Ein kleiner Weihnachtskommentar

Publiziert am 23. Dezember 2015 von Matthias Zehnder

Die Bilder und Berichte über syrische Flüchtlinge erinnern mich seit Tagen immer wieder an die Weihnachtsgeschichte. Erst hat mich das irritiert. Was haben syrische Flüchtlinge schon mit Maria und Josef und dem Jesulein gemeinsam? Dann habe ich die Weihnachtsgeschichte noch einmal gelesen – und gestaunt. Nein, Sie müssen nicht gläubig sein und auch kein Christ, um diesen Kommentar zu lesen. Denn die Weihnachtsgeschichte, wie sie seit hunderten von Jahren im „Abendland“ erzählt wird, ist so tief mit unserer Kultur verwoben, dass wir auf jeden Fall von ihr beeinflusst sind, ob wir nun daran glauben oder nicht.

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Die Weihnachtsgeschichte also. Die Hauptfiguren sind Josef und Maria aus Nazareth, einem Ort, der heute, nur rund 130 Kilometer von der syrischen Hauptstadt Damaskus entfernt, nahe der syrischen Grenze liegt. Josef war „tekton“ von Beruf: Bauhandwerker. Martin Luther übersetzte das griechische Wort mit „Zimmermann“. Das stimmt wohl so nicht, denn in Obergaliläa gab es kein Holz. Also war Josef (und mit ihm sein Sohn Jesus) wohl Steinmetz auf Montage, beschäftigt vermutlich auf der Grossbaustelle in der Region Nazareth, dem Wiederaufbau der Stadt Sepphoris. Bis 19 n. Chr. war das die Hauptstadt von Herodes Antipas, dem „König Herodes“ aus der Weihnachtsgeschichte. In dieser Geschichte erhalten Josef und Maria nach der Geburt von Jesus Besuch von den heiligen drei Königen. In der Bibel werden sie als „Magier“ aus dem Osten bezeichnet. Vermutlich waren es persische oder chaldäische Sterndeuter, also gebildete Männer aus dem Gebiet des heutigen Iran, Irak oder Syrien.

Fassen wir kurz zusammen: An der Krippe standen syrische, irakische oder iranische Gelehrte, die den neu geborenen Sohn eines Bauarbeiters aus dem syrischen Grenzgebiet besuchten. Wer dieser Szene im Jahr 2015 in der Schweiz nahe sein will, muss ein Flüchtlingslager besuchen. Da sind Menschen, die recht genau aus dem Gebiet kommen, in dem die heilige Geschichte spielt. Wer sich Josef und Maria vorstellen will, sollte sich also in einer Flüchtlingsunterkunft ein junges syrisches Paar anschauen. Ob sich der eine oder andere dessen bewusst ist, wenn er mit der Weihnachtsgans im Bauch die Krippe unter dem Weihnachtsbaum betrachtet?

Auch die Situation der syrischen Flüchtlinge in der Schweiz erinnert an die Weihnachtsgeschichte: an Maria und Josef, die vergeblich bei mehreren Wirten anklopfen und um Unterkunft bitten. Doch sie werden rüde abgewiesen. In der Zeller Weihnacht zum Beispiel, dem bekanntesten Schweizer Krippenspiel, tönt das so: „Landstreicher haben uns gerade noch gefehlt. Fort mit euch, aber rasch!“ sagt der erste Wirt und: „Zimmer haben wir schon noch, aber nur für Leute, die auch zahlen können!“ der zweite. Kinder mögen sich im Krippenspiel mit Maria oder Josef, mit einem Engel oder einem Hirten identifizieren – die Erwachsenen müssten sich eigentlich von den bösen Wirten angesprochen fühlen.  Viele Schweizer verhalten sich nämlich Flüchtlingen gegenüber genauso abweisend wie der Wirt in der Weihnachtsgeschichte gegenüber Maria und Josef.

