Warum in der digitalen Welt die Menschen wichtiger werden

Publiziert am 21. Oktober 2022 von Matthias Zehnder

Wie Sie wissen, beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit den Folgen der Digitalisierung und des digitalen Wandels. Ich halte Referate in Unternehmen und an Schulen und führe Workshops durch mit Führungskräften. Die zentrale Frage dabei: Was verändert die Digitalisierung eigentlich genau? Klar: Wir schreiben nicht mehr von Hand oder mit der Schreibmaschine, sondern mit dem Computer. Aber welche Folgen hat das für die Texte? Klar: Die Bestellung erreicht die Firma nicht mehr per Fax oder Telefon, sondern elektronisch. Aber was ändert das an der Bestellung? Wir haben nicht mehr nur eine Handvoll Fernsehkanäle, wir haben Zugriff auf Millionen von Sendungen. Aber was ändert das am Inhalt? Ich sage Ihnen, was die zentrale Veränderung ist: Der Mensch hat an Bedeutung gewonnen. In meinem Wochenkommentar sage ich Ihnen diese Woche, warum die Digitalisierung dazu führt, dass die Bedeutung der Menschen steigt.

Zugegeben, es klingt etwas paradox: Je digitaler die Welt ist, desto wichtiger soll der Mensch sein? Das kann doch nicht sein. In Fabriken werden menschliche Arbeiter ausgesperrt, weil Roboter ihre Arbeit übernommen haben. Mächtige Algorithmen sortieren die Inhalte auf den neuen, sozialen Netzwerken und servieren uns genau die Beiträge, von denen das übermächtige Programm ausgeht, dass sie uns gerade interessieren. Und wenn sich zwei Menschen einmal in der realen Welt begegnen, schauen sie sich kaum mehr an, weil sie den Bildschirm ihres Handys nicht aus den Augen verlieren wollen. Und trotzdem soll der Mensch wichtiger geworden sein? 

Ja, das klingt etwas paradox. Aber ich glaube, wir Menschen haben zu Unrecht einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der digitalen Welt entwickelt. Wir sehen uns überwältigt von Algorithmen und Maschinen – und merken nicht, dass sich all die digitalen Helfer um uns selber drehen, um uns Menschen. Was die Wahrnehmung der Technik angeht, lassen wir uns immer noch von den Ludditen leiten, den Maschinenstürmern des 19. Jahrhunderts, die gegen die industrielle Revolution kämpften und in den Maschinen die Feinde der Menschen sahen. Für die Arbeiter des 19. Jahrhunderts waren aber nicht die Maschinen das Problem, sondern die Fabrikherren und ein Wirtschaftssystem, das auf Feudalismus ausgerichtet war. 

Probleme mit der künstlichen Intelligenz

Aber zurück zur digitalen Welt. Ich gebe Ihnen zwei Beispiele, die zeigen, was ich meine. Vielleicht haben Sie schon davon gehört, dass Künstliche Intelligenz rassistisch oder sexistisch werden kann. Das wird zum ernsthaften Problem, wenn die Programme Stellenbewerber sortieren sollen oder wenn sie Bilder im Internet bewerten müssen. So hat das automatische Empfehlungssystem von Facebook im letzten Jahr Benutzer, die sich journalistische Videos mit dunkelhäutigen Männern ansahen, gefragt, ob sie «weiterhin Videos über Primaten sehen» wollten. Die künstliche Intelligenz hielt schwarze Männer also für Affen. 

Das war natürlich ein Skandal. Entsprechend haben die Medien darüber berichtet. Es ist traurig, aber es zeigt, dass die so genannt künstliche Intelligenz nicht ganz so intelligent ist. Sie wiederholt nämlich nur, was die Menschen ihr vorsagen. Im konkreten Fall heisst das: Was das Programm im Internet findet. Und das sind rassistische Bewertungen von Menschen. Ähnlich ging es Forschern von Microsoft, die einen Chatbot dazu bringen wollten, wie ein junger Erwachsener zu klingen. Tay hiess der digitale Roboter. Doch schon nach ein paar Stunden begann der Chatbot damit, sich rassistisch und volksverhetzend zu äussern. Der Chatbot selbst war natürlich nicht rassistisch, er hatte den Rassismus auf Twitter gelernt. Das ist in der Sache traurig, aber es zeigt, dass es am Schluss wir Menschen sind, die den Ton setzen. 

Das gilt nicht nur für diese traurigen Beispiele, es gilt ganz generell für digitale Modelle: Sie sind so gut wie die Daten, mit denen sie gefüttert werden. Und die Daten stammen in letzter Konsequenz immer von Menschen. Ganz egal, ob es um Musikempfehlungen auf Apple Music und Spotify geht oder um Buchempfehlungen auf Amazon – am Anfang der Empfehlungen stehen Menschen, die mit ihrem Verhalten für die Daten sorgen, die der Computer auswertet. 

