Warum Gegenpropaganda nicht gegen Propaganda hilft

Publiziert am 17. März 2017 von Matthias Zehnder

Der «Blick» hat die Türken in der Schweiz aufgefordert, «Nein» zum türkischen Verfassungsreferendum zu stimmen. Die Zürcher, die Deutschen und die Niederländer haben Reden türkischer Politiker unterbunden. Ha: Dem Erdo haben wirs gezeigt. Doch war das wirklich richtig? Reagiert so eine freie und tolerante Gesellschaft? Der Muselmann soll mal Demokratie lernen? Das kann nicht sein. Freiheitsrechte sind vor allem da wichtig, wo es unbequem wird. Auch in der Schweiz. Anmerkungen zur Redefreiheit.

Diese Woche hat der «Blick» Schlagzeilen gemacht: Die Boulevardzeitung hat am Montag die Türken in der Schweiz aufgefordert, «hayir» zu stimmen: Nein zu sagen zu «Erdogans Diktatur». Das sorgte für Wirbel. Die Türkei fordert den «Blick» auf, bei der Berichterstattung die Regeln des unparteiischen Journalismus einzuhalten. Ausserdem erwarte die Türkei, dass der «Blick» die Respektlosigkeit gegenüber Erdogan wiedergutmache.

Erdogan höchstpersönlich reagierte im Türkischen Fernsehen. Er lächelte, jetzt müssten auch die Schweizer türkisch lernen und erklärte: Früher oder später werden sie das verantworten müssen. In türkischen Zeitungen wurde der «Blick» und die Schweiz beschimpft: Schande!, titelt die Zeitung «Aksam», der «Blick» habe alle in der Schweiz lebenden Türken bedroht und sich dazu erfrecht, beim Referendum ein Nein zu empfehlen.

Rote Karte für Erdogan

Kurz: Die Aktion des «Blick» war ein Erfolg. Sie hat der Boulevardzeitung jede Menge Aufmerksamkeit beschert – und möglichst viel Aufmerksamkeit zu bekommen ist der Lebenszweck jeder Boulevardzeitung. Aber war es auch richtig, dass der «Blick» den Erdogan-Anhängern in der Schweiz so klare Kante gezeigt hat?

Immer mehr Menschen in Westeuropa sagen: Ja. Es sei Zeit, dass jemand dem Sultan vom Bosporus die Grenzen aufzeige. Das findet auch GLP-Grossrat David Wüst-Rudin: In einem Vorstoss stellt er der Basler Regierung eine ganze Reihe von Fragen bezüglich der Türkei. Unter anderem will er wissen, ob türkische staatliche Stellen einen Werbeauftritt in Basel für das Verfassungsreferendum durchführen wollen und, falls ja, ob der Kanton gegen eine solche Veranstaltung intervenieren wolle wie an verschiedenen Orten in Deutschland oder Holland geschehen. Wüst-Rudin selbst plädiert für ein Verbot.

Klare Kante – weil es gerade nützlich ist

In Zürich und an verschiedenen Orten in Deutschland und den Niederlanden sind Wahlkampfauftritte türkischer Politiker aus Sicherheitsgründen abgesagt worden. Zwischen den Niederlanden und der Türkei ist es deswegen zu einer schweren, diplomatischen Krise gekommen, weil die Niederlande einen geplanten Auftritt von Aussenminister Mevlüt Cavusoglu in Rotterdam absagten und Sozialministerin Fatma Kaya stoppten und des Landes verwiesen.

Eine Krise, die sowohl dem niederländischen Premier Mark Rutte wie dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyp Erdogan zu Pass kam. Beide konnten sich ihren Wählern als starke Männer präsentieren. Die Saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ging noch etwas weiter: Als Reaktion auf die Diskussionen über Auftritte türkischer Minister untersagte das Saarland als erstes Bundesland Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker generell. Bloss: Derzeit gibt es gar keine Anfragen aus Ankara – aber auch im Saarland stehen Wahlen vor der Tür.

Erdogan mit den eigenen Waffen schlagen

Mittlerweile haben die Türken jedes Mass verloren und beschimpfen Deutsche, Niederländer, überhaupt Europäer als Nazis, die keine Ahnung von Demokratie und Meinungsfreiheit hätten. Viele Schweizer finden deshalb: Gegen solche Politiker soll auch die Schweiz eine Einreisesperre verhängen. Die klare Ansage von «Blick» sei richtig gewesen. Es gelte, Erdogan in seine Schranken zu verweisen. Man müsse Erdogan mit seinen eigenen Waffen schlagen. Tatsächlich?