Wie ein Wirt allerdings, der schlecht rechnen kann. Denn wenn unser Wirt schon ökonomisch denkt, dann sollte er es richtig tun: Viele syrische Flüchtlinge kommen nur nach Europa, weil es ihnen im Libanon, in Jordanien, in Aegypten und in der Türkei so schlecht geht. Dem Uno Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) fehlt nämlich das Geld, die Flüchtlinge vor Ort zu versorgen. 4,3 Milliarden Dollar hätte das UNHCR im Jahr 2015 für die Betreuung der syrischen Flüchtlinge benötigt. Die Weltgemeinschaft hat aber nur die Hälfte eingezahlt. Es fehlen über zwei Milliarden Dollar. Weil die Flüchtlinge in den Nachbarländern von Syrien nicht mehr betreut werden können, machen sie sich auf den gefährlichen Weg nach Europa.

Mittlerweile sind laut UNHCR rund 4,4 Millionen Syrier auf der Flucht. Etwa jeder fünfte syrische Flüchtling macht sich auf den Weg nach Europa. Die Mehrheit bleibt in den Nachbarländern. Noch. António Guterres, der Uno Hochkommissar für Flüchtlinge, wandte sich am Montag in einem dramatischen Apell an den Uno-Sicherheitsrat. Die Weltgemeinschaft müsse rasch handeln. Guterres verglich die Bürgerkriege in Syrien und im Irak mit den Religionskriegen, die im 16. und 17. Jahrhundert Europa verwüsteten. Wenn nicht rasch Geld fliesse und nicht bald Frieden einkehre in der Region, höre Syrien auf zu existieren. Geld tut also Not.

Doch dieselbe Partei, die immer vor dem Asylchaos warnt, will die Gelder für Entwicklungszusammenarbeit massiv kürzen. Ende 2014 blitzte die SVP mit einem Vorstoss noch ab, der eine Halbierung der Entwicklungshilfe forderte. Am 3. Dezember 2015 kürzten FDP und SVP gemeinsam die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit um 130 Millionen Franken. Seit Monaten wehrt sich die SVP gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und propagiert die Hilfe vor Ort, kürzt dann aber bei der erstmöglichen Gelegenheit die Gelder dafür. Das tönt wirklich nach dem bösen Wirt im Krippenspiel.

Doch halt: Im Krippenspiel gibt es noch einen dritten Wirt. Dessen Hotel ist zwar auch voll belegt, aber er hat Mitleid mit dem jungen aramäischen Paar, das vor ihm steht und bietet als Notlösung seinen Stall an. Zwar stehen da schon ein Ochs und ein Esel, aber immerhin hat es warmes Heu und sauberes Stroh. Und ohne diesen Wirt, der Maria und Josef seinen Stall anbietet, wäre es nicht zur Weihnachtsgeschichte gekommen. Wir Schweizer können also aufatmen: Wir dürfen Wirte bleiben und weiterhin ökonomisch denken, wenn wir dabei das Herz nicht ganz aufgeben.

Wenn wir aber ökonomisch denken, dann sollte die Schweiz dem UNHCR rasch Geld für Direkthilfe an syrische Flüchtlinge zur Verfügung stellen. Statt immer darüber zu meckern, dass die EU bei der Bewältigung der syrischen Flüchtlinge nicht recht arbeite, könnte die Schweiz vorangehen und Geld für die Hilfe vor Ort eintreiben. Ein möglicher Akteur dafür würde sich in der Schweiz, sogar in Basel befinden: die Bank für internationalen Zahlungsausgleich. Nehmen Sie sich also den guten Wirt in der Weihnachtsgeschichte zum Vorbild und helfen Sie dem UNHCR.

mz@matthiaszehnder.ch

 

Quellen:

Annette Großbongardt, Dietmar Pieper (Hrsg.): Jesus von Nazareth und die Anfänge des Christentums. Ein Spiegel-Buch. DVA, 2012, ISBN: 978-3-421-045997

UNHCR Syria Regional Refugee Response

 

14 Kommentare zu "Ein kleiner Weihnachtskommentar"

  1. Herr Bundesrat Maurer spricht von IS-Kämpfern, die eingeschleust werden. Kennt er einen konkreten Fall oder ist auch das wieder ein pauschaler Kommentar, um die Türen unseres Landes, unserer Häuser zu schliessen? Ängste gegen Hilflose zu produzieren? Warum sind die Flüchtlinge bei uns so „unter Verschluss“, dass es kaum Berührungspunkte gibt? Wie können wir so eine Willkommenskultur aufbauen, unsere Türen öffnen?