Rekorde mit Bernard Thurnheer

Kommen wir zum zweiten Beispiel. Letzte Woche hat ein 73-jähriger Mann dem Schweizer Fernsehen zu einem Grosserfolg verholfen: Knapp zehn Jahre nach der Absetzung der Sendung «Benissimo» hat Bernard Thurnheer ein einmaliges Comeback gefeiert. Mit ebenso einmaligem Erfolg: 843’000 Zuschauerinnen und Zuschauer haben die Sendung gesehen. Das entspricht einem Marktanteil von 59 Prozent – heute sind das einmalige Werte. Selbst Roger Federers Abschiedsmatch hatte weniger Zuschauer. 

Beni Thurnheer und das SRF befinden sich in bester Gesellschaft: Im November letzten Jahres hat das ZDF Thomas Gottschalk aus dem Ruhestand geholt und ihn eine Jubiläumssendung «Wetten dass…?» moderieren lassen. 40 Jahre nach der Erfindung der Sendung durch Frank Elster erzielte auch Gottschalk im deutschen Fernsehen Traumquoten: 13,8 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgten das Gottschalk-Comeback. Das entspricht einem Marktanteil von 45,7 Prozent. Dabei haben sich nicht nur nostalgische Seniorinnen und Senioren vor den Fernseher gesetzt. Im Gegenteil: Beim jüngeren Publikum, das sind beim Fernsehen die 14- bis 49-Jährigen, schalteten sogar mehr als die Hälfte der potenziellen Zuschauer ein. 

Meine Frage an Sie lautet: Warum haben die Sendungen ein so grosses Publikum erreicht? Auf welchem Sender sie ausgestrahlt wurden, war ziemlich egal. Hätten Sie gewusst, dass «Wetten dass…?» eine Sendung des ZDF und nicht der ARD ist? In der Schweiz stellt sich diese Frage nicht, weil es nur eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt gibt – trotzdem: Spielt es eine Rolle, ob «Benissimo» auf SRF kommt oder auf irgendeinem anderen Sender? Ich vermute, eher nicht. Ganz entscheidend für den Erfolg der Sendungen aber war, dass Bernard Thurnheer und Thomas Gottschalk vor die Kamera zurückgekehrt sind. Die beiden älteren Herren haben es für einen Abend geschafft, den Fernseher wieder zu jenem Herdfeuer zu machen, um das sich die ganze Gesellschaft versammelt. 

Auf die Menschen kommt es an

Thurnheer und Gottschalk sind zwei besonders augenfällige Beispiele dafür, dass es im digitalen Zeitalter der Millionen Kanäle auf die Menschen ankommt, nicht auf die Kanäle. Weil wir so viele Kanäle haben, sind die Menschen, die Gastgeber in den Sendungen, die Anker der Zuschauer geworden. Im amerikanischen Fernsehen sind sie das übrigens schon länger, deshalb heissen sie da «Anchor». Das ist auch der Grund, warum die «Hosts» (die Gastgeber) in Podcasts so wichtig geworden sind. Wer den Podcast ausliefert, spielt keine Rolle. Ich will Marc Maron hören oder Ezra Klein oder  Roger Schawinski. 

Das gilt nicht nur für die Welt der Medien und der Millionen Kanäle. Die wichtigste Eigenschaft der Digitalisierung ist, dass sie die Geografie beseitigt. Mit dem berüchtigten Mausklick können Sie sich die ganze Welt in die gute Stube holen. Das klingt auf den ersten Blick nach einer grossen Befreiung und das war es ursprünglich auch. Auf die Dauer führt es aber vor allem zu Verwirrung, wenn sich immer potenziell die ganze Welt in der guten Stube tummelt. Wenn wir uns nicht mehr an der Geografie orientieren können: Woran dann? Richtig: an Menschen. Werber würden jetzt vielleicht hinzufügen: und an Marken. Aber ich glaube, Marken funktionieren nur dann wirklich gut, wenn sie stellvertretend für Menschen stehen. 

Wir Menschen müssen deshalb nicht fürchten, dass die Digitalisierung uns überflüssig macht. Das Gegenteil ist der Fall. Sie macht uns noch wichtiger. Sie macht uns zum Anker – wenigstens für andere Menschen. 

Basel, 21. Oktober 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © KEYSTONE/Samuel Trümpy

Frei, Tim (2022): Benissimo 843’000 Personen sahen das Comeback. In: Persoenlich.com. [https://www.persoenlich.com/medien/843-000-personen-sahen-das-comeback; 21.10.2022].

Lobe, Adrian (2021): Man kann Algorithmen zu Kommunisten erziehen, aber in schlechter Gesellschaft können sie auch Rassisten werden. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/feuilleton/wie-die-black-box-lernt-bots-kann-man-zu-rassisten-machen-ld.1636315; 21.10.2022].

Persoenlich.com (2022): Über 600’000 verfolgten Federers Abschiedsmatch. In: Persoenlich.com. [https://www.persoenlich.com/medien/uber-600-000-verfolgten-federers-abschiedsmatch; 21.10.2022].

