Was der Dieselskandal Sie (und mich) angeht

Publiziert am 4. August 2017 von Matthias Zehnder

Der Dieselgipfel diese Woche war der Gipfel des Dieselskandals. Nicht, weil so viel dabei herausgeschaut hat, sondern weil es so wenig war. Ein neuer Gipfel der Dreistigkeit. Das geht uns alle an. Nicht nur der schlechten Luft wegen, welche die Autoindustrie weiterhin verbreitet, sondern vor allem der Gründe wegen, warum sie das darf: Die Autoindustrie ist in Deutschland zu wichtig. Sie geniesst politischen Heimatschutz und der fällt ihr jetzt auf den Kopf. Und bei uns? In der Schweiz sind Autoindustrie und Politik gottlob nicht so stark verzahnt wie in Deutschland. Aber andere Branchen sind es.

Diesel stinkt. Vielleicht in Deutschland bald ein kleines bisschen weniger, aber immer noch heftig. Die deutsche Regierung hat sich nicht getraut, der deutschen Autoindustrie die Daumenschrauben anzulegen. Dies, obwohl die Industrie Staat und Bürger jahrelang betrogen hat. Diesel-Autos vor allem von VW, aber auch von anderen Herstellern, haben in den vergangenen Jahren deutlich mehr giftiges Schwefeldioxids ausgestossen, als die Industrie behauptete.

Trotzdem passiert nicht viel. Der Gipfel des Skandals war der Diesel-Gipfel diese Woche. Denn der Gipfel hat fast nichts gebracht. Die Chefs von Volkswagen, Porsche, Audi, Mercedes, BMW sowie Opel und Ford in Deutschland trafen sich mit Verkehrsminister Alexander Dobrindt(CSU) und Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Die Parteien einigten sich darauf, dass die Autohersteller Diesel-Fahrzeuge mit einer Software-Aktualisierung sauberer machen. Es geht dabei um fünf Millionen Autos der Euro-5- und Euro-6-Norm.[1]

Politik mit massiven Beisshemmungen

Das ist ein Witz. In den fünf Millionen Fahrzeugen sind 2,5 Millionen Autos von VW eingerechnet, für die Abgasnachbesserungen schon lange angeordnet wurden. Das Nachbessern der Software wird etwas bringen, aber nie die geforderte Senkung der Emissionen von 20 bis 30 Prozent. Nur ein Umbau der «Hardware» würde wirklich etwas bringen, also ein Einbau einer Abgasreinigung mit Harnstoffeinspritzung. Die Politik hat, so scheint es, die Autoindustrie in Deutschland einmal mehr mit Samthandschuhen angefasst.

Der Spiegel bezeichnet denn auch Verkehrsminister Dobrindt als Deutschlands oberster Dieselfreund. Beobachter sind sich einig: Die Politik handelt zahnlos und planlos. Dabei sind die Samthandschuhe schon lange nicht mehr im Interesse der Industrie. Die hat nämlich inzwischen ein gröberes Vertrauensproblem. Die Zeitschrift «Auto Bild», nicht grade bekannt für kritischen Umgang mit der Branche, hat deshalb einen Sieben-Punkte-Plan vorgeschlagen.[2] Der Plan ist hart und würde die Industrie viel Geld kosten – aber er würd das Vertrauen der Konsumenten sichern. Wie kommt es, dass sogar eine Autozeitschrift in der Autopolitik mehr Biss hat als die Umweltministerin?

