Warum wir einen neuen Arbeitsbegriff brauchen

Publiziert am 15. Februar 2018 von Matthias Zehnder

Über hundert Jahre nach der Industrialisierung definieren wir Arbeit immer noch als Mühsal und messen sie in Zeit. Dabei ist längst klar: Arbeit hat sich verändert. Zeit ist eine schlechte Messgrösse. Und Mühsal? Bitte nicht. Was wir brauchen, ist mehr Sinn in der Arbeit. Dann spielt die Arbeitszeit keine Rolle mehr. Doch die Politiker bleiben im 19. Jahrhundert stecken.

Ein Arbeitstag darf in der Schweiz bald 17 Stunden lang sein: Die Wirtschaftskommission des Nationalrats hat der parlamentarischen Initiative von FDP-Nationalrat Thierry Burkart Folge gegeben. Der Vorstoss fordert, dass Arbeitnehmer, die ihre Arbeitszeiten zu einem namhaften Teil selber festsetzen können, ihre Arbeit auf bis zu 17 Stunden verteilen können. Gelegentliche Arbeitsleistungen von kurzer Dauer sollen die Ruhezeit nicht unterbrechen. Zudem fordert Burkart, dass für diese Arbeitnehmer künftig keine Bewilligung mehr erforderlich ist für Sonntagsarbeit.[1]

In die Praxis übersetzt heisst das: Wenn ein Arbeitnehmer morgens um 7 Uhr mit der Arbeit beginnt, dürfte er sich zu Hause auch nach 22 Uhr noch einmal an den Computer setzen. Die Ruhepause würde nicht als unterbrochen gelten, wenn unser Arbeitnehmer eine Mail schreibt und wenn er will, darf er daheim auch am Sonntag arbeiten. Burkarts Anliegen ist populär: Über 100 bürgerliche Nationalräte unterstützen den Vorstoss. Jetzt liegt der Vorstoss auf dem Pult der Wirtschaftskommission des Ständerats. Es gilt als wahrscheinlich, dass sich dort ebenfalls eine Mehrheit für eine Anpassung des Gesetzes an die flexible Arbeitswelt finden wird, schreibt die NZZ.[2]

100 Jahre nach dem Landesstreik

Der Vorstoss von Burkart kommt zu einem historisch bedeutsamen Zeitpunkt: Vor 100 Jahren haben die Schweizer Arbeiterinnen und Arbeiter am Landesstreik von 1918 unter anderem für die 48-Stunden-Woche gekämpft. Ein Anliegen, das im bürgerlichen Bundesrat und im ebenso bürgerlichen Parlament auf völliges Unverständnis stiess, ja als Affront empfunden wurde. Damals üblich war eine Wochenarbeitszeit von im Schnitt 59 Stunden. Obwohl das Oltener Aktionskomitee den Streik abbrechen musste, nachdem die Schweizer Armee mehrere streikende Arbeiter erschossen hatte, gelang es bereits 1919, durch Absprachen und Gesetze in der Industrie, im öffentlichen Dienst und in einigen Gewerbezweigen die 48-Stunden-Woche durchzusetzen.[3]

100 Jahre später haben wir natürlich längst die 40-Stundenwoche – oder? Falsch: Artikel 9 des Arbeitsgesetzes beziffert die wöchentliche Höchstarbeitszeit in der Schweiz auf 45 Stunden pro Woche für Arbeitnehmende in industriellen Betrieben, Büropersonal, Angestellte und Verkaufspersonal in Grossbetrieben des Detailhandels und für 50 Stunden pro Woche für alle übrigen Arbeitnehmenden.[4] Zwar arbeiten viele Arbeitnehmer, die einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt sind, deutlich weniger. Der gesetzliche Rahmen hat sich in den letzten Jahren aber kaum verändert.

