 2050?

Publiziert am 20. September 2019 von Matthias Zehnder

Der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt hat diese Woche beschlossen, dass ab 2050 in Basel nur noch umweltfreundliche Fahrzeuge verkehren sollen. Das hat in Basel für rote Köpfe gesorgt. Allerdings auf der falschen Seite: Geärgert hat sich der Gewerbeverband und die Rats-Rechte. Dabei müssten sich die Grünen ärgern. Ein Benziner- und Dieselverbot in 30 Jahren ist nun wahrlich keine Herausforderung. Wir Menschen machen immer wieder denselben Fehler: Wir überschätzen die kurzfristigen Veränderungen – und unterschätzen die langfristigen. Umso wichtiger ist es, in der Gegenwart die richtigen Schritte zu tun, um uns langfristig eine Zukunft auf diesem Planeten zu sichern.

Der Basler Gewerbeverband kämpft seit langem schon für mehr Autos in Basel. Kann man machen. Es ist bloss nicht ganz einzusehen, wo die Karren Platz finden könnten. Die Flächen der Stadt sind heute schon überbeansprucht. Wie auch immer: Der Gewerbeverband will Autos mit einer Initiative freiere Fahrt verschaffen und in einer Volksabstimmung das Verkehrs-Reduktionsziel wieder aus der Verfassung des Stadtkantons streichen.[1] Der Grosse Rat hat diese Woche einen Gegenvorschlag zur Initiative beschlossen, der im Gegensatz dazu umweltfreundliche Verkehrsmittel und Fortbewegungsarten fördern will.

Der Gewerbeverband ist damit gar nicht einverstanden: Der Verband schreibt, der Grosse Rat habe einen «Pseudo-Gegenvorschlag beschlossen, mit welchem das rein ideologisch motivierte Gegeneinander-Ausspielen der verschiedenen Verkehrsarten weiter verschärft werden soll.»[2] Vom Auto ist in dem Gegenvorschlag aber gar nicht die Rede. Dafür umso mehr von der Umwelt. Im vorgeschlagenen Gesetz steht nämlich, dass «die Gesamtverkehrsleistung auf Kantonsgebiet ausserhalb der Hochleistungsstrassen bis 2050 ausschliesslich mit Verkehrsmitteln und Fortbewegungsarten abgewickelt wird, die emissionsarm, klima- und ressourcenschonend sind.»[3] Das einzig bemerkenswerte an diesem Satz ist die Jahreszahl: Ein umweltfreundlicher Verkehr soll erst 2050 erreicht werden.

In 30 Jahren!

2050 – das ist in 30 Jahren! Das ist von uns heute so weit entfernt wie 1989. Erinnern Sie sich noch daran? 1989 war das Jahr des Mauerfalls. George H. W. Bush (also Bush senior) trat als Präsident der Vereinigten Staaten die Nachfolge von Ronald Reagan (!) an, in Grossbritannien regierte immer noch mit eiserner Hand Margaret Thatcher und Jean-Pascal Delamuraz war Bundespräsident in der Schweiz. Queen veröffentlichte «The Miracle», Madonna «Like A Prayer» und Simply Red «A New Flame». Auf Platz 1 der Schweizer Singe-Charts stand aber David Hasselhoff mit «Looking for Freedom».[4] Die meistgesehenen Filme waren «Rain Man» mit Dustin Hofmann, «A Fish called Wanda» von und mit John Cleese und «Back to the Future II».[5] Kurz: es waren (immer noch) die 80er Jahre.

1989 gab es zwar das Internet, das World Wide Web aber gab es noch nicht. Das Internet war ein Computernetzwerk für Wissenschaftler und Spezialisten. Erst zwei Jahre später, 1991, veröffentlichte Tim Berners-Lee am Cern in Genf das erste Dokument über das World Wide Web. Es dauerte aber weitere zwei Jahre, bis das Web benutzbar wurde: den ersten Webbrowser gab es nämlich erst 1993. Marc Andreessen entwickelte als Undergraduate-Student an der Universität von Illinois den Webbrowser «Mosaic». 1993 ging das Weisse Haus online, Bill Clinton wurde mit der Adresse president@whitehouse.gov der erste amerikanische Präsident, der per E-Mail erreichbar ist. Von diesen Zeiten sind wir mit dem twitternden @realDonaldTrump[6] Lichtjahre entfernt.