Zu wichtig, um reguliert zu werden

Das Problem ist: Die Automobilindustrie ist für Deutschland wichtig. Zu wichtig. 2016 waren über 800’000 Personen in der Autoindustrie beschäftigt.[3] Arbeitsplätze aber sind in der Politik ein Totschlagargument. Das gilt besonders im Bundesland Niedersachsen, wo das Land mit über 20 Prozent der Aktien an Volkswagen beteiligt ist. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil und Wirtschaftsminister Olaf Lies (beide SPD) sitzen sogar im Aufsichtsrat von Volkswagen. Keine gute Ausgangslage für eine harte Auto-Politik.[4]

Sogar für die Grünen steht das deutsche Auto über allem – wenigstens für Grüne wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann. In seinem Bundesland produzieren Daimler und Porsche. Jeder fünfte Arbeitsplatz hängt von der Autoindustrie ab. Für die regierenden Grünen ist das wichtiger als die Umwelt. Deshalb kam es vergangene Woche vor Gericht zu einem seltsamen Treffen: Die deutsche Umwelthilfe setzte gegen die grün geführte Landesregierung durch, dass in Stuttgart künftig Fahrverbote erlassen werden, wenn die Luft schlecht ist.[5]

Heimatschutz ist auf Dauer schädlich

Die Autoindustrie also ist in Deutschland so wichtig, dass sich die Politik ihr unterordnet. Das mag kurzfristig für die Autobauer interessant sein, langfristig ist der Generalschutz nicht bekömmlich. Für VW, Porsche, Audi, Mercedes oder BMW wäre es besser gewesen, wenn schon länger härter kontrolliert worden wäre. Politischer Druck kann auch für Innovation sorgen. Der Heimatschutz hat dafür gesorgt, dass die deutschen Autobauer träge wurden und mit grosser Verspätung ins Rennen um das E-Auto gestiegen sind.

Was heisst das für uns? Für die Schweiz? Für Sie und mich? Ich meine nicht die dreckige Luft, die Autos produzieren. Es sollte selbstverständlich sein, dass die Autobauer und Autoverkäufer zur Verantwortung gezogen werden. In unserer Bundesverfassung steht (Artikel 74): Der Bund erlässt Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen. Er sorgt dafür, dass solche Einwirkungen vermieden werden. Die Kosten der Vermeidung und Beseitigung tragen die Verursacher. Es ist mir ein Rätsel, warum als schädlicher Autofeind bezeichnet wird, wer das einfordert.

Unsere Autos sind die Medikamente

Nein, ich meine das grundsätzliche Problem, das Deutschland mit seiner Autoindustrie hat. Mit einer Industrie, die so mächtig ist, dass die Politik sich nach ihr richtet. Auch in der Schweiz gibt es solche Branchen. Industrien, die mit Argumenten wie Steuereinnahmen und Arbeitsplätze alle anderen Argumente wegfegen können. Beispiele sind die Pharmaindustrie in Basel. Die Banken in Zürich. Die Uhrenindustrie im Jura. Die Anwälte in Zug. Die Rohstoffbranche in Genf. Diese Industrien stehen unter Heimatschutz.

Der Dieselskandal lehrt uns, dass wir diesen Branchen einen Bärendienst erweisen, wenn wir sie unter bedingungslosen Schutz stellen. Denken Sie daran, wenn Ihnen das nächste Mal ein Politiker (oder ein Manager) mit dem Totschlagargument Arbeitsplätze kommt. Oder mit den Steuereinnahmen. Die besten Politiker (und die besten Manager) konnten nicht verhindern, dass die meisten Kutscher Anfang des 20 Jahrhunderts ihren Job verloren. Oder die Telegraphenbeamten. Oder die Heizer auf den Lokomotiven. Die mächtige Eisenbahnergewerkschaft in England setzte einst durch, dass auch auf E-Loks ein Heizer mitfahren musste. Verhindern konnte sie die E-Lok nicht. Bloss aufhalten – zum Schaden aller.

Ein Schweizer war beteiligt

Erinnern Sie sich übrigens noch, wer den Abgasskandal aufgedeckt hat? Nein, das waren keine deutschen Wissenschaftler und auch nicht der deutsche TÜV. Das war 2016 eine Forschungsgruppe der amerikanischen West Virginia University.[6] Beteiligt war übrigens auch ein Schweizer: Dr. Marc Ciryll Besch, der ursprünglich an der Universität Bern studierte und dann an der West Virginia University seinen Doktor in Mechanical Engeneering machte. Zusammen mit seinem Team hat er mit bescheidenem Budget (aber viel Enthusiasmus) die Lawine ausgelöst, unter der die mächtige, deutsche Autoindustrie jetzt begraben wird.

