Wem gehört die Stadt?

Publiziert am 31. Januar 2020 von Matthias Zehnder

Einig sind sich die Kontrahenten nur in der Feststellung, dass die Verkehrspolitik völlig verkrampft ist. Nicht nur in Basel – in der ganzen Schweiz. Immer häufiger kommt es zu Konflikten zwischen den Interessen der Autofahrer und jenen der Velofahrer und der Fussgänger. Am nächsten Wochenende stimmen die Baslerinnen und Basler über zwei Initiativen ab, mit denen der Gewerbeverband die Verkehrspolitik «entkrampfen» will. Ziel sei ein «faires Miteinander» aller Verkehrsteilnehmer. Darum gehe es auf der Strasse. Doch das ist ein Missverständnis. Auf den Strassen in unseren Städten geht es um etwas ganz anderes.

Die Initiativen des Basler Gewerbeverbandes lesen sich gut. Da geht es um ein «fortschrittliches und rücksichtsvolles Miteinander aller Verkehrsteilnehmenden», um eine «Verbesserung der Standortqualität für die Bevölkerung, Pendler und Besucher.» «Zämme fahre mir besser» heisst die eine Initiative, «Parkieren für alle Verkehrsteilnehmer» die andere.[1] Das zentrale Anliegen der Vorstösse ist die Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer: Einzelne Verkehrsteilnehmer sollen nicht mehr bevorzugt werden, es sollen gleiche Rechte für alle Verkehrsmittel gelten. Das wäre eine Wendung zu Gunsten des Autos, denn heute werden der öffentliche Verkehr sowie Velo und Fussgänger bevorzugt behandelt.

Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer – das klingt doch gut. Wir sind doch sonst auch immer für Gleichberechtigung. Warum also nicht auch auf der Strasse? Warum nicht gleich lange Spiesse für alle? Die grosse Frage ist natürlich, was das denn bedeutet. Wie werden Auto und Velo gleich behandelt? Die Initiative «Parkieren für alle Verkehrsteilnehmer» zum Beispiel fordert «genügend Abstellflächen für Velos» und «endlich wieder genügend Parkplätze» für die Autos. Gleichberechtigung bedeutet also laut Gewerbeverband: Beide, Autos und Velos, haben Parkplätze.

Autos brauchen viel mehr Fläche

Völlig ausgeblendet wird dabei, dass der Parkplatz eines Autos viel mehr Fläche benötigt als der Parkplatz eines Fahrrads. Ein Parkplatz für ein Auto muss 2,5 Meter breit und 5 Meter lang sein – macht 12,5 Quadratmeter.[2] Ein Velo braucht viel weniger Fläche. Laut Bundesamt für Strassen sind für einen Veloparkplatz in der Schweiz 1–2 Quadratmeter Fläche zu berechnen.[3] In einer Stadt ist Fläche ein knappes Gut. Gleichbehandlung von Velo und Auto könnte deshalb auch heissen, dass beiden gleich viel Fläche für das Parkieren zur Verfügung gestellt werden. Das würde dann heissen, dass es in der Stadt etwa acht Mal mehr Veloparkplätze als Autoparkplätze geben müsste.[4]

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Jetzt sagen Sie vielleicht, dass die Rechnung unfair ist, weil in einem Auto ja vier oder fünf Personen Platz haben, ein Velo aber in den allermeisten Fällen nur eine Person transportieren kann. Doch in der Schweiz wird die Transportkapazität von Autos alles andere als ausgeschöpft: Im Durchschnitt sind Schweizer Autos nur mit 1,6 Personen besetzt.[5] Wenn wir auf dieser Basis die nötige Parkierfläche pro Person berechnen, kommen wir beim Auto auf etwa 8 Quadratmeter pro Person – das ist immer noch über fünf Mal mehr Fläche, als ein Velo pro Person benötigt. Wenn Auto und Velo in der Stadt gleich behandelt würden, müsste die Stadt also fünfmal mehr Veloparkplätze als Autoparkplätze bieten. Das wäre Gleichbehandlung in der Stadt.

140 Quadratmeter bei Tempo 50

Und was bedeutet Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer auf der Strasse? Da gilt natürlich das Flächenargument ebenfalls: Ein Auto braucht auch im Verkehr viel mehr Platz als ein Velo – und zwar umso mehr, je schneller es fährt. Der Grund: Je schneller ein Auto fährt, desto länger werden die während der Reaktionszeit zurückgelegte Strecke und der Bremsweg. Martin Randelhoff, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung an der Fakultät Raumplanung der Technischen Universität Dortmund, hat einen interessanten Flächenvergleich für den Verkehr in der Stadt angestellt. Laut seinen Berechnungen braucht ein stehendes Auto 13,5 Quadratmeter Fläche, ein stehendes Velo 1,2 Quadratmeter. Bei 30 Stundenkilometern sind es beim Velo 41 Quadratmeter, beim Auto 65,2 Quadratmeter. Mit Tempo 50 benötigt ein Auto sogar 140 Quadratmeter.[6] Wenn Verkehrsteilnehmer in einer Stadt gleich behandelt werden – sollte das nicht heissen, dass allen gleich viel Fläche zur Verfügung steht? Das würde aber heissen, dass die Autos massiv Abstriche machen müssten. Denn der grösste Teil der Strassenflächen in unseren Städten gehört nach wie vor den Autos.