Die Tücken des Hype Cycles

1989 hätten wir uns nicht träumen lassen, dass ein amerikanischer Präsident seine Kontrahenten öffentlich beschimpft als Crocked Hillary, SleepyCreepy Joe oder Slimeball James Comey.[7] Es war undenkbar, dass ein Jugendlicher mit einem selbstgemachten Video die CDU bei den Europawahlen ins Wanken bringt.[8] Und hätte ein Autor die Betrügereien der deutschen Autoindustrie rund um den Dieselmotor in einem Roman geschildert, wäre er als Spinner bezeichnet worden. In was für einer Welt wir heute leben, das konnten wir uns vor 30 Jahren nicht vorstellen. Auch im Ansatz nicht. Es gab zwar Zukunftsvisionen, vom Bildtelefon über das Flugtaxi bis zur Mars-Mission – sie lagen aber allesamt daneben. Warum haben wir ein so schlechtes Gefühl dafür, was die Zukunft uns bringt?

Der Grund dafür ist wahrscheinlich ein Phänomen, das die Beratungsfirma Gartner in einer Kurve abbildet, die sie «Hype Cycle» nennt. Die Kurve sieht aus wie die Pulskurve auf dem Bildschirm eines sterbenden Herzpatienten: Sie steigt zuerst steil an, nur um ebenso steil wieder abzustürzen und sich dann langsam zu einer mittleren Horizontalen zu erholen:

Der Hype Cycle nach Gartner: Vgl. https://www.gartner.com/en/research/methodologies/gartner-hype-cycle Übersetzung und Adaption der Grafik: mz

Zu lesen ist die Kurve so: Die Tech-Industrie und ihre Werbeleute loben eine neue Technik jeweils in den höchsten Tönen. Das führt zu stark übertriebenen Erwartungen an die Technik. Die ersten Realisierungen der neuen Technik sind noch wackelig, sie können die Erwartungen nicht erfüllen. Es setzt eine Desillusionierung ein, die Stimmung stürzt ab. Es vergeht Zeit, die Umsetzung der neuen Technik wird immer besser, kaum bemerkt verbreitet sie sich, immer mehr Menschen setzen sie ein. So kommt es, dass wir immer wieder davon überrascht werden, dass eine neue Technik zur Selbstverständlichkeit geworden ist (und damit die Welt verändert), obwohl von dieser neuen Technik schon lange die Rede war. Kurz: Wir neigen dazu, die Auswirkungen von Erfindungen kurzfristig massiv zu überschätzen – und langfristig massiv zu unterschätzen.

Reiskörner auf dem Schachbrett

Dazu kommt ein zweiter Punkt: Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass sich viele Entwicklungen exponentiell abspielen. Und wir Menschen können mit Exponentialität schlecht umgehen. Ein Bild dafür ist die Legende von Sissa ibn Dahir. Der indische Herscher bot Sissa eine Belohnung an. Sissa wünschte sich Reis. Und zwar so viel, wie auf einem Schachbrett Platz finden, wobei auf dem ersten Feld ein Korn liegt, auf dem zweiten zwei, auf dem dritten vier, auf dem vierten acht und so weiter. Die Rechnungsaufgabe dazu lautet: 1+2+4+8+16… Schätzen Sie, wieviele Reiskörner auf dem letzten der 64 Felder eines Schachbretts liegen. Oder: Schätzen Sie, auf welchem Feld zum ersten Mal mehr als eine Million Körner liegen.