Mühsal, Last und Not

Und nicht nur das Gesetz ist stehen geblieben: Auch unser Begriff von Arbeit ist tief im 19. Jahrhundert stecken geblieben. Oder sogar im Mittelalter: Das Wort Arbeit hat im Mittelalter passiv erlittener Mühsal, Last und Not sowie mühevolle Anstrengung bedeutet, schreibt Dorothee Rippmann im Historischen Lexikon der Schweiz.[5] In der Reformation überhöhten Huldrych Zwingli und vor allem Johannes Calvin die Arbeit zum Gottesdienst: Unter den Reformatoren wurde Arbeit zur Berufung des Menschen. Wer nicht arbeitet, ist nicht wirklich Mensch. Arbeitslosigkeit ist für Calvin sogar ein Vergehen gegen die Menschlichkeit und gegen Gott, und deshalb nicht zu tolerieren.[6]

Die Aufklärung führte zu einer Säkularisierung des Arbeitsbegriffs: Für das Bürgertum war Arbeit nicht mehr Christenpflicht, sondern ganz praktisch der Weg zu Aufstieg und Reichtum. Mittlerweile hat sich diese Geschichte der Arbeit von der Mühsal über die Gottespflicht bis zum Weg zum Reichtum in der Schweiz vermischt zu einer Überhöhung der Arbeit. Kein Wunder, sagen Sie jetzt, die Schweizer sind ja auch sehr fleissig. Stimmt nicht. Im Europäischen Vergleich arbeiten wir viel, aber beileibe nicht am meisten. Nimmt man die Zahl der geleisteten Wochenstunden bei Vollzeitbeschäftigten, arbeiten in Europa laut Eurostat die Türken mit 50 Stunden pro Woche am meisten, gefolgt von Island (45 Stunden) und Griechenland (44,6 Stunden).[7] Erst dann folgt die Schweiz mit 43 Stunden; fast gleichauf sind Österreich und das Vereinigte Königreich mit 42,8 Stunden. Dass die Schweizer ganz besonders fleissig seien, erweist sich als Nationalmythos. Vielleicht sind viele Wochenarbeitsstunden gar kein gutes Zeichen, sondern im Gegenteil ein Indiz für Unterentwicklung.

Wenn es Freude macht, ist es keine Arbeit

Unter Arbeit verstehen wir in der Schweiz also eine historisch gewachsene Mischung aus Mühsal, Christenpflicht und Weg zum Reichtum. Umgekehrt gilt: Wenn ich etwas nicht aus Pflicht erledige, sondern aus Freude, dann kann es keine Arbeit sein – und wenn es kein Geld einbringt, schon gar nicht. In den allermeisten Berufen ist nach wie vor die Zeit die entscheidende Messgrösse. Mitarbeiter müssen eine bestimmte Anzahl Stunden arbeiten, sie werden pro Zeit entlöhnt, dafür gibt es einen Zeitbonus in Form von Ferien. Die Schweiz ist mit diesem Arbeitsbegriff tief im Mittelalter stecken geblieben – oder zumindest in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts. Kein Wunder, gelten Burnout, Stress und Depressionen als häufigste Nebenwirkung dieser erlittenen Mühsal. Wer unter Arbeit heute noch nur Last versteht, hat wirklich ein Problem. Wir brauchen dringend einen neuen Arbeitsbegriff. Einen, der Freude einschliesst, bei dem Zeit keine Rolle spielt und Geld nur ein Nebeneffekt ist.

Stellt sich die Frage: Was ist eigentlich Arbeit? In Gesetzestexten wie dem Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel[8] ist zwar ständig von Arbeit, Arbeitnehmern und Arbeitgebern die Rede – aber was Arbeit ist, wird nicht definiert. In der ökonomischen Literatur ist Arbeit etwa der Einsatz der körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte des Menschen für die Befriedigung seiner materiellen und ideellen Bedürfnisse, oder das, was der Mensch zur Erhaltung seiner Existenz und/oder der Existenz der Gesellschaft tut, soweit es von der Gesellschaft akzeptiert und honoriert wird.[9] Arbeit ist also, wenn es nützt und etwas einbringt. Calvin lässt grüssen. In der Dienstleistungsgesellschaft lässt sich Arbeit kaum mehr mit Zeit verknüpfen. Ist es Arbeit, wenn ein Journalist beim Bummeln durch die Stadt auf eine Story stösst? Wenn die Programmiererin beim Yoga die zündende Idee hat?