Vergleich unterschiedlicher Flächeninanspruchnahmen durch Pkw, Bus, Strassenbahn, Stadtbahn, Radfahrer und Fußgänger (pro Person). – Grafik: Martin Randelhoff, www.zukunft-mobilitaet.net – CC BY

Es geht um die Macht

Die Flächenberechnung ist natürlich akademisch. Denn im Alltag geht es nicht um Gleichbehandlung oder um eine abstrakte Fläche. Im Alltag in der Stadt geht es schlicht um Macht. Man kann lange von Fairness und Gleichbehandlung reden – wenn ich mich als Velofahrer einem zwei Tonnen schweren Auto aus Blech und Hartplastik gegenüber sehe, spielen all die schönen Worte keine Rolle mehr. Ich muss ausweichen, weil mir mein Leben lieb ist. Im Alltag spielt sich auf unseren Strassen ein Machtkampf um die Fläche ab, den das Auto immer gewinnt, weil es grösser, stärker, schwerer, härter – kurz: gefährlicher ist.

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Autos sind in den letzten Jahren immer breiter geworden. 1990 war ein Auto ohne Rückspiegel im Schnitt noch 1,679 Meter breit, heute sind es 1,802 Meter. Eines der breitesten Autos auf den Schweizer Strassen ist übrigens das Model X von Tesla: Es ist ganze 2070 mm breit.[7] Zu breit für viele Fahrspuren in der Stadt. Einem Tesla oder einem andere, dicken Auto ist das egal. So eine dicke Karre nimmt sich den Platz einfach, ganz egal, ob da eine Velospur eingezeichnet ist oder nicht. Besonders schlimm ist das auf Einbahnstrassen, in denen Velofahrer im Gegenverkehr fahren dürfen.[8] Als Velofahrer hat man keine Wahl: Man muss ausweichen. Velofahrer und Fussgänger sind immer die schwächsten Verkehrsteilnehmer. Was heisst Gleichbehandlung unter diesen Voraussetzungen?

Manchmal bleibt einem nur die Wut

Das ist übrigens auch der Grund, warum VelofahrerInnen und FussgängerInnen manchmal aggressiv werden. Wenn man sich als verletzlicher Mensch aus Fleisch und Blut so einer tonnenschweren Blechkarre gegenüber sieht und nichts anderes machen kann, als sich mit einem Sprung aufs Trottoir zu retten, wenn man von der Strasse abgedrängt wird und sich neben den immer dickeren Autos keinen Platz mehr findet für das Velo, dann bleibt einem manchmal nur die Wut. Die Wut, die sich einstellt, wenn man die Angst und den Schrecken überstanden hat, den die Zivilisationspanzer im Morgenverkehr verbreiten.

Denn Autos sind eigentlich eine unmenschliche Angelegenheit. Das sieht man schon daran, mit wie vielen Verkehrsregeln sie eingehegt werden müssen. Fussgänger und Velofahrer bräuchten in einer Stadt kaum Regeln. Oder haben Sie schon einmal das Bedürfnis verspürt, die Geschwindigkeit von Fussgängern zu beschränken oder ihnen Vortrittsregeln zu geben? Regeln, Beschränkungen und scharfe Linien braucht es, weil Autos in einer Stadt voller Menschen eigentlich viel zu gefährliche Getüme sind. Fussgänger und Velofahrer sind immer schwächer. Was heisst unter diesen Umständen Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer?

Das «faire Miteinander», von dem die Initiativen träumen, gibt es deshalb nicht – so wenig, wie es ein faires Miteinander zwischen Katzen und Mäusen gibt oder zwischen Boule-Kugeln und Pingpong-Bällen. Nein: Auf unseren Strassen, in unseren Städten spielt sich ein Kampf ab. Ein Kampf um die Fläche – und damit ein Kampf um die Macht in der Stadt. Menschen aus verletzlichem Fleisch und Blut haben in diesem Kampf gegen Maschinen aus Blech keine Chance. Es sei denn, wir eilen den Menschen mit Regeln und Gesetzen zu Hilfe. Deshalb sind Wohnstrassen wichtig, Tempo-30-Zonen und geschützte Velowege. Wir müssen die Menschen in den Städten vor den Autos schützen, damit sie nicht unters Auto kommen. Darum geht es in der Stadt.