Die meisten Menschen sind dazu nicht in der Lage, weil wir zwar Summen gut schätzen können, nicht aber Exponentialfunktionen. Die Antworten: Auf dem letzten Feld liegt eine Zahl Körner, die mit 9 beginnt und 19 Stellen hat (und von der ich nicht weiss, wie man sie in Sprache ausdrückt). Die Million wird bereits im fünften Feld der dritten Reihe übersprungen – viel schneller, als die meisten Menschen meinen.[9] Das bedeutet: Gerade im Zeitalter der Digitalisierung haben wir kein Gefühl mehr, wie rasch sich die Welt gigantisch ändern wird, auch wenn die Anfangsschritte winzig sind. Deshalb wird die Welt, in der wir 2050 wohnen, eine völlig andere sein. Ich habe keine Ahnung, wie sie genau aussieht – ich weiss nur, dass sie ganz anders sein wird. Weil sich aber kleine Schritte in der Zukunft potenzieren, ist es für die Zukunft höchst relevant, was wir in der Gegenwart unternehmen und seien die Schritte noch so klein.

Politiker, die im Jahr 2019 nicht wirklich ernsthafte Schritte zur Dekarbonisierung des Verkehrs unternehmen (der Landverkehr in der Schweiz macht ein Drittel der CO2-Emmissionen unseres Landes aus[10]), nehmen ihre Verantwortung für die Zukunft nicht wahr. Über den Verkehr in der Stadt Basel im Jahr 2050 und die Frage, ob Gemüsebauern aus dem Baselland mit ihren Traktoren dannzumal die Stadt beliefern können, darüber müssen wir uns heute keine Sorgen machen. Sorgen machen müssen wir uns in der Gegenwart: Die Frage ist, ob wir hier und heute die richtigen Schritte einleiten, damit wir die Zukunft auf diesem Planeten erleben können.

Basel, 20. September 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

[1] Siehe Kampagnenwebsite des Gewerbeverbandes: https://zaemme-besser.ch/

[2] Vgl. Medienmitteilung des Gewerbeverbands Basel: https://gewerbe-basel.ch/2019/09/zaemme-besser-rot-gruen-blockiert-verkehrspolitischen-kompromiss/

[3] Siehe Beschlussprotokoll des Grossen Rats, Seite 15: http://www.grosserrat.bs.ch/media/files/ratsprotokolle/beschlussprotokoll_2019-09-18.pdf?t=156896381920190920091659

[4] Vgl. Schweizer Jahreshitparade 1989: https://hitparade.ch/charts/jahreshitparade/1989

[5] Vgl. Filmjahr 1989: https://de.wikipedia.org/wiki/Filmjahr_1989

[6] Twitter-Name von US-Präsident Donald Trump

[7] Eine Liste der Schimpfnamen, mit denen Donald Trump seine Gegner eindeckt, finden Sie hier: https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_nicknames_used_by_Donald_Trump

[8] «Die Zerstörung der CDU» von Youtuber Rezo, vgl. hier: https://www.youtube.com/watch?v=4Y1lZQsyuSQ

[9] Eine schöne Darstellung von Legende und Rechenaufgabe findet sich hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Sissa_ibn_Dahir

[10] Vgl. hier: https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/klima/inkuerze.html

2 Kommentare zu "Wer hat Angst vor 2050?"

  1. In Schlaraffenländern wie der Schweiz leben viele im Überfluss. Sie nennen es Wohlstand. Er ist aber eigentlich das Gegenteil: weil und wenn er auf Kosten von andern auf dieser Erde und auf Kosten unserer Umwelt geht. Ob macht- und parteipolitisch blau, gelb, grün, orange, schwarz oder weiss: Diese 2050er- oder 2030er-Szenarien sind lauter Bürokratie- und Technologie-Tiger, in denen sich Ohnmacht und Verantwortungslosigkeit manifestiert. Immer noch mehr geht nicht mehr: Weil Wachstum nicht die Lösung, sondern das Problem ist.

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