Spiegel (2021): »Wetten, Dass..?« mit Thomas Gottschalk: Revival hatte Marktanteil von 45,7 Prozent. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/kultur/tv/wetten-dass-mit-thomas-gottschalk-revival-hatte-marktanteil-von-45-7-prozent-a-e3b48fa9-f883-41c1-845a-19e88da5347c; 21.10.2022].

watson (2021): Facebooks «Künstliche Intelligenz» hält schwarze Männer für Affen. In: Watson.ch. [https://www.watson.ch/digital/rassismus/184271406-facebooks-kuenstliche-intelligenz-haelt-schwarze-maenner-fuer-affen; 21.10.2022].

4 Kommentare zu "Warum in der digitalen Welt die Menschen wichtiger werden"

  1. Die erste Stelle Ihres guten Kommentars „Ganz entscheidend für den Erfolg der Sendungen aber war, dass Bernard Thurnheer und Thomas Gottschalk vor die Kamera zurückgekehrt sind. Die beiden älteren Herren haben es für einen Abend geschafft…..» habe ich unter meinem medialen Elektronenmikroskop genaustens untersucht und komme zu folgendem Schluss:
    Der Erfolg ist auf «einen Abend» zurückzuführen. Würden diese «Retro-Shows» wieder regelmässig ausgestrahlt, würden sie einschaltquotenmässig rekordschnell abflachen.
    Es war 1.) die sentimentale Erinnerung und 2.) die Neugier ob es die «älteren Herren» nochmals raffen und schaffen, welche die Zuschauer zur Fernbedienung greifen liess.
    Eigentlich banale, primitive Affen-Urtrieb-Beweggründe.
    Die zweite Stelle des guten Wochenkommentars «Das ist auch der Grund, warum die «Hosts» (die Gastgeber) in Podcasts so wichtig geworden sind» gibt mir wiederum zu denken.
    Es geht Richtung Personenverehrung, Personenkult welche ich zutiefst verabscheue und unschweizerisch ist (Schweiz = ehem. neutral und Land ohne Denkmäler und Personenverherrlichung – das war einmal). Man hängt dem «Horst» – nein pardon, dem «Host» an den Lippen, reflektiert immer weniger und tendiert zu absolutem Glauben schenken. Zuweilen verändert sich sogar die eigene Persönlichkeit – man wird Ihn/Sie/Es…
    Diese gewisse Abhängigkeit, ersetzt sie eigene Werte, göttlicher Glaube, nötige Spiritualität, eigene Standpunkte?
    Grauslige Zeiten….
    Wobei ich mich selbst ertappe, dass ich Roger Schawinski nie verpassen will. Trotz gegenteiliger politischer Meinung werde ich angezogen wie die Mücken vom Licht (dies aushalten kann auch nicht jeder)…
    Sich betören lassen – Hirn ausschalten – «belafern» lassen – ungute Überlebensstrategien für unsere Zeit?…..

  2. Mag sein, dass in der digitalen Welt „Menschen wichtiger werden können“. In der Regel scheinen sie aber vereinzelt zu sein. Sie sind nicht leibhaftig in einem Austausch. – Etwa ein Drittel der Menschen insbesondere in den digitalisierten Schlaraffenländern fühlt sich krass einsam. Menschen sind nicht geschaffen, um nur allein zu sein. Sie möchten sich austauschen, zuhören, verstehen, sehen, wahrnehmen und sich weiterentwickeln. Und das geht nun mal nur mit anderen zusammen. – Allein sind heute nicht nur betagte Menschen, auch viele jüngere und Menschen, welche ihren Job, den Partner, ihre Familie und Freunde verloren haben. Auch bedingt beispielsweise durch die Covid Situation werden viele immer mehr dem Alleinsein überlassen und fühlen sich einsamer. – Miteinander… Füreinander. Im Zentrum ist das Gespräch: da sein für andere. Zeit haben wir ja. Hören und fühlen, was das Gegenüber braucht, wahrnehmen, was ihm guttun würde, Zuwendung…

      1. 2017 habe ich (vor Corona und all den andern Angst- und Krisenmachern!) im Allschwiler Einwohnerrat
        ein Postulat „Support für Gemeinschaftsbildung in der Zivilgesellschaft“ eingereicht. Dieser Vorstoss wurde diese Woche nach 5 Jahren (!) ein erstes Mal behandelt. Dabei hat sich gezeigt, dass der Gemeinderat nicht verstanden hat, was Gemeinschaftsbildung ist. Er hat gemeint, ich wollte Geld für Vereinsanlässe. Weil ich nicht solange warten konnte, habe von mir aus in Gemeindeparks das Projekt „Plauderbank“ gestartet. Ich sitze da und rede mit Menschen, die sich mit mir austauschen wollen. Es ist sehr spannend. Oft gibt es überraschende Gesprächsinhalte. Ich fühle mich selber sehr bereichert.

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