Basel, 31. Januar 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©Sergiy Serdyuk – stock.adobe.com

[1] Informationen über die beiden Initiativen gibt es hier: https://zaemme-besser.ch/die-initiativen/

[2] Masse gemäss der in der Schweiz gültigen VSS Norm – siehe etwa hier: https://www.buk.arch.ethz.ch/Dokumentation/Parkieren

[3] Siehe Handbuch Veloparkierung des Astra: https://www.astra.admin.ch/dam/astra/de/dokumente/langsamverkehr/lv_v07_veloparkierung-handbuch2008.pdf.download.pdf/lv_v07_veloparkierung-handbuch2008.pdf

[4] 12,5 / 1,5 = 8,33

[5] Siehe Mikrozensus Verkehr des Bundesamts für Statistik, verfügbar hier: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/mobilitaet-verkehr/personenverkehr/verkehrsverhalten.html

[6] Hier finden Sie den Flächenvergleich: https://www.zukunft-mobilitaet.net/78246/analyse/flaechenbedarf-pkw-fahrrad-bus-strassenbahn-stadtbahn-fussgaenger-metro-bremsverzoegerung-vergleich/

[7] Über die Breite von Autos habe ich hier bereits ausführlich geschrieben: https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/fuer-eine-stadt-mit-menschlichem-mass/

[8] Ich erlebe das fast jeden Morgen in Basel auf der Peter Merian-Strasse zwischen Nauenstrasse und St. Jakob-Strasse.

5 Kommentare zu "Wem gehört die Stadt?"

  1. Ganz wichtig: Auto nicht gegen Velos, Velos nicht gegen Fussgänger usw. ausspielen.
    Es braucht wirklich beides: Wenn alle Velofahrer das Auto nähmen, könnten wir morgens gleich zu Hause bleiben.
    Doch 50% der Autos fahren nicht zum Spass herum: Vom mobilen Blutspende-Bus über all die Handwerker und Zulieferer, ohne die nichts geht – nicht mal ein Bier käme noch zum Zapfhahn raus, die mondänen (umweltfreundlichen) Neu- und Umbauten könnten alle nicht realisiert werden, die freiwilligen Fahrer für Ältere oder der BFT im Dreispitz für Gebrechliche….
    Wie sagt SBB-Chef Meier: „Mobilität ist heute ein Ineinanderspielen. Die SBB verkauft Flixbus-Tickets nach München, beteiligt sich an Auto-am-Bahnhof und pusht die Leihvelos und Trottistationen.“ Das Eine gegen das Andere ausspielen ist heute falsch – empfinde ich.

    1. Wer will denn das eine gegen das andere ausspielen? Die Frage ist doch, wie im Kommentar geschildert, was Gleichberechtigung heisst, wenn es um so unterschiedliche «Partner» geht wie ein zwei Tonnen schweres Auto aus Metall und einen Menschen aus Fleisch und Blut. Dazu kommt noch der Flächenvergleich: Was heisst Gleichberechtigung in Bezug auf die knappen Flächen in der Stadt? Doch wohl gleich viel Fläche für alle Teilnehmer, oder?

    2. Richtig, 50% der Autos fahren nicht zum Spass. Heisst aber, dass die anderen 50% der Autos zum Spass unterwegs sind oder sagen wir aus Gründen des Komforts, der Bequemlichkeit. Würden diese 50% auf andere Verkehrsmittel umsteigen, dann hätten wir keine Staus und die Verkehrsflächen könnten problemlos zugunsten anderer Verkehrsmittel verteilt werden.
      Ich habe übrigens bei einer grossen Basler Firma eine Umfrage gemacht. 3000 Mitarbeitende haben daran teilgenommen. 60% der Mitarbeitenden, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, haben angegeben, dass sie eigentlich nicht auf das Auto angewiesen wären.

  2. Mit dem Verkehr scheint es ähnlich wie mit dem Klima. Eigentlich ist spätestens seit den 1970er-Jahren bekannt, dass es grundsätzlich so nicht mehr gut weitergehen kann, wenn es so weitergeht, wie es dann doch immer noch weitergegangen ist. Und ähnlich wie lokal und regional beim Verkehr zum „Platzverteilk(r)ampf“, der in diesem Wochenkommentar beschrieben ist, wird es nach dem gierigen und rücksichtslosen Handlungsmodell „Konkurrenz belebt das Geschäft … und mit Verlusten muss gerechnet werden“ infolge der Klimazerstörung auch global zu Ressourcenverteilkämpfen kommen.

  3. Ganz unabhängig von den Initiativen des Gewerbeverbandes: Mein Vorschlag für die Gleichstellung aller Verkehrsteilnehmer wäre Tempo 30 für alle auf dem ganzen Kantonsgebiet, ausgenommen es bestehen exklusive Verkehrsflächen wie etwa Autobahnen, Velowege oder separate Tramtrassen. Das würde wegen der geringen Tempounterschiede für einen flüssigeren Mischverkehr sorgen und zudem das Unfallrisiko für E-Bikes reduzieren.

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