  2. Als eine etwas andere Weihnachtsüberraschung habe ich heute d en ersten freien Wochenkommentar erhalten: ich habe ihn in meinem Netzwerk «Bildung&Raum» an um die 400 Kolleginnen und Kollegen in der Schweiz und in Europa weiter verbreitet.

    1. Als einer der 400 bedanke ich mich – lieber Ueli – bei dir für den Weihnachtskommentar von Matthias Zehnder.
      Was ist zu tun? Was kann ich tun?
      Noch leben „nur“ 30 Syrer in einem Haus mitten in Denzlingen. Aber man sieht und hört nichts von ihnen. Die Klingelanlage ist mit Namenszetteln bestückt.
      Wer sind denn diese Menschen, was machen sie den ganzen Tag, und was wollen sie in Denzlingen?
      Alle Cleverle, die zu mir kommen, haben eine eigene Internetseite, wo sie sich, ihre Aktivitäten und Projekte, präsentieren.
      Also kam ich auf die Idee, „Flüchtlings-Cleverle“ könnten sich ebenso präsentieren. Die Internetseiten könnten von cleveren Schülern gestaltet werden.
      Wenn dann jemand wissen will, wer hinter den Namensschildern steckt, klickt diese an, und schon hat man den ersten „Kontakt“ zu den Migranten aufgenommen. Anhand der im Laufe der Zeit realisierten Aktivitäten und Projekte, lernt man die einzelnen „Fremden“ näher kennen, und kann nun, wenn man jemand interessantes findet, einen persönlichen Kontakt aufnehmen.
      Ebenso können Firmen etc. sich ein Bild von den Asylbewerbern machen, um ggf. mal jemand probeweise zu beschäftigen.
      Meine Idee geht noch ein bischen weiter: Unsere Kinder brauchen doch vielfältigste Möglichkeiten, ihre individuellen Potenziale zu entfalten. Wenn sich nun dazu diese Menschen aus anderen Kulturen mit ihren Kompetenzen bereit erklären würden, und wir ihnen dazu geeignete Mittel zur Verfügung stellen würden, könnten sich ganz dynamische Netzwerke entwickeln, und der „Integrationsprozess“ durch Verwurzelung in unserer Gesellschaft stattfinden.

  3. Diese aktualisierte Weihnachtsgeschichte hätte ich gerne in einer journalistisch gemachten Zeitung gelesen. Aber die sind rar wie ökonomisch denke Wirte mit einer sozialen Ader. Aber danke für die Fortsetzung der lesenswerten Wochenendkommentare.

  4. Lieber Herr Zehnder
    Ihre Weihnachtsgeschichte habe ich ausgedruckt, damit ich sie später lesen kann. Das habe ich auch jeweils gemacht, wenn ein Kommentar von Ihnen in der bzBasel erschienen ist, bezw. ich habe ihn ausgeschnitten. Ich bin sehr erfreut, dass wir weiterhin Artikel auf Ihrer Webseite lesen können.
    Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Ihre Artikel waren für mich immer kleine Sternstunden.

  5. Lieber Herr Zehnder,

    schön, dass wir Ihre Gedanken in Ihren interessanten Artikeln weiterhin lesen dürfen.
    Das macht Ihren Weggang bei der bz etwas weniger schmerzlich, obwohl wir Sie dort, natürlich nicht nur wegen Ihrer Artikel, sehr vermissen werden.
    Vielen Dank!!!!

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