Leidenschaft in Metern

Der erste Philosoph, der sich ausführlich mit der Arbeit beschäftigte, war Karl Marx. Und seine Gedanken sind erstaunlich modern: Marx sieht in der schöpferischen Arbeit der Keim zur Selbstverwirklichung des Menschen, also zur selbstbestimmten, individuellen Ausschöpfung aller in ihm steckenden Möglichkeiten. In der Lohnarbeit der kapitalistischen Wirtschaft sieht Marx dagegen die «entfremdete» Form der Arbeit.[1] Vielleicht ist es genau diese Entfremdung, an der wir heute leiden: Weil wir Arbeit fast ausschliesslich in Form von Lebenszeit gegen Geld verkaufen müssen. Im Grunde sind Arbeitszeitregelungen, Freitage und Ferien nichts anderes als Kompensationen für negative Aspekte der Arbeit. Kompensation für zu wenig Sinn in der Arbeit. Wir alle sollten deshalb nicht weniger Arbeitszeit fordern, sondern mehr Freude und mehr Sinn an der Arbeit. Der Sinn ist der Schlüssel.

Wenn sich die Gewerkschaften also wehren gegen die auf 17 Stunden ausgedehnte Arbeitszeit in Thierry Burkarts Vorstoss, sollten sie daran denken: Es kommt nicht auf die Zeit an, sondern auf den Sinn. Arbeit mit der Uhr zu messen, ist so sinnvoll, wie die Qualität des Weins in Litern anzugeben – oder die Leidenschaft in Metern.

Basel, 15. Februar 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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[1] Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Hamburg: Nikol Verlag 2016

[1] Vgl. https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20160484.

[2] Vgl. https://www.nzz.ch/wirtschaft/17-stunden-tage-im-home-office-ld.1352944

[3] Vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D16533.php

[4] Vgl. https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Arbeit/Arbeitsbedingungen/Arbeitnehmerschutz/Arbeits-und-Ruhezeiten.html

[5] Vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17470.php

[6] Vgl. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17470.php

[7] Vgl. http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&plugin=1&language=de&pcode=tps00071

[8] Vgl. https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19640049/index.html

[9] Vgl: Jan Kruse: Geschichte der Arbeit und Arbeit der Geschichte. Schriftenreihe der Evangelischen Fachhochschule Freiburg Bd. 19: Münster 2002, S. 22f.

3 Kommentare zu "Warum wir einen neuen Arbeitsbegriff brauchen"

  1. Die Eingewöhnung in das System «Arbeit» findet massgeblich in der Institution «Unterrichtsschule» statt. Sie hat sich trotz aufwändiger Reformen nicht grundsätzlich verändert. Der Schulbetrieb ist wenig interessen- und talentorientiert. Auf einige Fächer fokussierte Lernarbeit wird mit guten Noten belohnt. Das Ziel ist eine karriereorientierte Erwerbstätigkeit. Vielfalt ist dabei nicht substanziell gefragt. In einem solchen System es logisch und gesund, insbesondere qualitativ wenig anspruchsvolle Erwerbstätigkeit quantitativ – beispielsweise zeitlich – zu limitieren.