Also, liebe Schweizer Politiker (und Medien) – statt immer nur nach Stuttgart und Wolfsburg zu schielen und um Arbeitsplätze (und Inserateumsätze) zu fürchten, schaut doch mal nach Morgantown, West Virginia, und berichtet etwas weniger über Dieter Zetsche und Matthias Müller und etwas mehr über Menschen wie Marc Besch. Langfristig ist das für uns alle gesünder.

Basel, 4. August 2017, Matthias Zehnder; mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jede Woche ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar und einen Buchtipp. Einfach hier klicken.

Quellen:

[1] Vgl. http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/dieselgipfel-was-bringen-die-beschluesse-von-berlin-dem-verbraucher-a-1161080.html

[2] Vgl. http://www.autobild.de/artikel/abgasskandal-loesungsvorschlaege-12441441.html

[3] Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/30703/umfrage/beschaeftigtenzahl-in-der-automobilindustrie/

[4] Vgl. https://www.rbb-online.de/kontraste/archiv/kontraste-vom-24-11-2016/niedersachsens-ministerpraesident-im-interessenskonflikt.html

[5] Vgl. http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-07/gruene-diesel-skandal-autoindustrie-wende

[6] Vgl. https://www.nytimes.com/2016/07/25/business/vw-wvu-diesel-volkswagen-west-virginia.html?_r=0

3 Kommentare zu "Was der Dieselskandal Sie (und mich) angeht"

  1. Bei der Aufzählung mit den Branchen, die von der Politik geschützt sind, fehlt der Flugverkehr. So kann beispielsweise der Verwaltungsrat vom EuroAirport ungehemmt immer noch mehr Flugzeuge über unsere Köpfe krachen lassen. Wohl wissend, dass sie erwiesenermassen nicht nur enorm gesundheitsschädigenden Lärm machen, sondern mit ihren CO2-Emissionen unser Klima immer noch mehr zerstören. Der EuroAirport tut dies mit dem Segen, oder zumindest mit dem Stillschweigen der gängigen Politik von Links bis Rechts. Für die Mehrheit gilt auch hier das Totschlagargument Arbeitsplätze und die Unschuldsvermutung. Das Motto lautet: Niemand kann etwas tun, und niemand kann nichts dafür. Längst zeigt sich auch die Politik als ein Teil vom System der neoliberal befreiten Wirtschaft, die sozusagen hemmungslos gemäss einer kollektiv organisierten Verantwortungslosigkeit agiert. Es scheint mir, dass damit alles ausser Kontrolle geraten ist, und ich glaube, dass uns grosse Schwierigkeiten bevorstehen.