Hiesse das nicht, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben? Was ist denn der Unterschied zwischen einer regierungsnahen, türkischen Zeitung, die ein «Nein» zum Verfassungsreferendum in der Türkei als untürkisch brandmarkt, und dem «Blick», der schreibt: Wer in seinem Heimatland diktatorische Verhältnisse einführen will – bitte schön. Aber dann soll er auch unter ihnen leben.

Der Griff zum Beelzebub

Der «Blick» sagt: Wer «Ja» sagt, gehört nicht in die Schweiz. Türkische Medien sagen, wer «Nein» sagt, gehört nicht in die Türkei. Damit macht der «Blick» dasselbe wie die türkischen Medien, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Er grenzt aus und erklärt eine einzige Meinung als die richtige. Nein: Das Mittel gegen Propaganda kann nicht Gegenpropaganda sein. Das Mittel gegen Propaganda ist ein freiheitlicher Diskurs.

Natürlich finde ich die Verhältnisse in der Türkei schrecklich. Es ist unerträglich, dass Erdogan jeden Kritiker einklagt, Journalisten einschüchtert, sie der Terror-Propaganda bezichtigt und wegsperrt. Natürlich spottet es unserer Vorstellung von Demokratie, wenn vor einer Abstimmung keine freie Meinungsbildung stattfinden kann. Aber gibt uns dies das Recht, es der Türkei mit gleicher Münze heimzuzahlen?

Antidemokratische Propaganda

Nein, die Antwort auf Propaganda muss ein echter Diskurs sein. Auch Propaganda für eine gute Sache bleibt Propaganda. Der «Blick» hätte also beide Seiten zu Wort kommen lassen sollen, die Argumente der Befürworter und die Argumente der Gegner abbilden müssen – und hätte dann im Sinne eines Kommentars Haltung beziehen können. Bloss: Das hätte der Boulevardzeitung halb so viel Aufmerksamkeit beschert.

Türkische Politiker sollen in der Schweiz frei reden können – so lange sie sich an die Schweizer Gesetze halten. Die Redefreiheit muss für alle gelten. Aber diese Politiker machen antidemokratische Propaganda, lautet das Argument derer, die solche Auftritte verbieten wollen. Das heisst also: Sigmar Gabriel oder Jean-Marc Ayrault, die Aussenminister von Deutschland und Frankreich, dürften eine Rede halten, Mevlüt Cavusoglu aber nicht? Was ist mit Ungarns Aussenminister Péter Szijjártó? Oder dem polnischen Aussenminister Witold Waszczykowski? Was ist mit dem amerikanischen Aussenminister Rex Tillerson? Und vor allem: Wer soll das entscheiden? Auf welcher Grundlage?

Freiheit der Andersdenkenden

Wenn Politiker, die antidemokratische Propaganda machen, keine Reden halten dürften, dann gäbe es auch so manchen Schweizer Politiker, der dann den Schnabel halten müsste. Die Schweizerische Bundesverfassung garantiert in Artikel 16 die Meinungs- und Informationsfreiheit: Jede Person hat das Recht, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten. Dieses Recht gilt, so lange keine Menschenrechte verletzt und Gesetze übertreten werden. Rassismusverbote etwa schützen die Menschenwürde und damit das Menschenrecht. Es gilt auch hier der berühmte Satz von Rosa Luxemburg: Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.

Bei Lichte besehen entpuppt sich die Haltung, die wir gegenüber der Türkei einnehmen, als die eines kolonialistischen Besserwissers. Motto: Der Muselmann weiss halt nicht, was Demokratie ist. So kann der «Blick» ihn Mores lehren und paternalistisch bei den Türken in der Schweiz ein «Nein» einfordern – ansonsten sie das Land verlassen müssen. Die Redaktoren von «Blick» sollten den Kontext des Rosa-Luxemburg-Zitats lesen: Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit.