  2. Ohne direkten Zusammenhang mit dem Wochenkommentar: Ein bestimmter Sparchgebrauch stört mich immer, nämlich die Bezeichnung von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“. Ich finde unseren Gebrauch verkehrt. Als Angestellter einer Firma bin ich es doch, der die Arbeit leistet; also gebe ich der Firma meine Arbeit, und die Firma nimmt, bzw. kauft sie mir ab. Nicht umgekehrt.
    Geben sei seliger als nehmen, heisst es. Der übliche – eigentlich falsche – Sprachgebrauch rückt so die Arbeiter, also jetzt die Arbeitnehmer, in die „unselige“ Ecke, wo die Leute sind, die einem (wem wohl?) etwas nehmen, während gegenüber die „seligen“ stehen, also jetzt die Arbeitgeber, die den „unseligen“ grosszügig und bisweilen gar herablassend Arbeit geben, oder gar schenken. Wir alle, die Lohn nehmen, sollten uns also gefälligst dankbar zeigen. Ich habe die Arbeitslosikgeit gekannt und ich war in der Tat dankbar, wo ich wieder entlöhnte Arbeit gefunden habe. Man spürt als Arbeitsloser schon hautnah seine Machtlosigkeit, das Abhängigkeitsverhältnis, in welchem man sich befindet. Dieses Machverhältnis in Form von geben und nehmen auszudrücken, finde ich dennoch falsch.
    Da gefällt mir der Usus im Französichen besser, wo man üblicherweise von „employeurs“ und „employés“ spricht, also von Anstellern und Angestellten. Vielleicht wäre Arbeitkäufer und -verkäufer das bessere Wortpaar, wo heute doch alles als Markt gesehen werden soll.

  3. Einige der intellektuell Arbeitenden, der Wohlstandsbürger versuchen zwar (und das ist löblich), den einfachen, kleinen, arbeitenden Mann/Frau zu verstehen. Kommen Sie aber mit „dem Sinn in der Arbeit“ (was der Idealzustand wäre), merkt man, dass sie die Sache oft nur von sich, vom intellektuellen Hohepriesterstuhl aus betrachten. Denn was sie vergessen ist, dass es ganz einfach auch Arbeiten gibt, die gemacht werden müssen. Woher sollen sie dies auch kennen? Wenn er gut geht, von ein paar Monaten temporärer „Chrampf-Arbeit“ während des Studiums. Oft ist dies aber nicht der Fall, gut situierte Eltern sponsern diese Lernzeit und während den grosszügig bemessenen Semesterferien wird in Ibiza, London oder Bali abgefeiert. (Offiziell – im CV – sind es dann natürlich Sprachferien oder interkulturelle Austausche). Woher sollen die meisten Menschen noch wissen, dass es noch Knüppel-Arbeit gibt? Seitdem die Baustellen nicht mehr durch rot-weisse Latten abgesperrt sind, sondern durch – neu praktisch ausnahmslos – blickdichte PVC-Wände (aufgefallen!); seit dem die Sandstrahler im Schänzlitunnel durch Holzverschläge und elektr. Rolläden vor den durchrasenden Blicken der Autofahrer geschützt sind, ist auch diese Drecksarbeit unsichtbar geworden (nur beim passieren bemerkt man das ohrenbetäubende Zischen sogar im eigenen Wagen noch).
    Und da kommt man „mit dem Sinn der Arbeit“: Ein Gipser, der in einem Neubauviertel morgens um 7 Uhr bei feuchtnassem kaltem Nebel unter Druck ein neues EFH fertigstellen muss. Und vielleicht ist es nicht Mo-Fr, sondern Samstagmorgen… (Weitere Bsp. lasse ich der Länge wegen, es gäbe noch genug…)
    Ich glaube, es gibt Menschen, die Arbeit ohne einen Sinn darin zu sehen machen MÜSSEN; DAMIT andere ihre Arbeit mit Sinn ausüben dürfen, zur gleichen Zeit wie die ersteren Personen, in den Bauten der ersteren Personen, in den Parkanlagen der ersteren Personen, auf den Verkehrswegen der ersteren Personen; diese Realität ist omnipräsent und existenziell. Wäre ich Zauberer, würde ich alles mit Sinn erfüllen. Beginnen würde ich damit ganz sicher ganz unten.

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