    1. Herr Ueli Keller schrieb gut. Gefallen hat mir: „Totschlagargument Arbeitsplätze“.
      Dieses gilt fast überall:
      Guy Morin (Grüne) förderte den Flughafen Basel ohne Rücksicht auf Verluste. Allschwiler dürfen nur noch von 24 bis 05 Uhr schlafen (Nachtflugverbot).
      Guy Morin (Grüne) spannte an der Weltausstellung in Mailand für den Tourismusstand von Basel die Syngenta ein (Hauptsache es wird bezahlt)
      Linke beklagen die Globalisierung (Jean Ziegler SP Genf), öffnen aber Tür und Tor für freie Verschiebung von (billigen) Arbeitskräften gegen (noch billigere) Arbeitskräfte und für grenzenloses Europa und schrankenlose Güterverschiebung.
      Die FDP fördert das Bauen (Implenia usw) ohne Rücksicht auf Landschaftsverlust und Totalverbetonierung der Schweiz, bei welcher wir hier und heute ca. im letzten Viertel stehen
      Und die CVP fördert die Umwelt (BR Leuthard) ohne nur ein bisschen die Wirtschaft einzuschränken und wehzutun. Wahrlich eine göttlich-christliche Aufgabe von der unsere hiesige Natur und Tierwelt nichts hat….
      CVP Schneider Schneiter (BL) ist für die Energiestrategie, bürstet aber anstelle von Geissen auf einer Alp in ihren Ferien lieber Elefanten in Myanmar und profitiert von den gesammelten Flugmeilen.
      Die SVP hingegen stemmt sich. Auch wenns mal der Wirtschaft wehtut. Keine unbegrenzte Einwanderung, das Volk und nicht die Wirtschaftskapitäne sollen entscheiden, wenn Zuviel zuviel ist. Bravo.
      Kündigung der Bilateralen nicht ausgeschlossen – auch wenns der Wirtschaft schaden könnte – SVP Politiker sind dem Land, den Leuten, dem Gemeinwohl und nicht nur Chefs-CEOs hörig. Bravo.
      Und das Gemeinwohl sinkt, haben wir keinen hiesigen freien Boden mehr, auf dem Kinder spielen können und man Luft zum „dureschnuufe“ hat.
      Die SVP war auch gegen den EWR-Beitritt. Entgegen allem Geldadel und allen KMU´s. Bravo. Das nenne ich Rückgrat. Wie sähe die Schweiz wohl ohne diesen Entscheid aus….
      Beispiele der SVP gegen die Wirtschaft, die Elite, die „uferlose Entwicklung ohne Schranken“, das ewige „immer-mehr“, das nie endlich ist – gibt’s genug. Man schaue sich nur die letzten Abstimmungssonntage rückwirkend an.
      Im Wissen, das auch die SVP schon umweltschädigende Parolen fasste, muss ich aber rückblickend sagen: Diese Partei tat in letzter Zeit mehr für den Umweltschutz bei uns als alle andern Schaumschläger in Bern zusammen.
      Sicher jedoch mehr wir ein „Grüner“ Guy Morin, welcher ein wirbelloser Säuger gegenüber der Chemie, Bauindustrie, Airportindustrie war (und ist)….
      Zum Abschluss krönt noch ein hochstehender Satz, der sich immer gut macht, von Ueli Keller meinen Beitrag: „Es scheint mir, dass damit alles ausser Kontrolle geraten ist, und ich glaube, dass uns grosse Schwierigkeiten bevorstehen.“ Wie recht er leider hat.

  2. Die Grundsatzfrage, die Matthias aufwirft, ist unser Alltag: wie schränken wir unverhältnismässiges Lobbying ein? Die SVP war immer mit UBS zu sehen; die Fasnächtsbilder von Ospel und Blocher auf der Vorderseite der damaligen BaZ sind unvergessen. Die SVP hat uns unbeschreiblich geschadet, und würde es immer noch tun; aber allmählich kehrt sich das Blatt. Immerhin, sie hat Bankgeheimnis, Abbau der Regulierung im Bankenwesen, und vieles mehr zu Gunsten der Finanzwirtschaft nach Kräften und unter Auszahlung grosser finanzieller Gegenleistung unterstützt. Die FDP war immer bereit, ‚Arbeitsplätze‘ zu schreien, wo sie ‚Gewinn für die Grossen‘ gemeint hat. Dafür haben wir immer noch Missbräuche wie Eigenmiete, die eine gesunde Volkswirtschaft als Unsinn abtun würde; diese Parteien lassen aber ihre Finger davon, die vermeintlichen Interessen ihre Geschäftsfreunde zu berühren. Heute sind sie dagegen daran, im Auftrag der ‚Wirtschaft‘ und ihre Verbände, die Rentenreformvorlage zu verhindern.

    Matthias hat nochmals gezeigt, was passiert, wenn die Freiheiten der Grossen ausser demokratische Kontrolle geraten. Checks und Balances, gesunde Ausgleiche, im politischen Prozess, und ein wachsames Volk, sind immer die beste Lösung. Zu starke Wirtschaftlobbies gefährden jede Demokratie.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.