Freiheit, insbesondere Redefreiheit, ist nicht bequem. Aber gerade wenn es unbequem wird, ist es wichtig, dass wir das Freiheitsrecht hochhalten. Wir können Freiheit und Schreibfreiheit für die Journalisten in der Türkei nur glaubwürdig einfordern, wenn wir den Journalisten, den Türken in der Schweiz diese Freiheit selbst gewähren. Natürlich plädiere auch ich deshalb dafür, «hayir» zu stimmen in der Türkei. Aber bitte im Rahmen eines freiheitlichen Diskurses – auch und gerade in der Schweiz.

2 Kommentare zu "Warum Gegenpropaganda nicht gegen Propaganda hilft"

  1. Medienpolitisch: Was der „Blick“ macht, ist lächerlich. „Blick“ ist schwer auf Talfahrt (Leser), es geht der „Zeitung“ so schlecht wie noch nie. Einziges „Plus“ für Ringier/Blick: Er kommt ins Gerede, auch bei den Intellektuellen. Sie kauften vergangene Woche vermehrt eine Ausgabe dieses Blattes am Kiosk. Und mancher hat verblüfft festgestellt, dass der Blick kein Revolverblatt mehr ist, sondern ein politisches, stramm linkes Kampfblatt. Ob gut oder nicht, diese neue Ausrichtung ist Sache der Ringier-Oberen (und von denen wimmelt es ja…). Ob jedoch Revolverstorys oder der jetzige neue „Gewerkschafts-Blick“ die Zahlen längerfristig nach oben treiben, ist fraglich. Der „Erdogan-Effekt“ ist ein Auflagen-Strohfeuer. Auch die deutsche Bild sagte letzte Woche (Titel) „Erdogan die „Wahrheit“ ins Gesicht“ – „Sie sind unerwünscht, Sie schaden ihrem Land“ usw… Rettungsversuche untergehender Presseerzeugnisse, genauso lächerlich wie der „Tagi“ den in der Schweiz lebenden Amerikanern riet: „Wählt Trump nicht!“. Desolate Zustände zeigen sich genau SO.
    Nebenbei: Die Welt hat anscheinend wieder einen neuen Bösewicht: Anfangs war es Putin; der ganz Böse. Doch er hat´s gut, er kann, wenn er will, nun seine Negativ-Taten in Ruhe ausführen. Keinen juckts. Denn alle guckten nach USA: Trump hat Putin als Übeltäter abgelöst. Und nun kann Missetäter Trump zurücklehnen. Zumindest ganz Europa hat die Augen auf Strolch Erdogan gerichtet… Die Medien, die lesende Menschheit als Meute auf Schurke Erdogan…. Und, so scheint es, in den eigenen (EU-) Reihen hat´s nur Hosianna-Sänger…. Zeit zum darüber Nachdenken sollte man sich nehmen…
    Anna Rose, russische Reporterin und Deutschlandkorrespondentin der Moskauer Zeitung «Rossijskaja Gazeta», sagte bei R. Schawinski am 23.1.17 auf SRF darauf in etwa folgende Antwort: „Unser Präsi W. Putin ist im Land beliebt wie nie, und solange andere Schelme (Trump) im medialen Kreuzfeuer stehen, kann uns dies nur recht sein….“
    Apropos Schawinski: Wer am 3. April um 17 Uhr im Zürcher Mascotte an der Gratisveranstaltung „Schawinski gegen Markus Somm“ dabei sein will, ich hab noch einen Platz im Auto frei. Mail an mich (teppichkordel@bluewin.ch) reicht. Es lohnt stets, am legendärsten und erfolgreichsten Radiotalk der Schweiz dabei zu sein.

  2. Propaganda ist die Sprache der Machtgierigen. In einer Demokratie bilden sie die gewählte Mehrheit. In einer Autokratie diktieren Machtgierige mit Gewalt, was für alle gilt. Es gibt Mischformen. Die Übergänge sind fliessend. Eine absolut freie Meinungsäusserung gibt es nicht. Freiheit ist immer mehr oder weniger eingeschränkt. Unabhängig von der Staatsform scheint mir Propaganda zunehmend vor allem dann interessant und wirksam, wenn sie in der Sache grandios irrelevant und/oder geisttötend stumpfsinnig ist. Macht erlangt oft, wer Abhängigkeit am besten als Freiheit verkaufen kann. Freiheit kann aber auch schlicht und einfach für die Mehrheit zu anstrengend sein.

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