Vom Helden zum Autor des eigenen Lebens

Publiziert am 3. Januar 2025 von Matthias Zehnder

Es war ein Nebensatz in einem langen Gespräch mit Doris Dörrie im Podcast «Alles gesagt» von «Zeit online», der mir hängen geblieben ist wie der Refrain seines Songs: «Vielleicht bin ich gar nicht die Hauptfigur im Film meines Lebens, vielleicht bin ich die Autorin oder der Autor.» Dieser Gedanke hat mich nicht mehr losgelassen: Was ist, wenn wir uns nicht mehr als Held oder Heldin unseres Lebens begreifen, sondern als Autor? Jeder Mensch hat eine Geschichte. Vielleicht muss man sogar sagen: Jeder Mensch ist seine Geschichte. Das Erzählen von Geschichten ist über alle Kulturen und Kontinente hinweg eine ganz wesentliche Eigenschaft des Menschen. Diese Geschichten handeln von Heldinnen und Helden. Wenn wir unser eigenes Leben als Geschichte begreifen und vielleicht auch erzählen, sind wir die Heldin oder der Held unseres Lebens. Oder glauben, dass wir ein Held sein sollten und verzweifeln daran, dass in unserem Leben wenig Heldenhaftes zu finden ist. In meinem wenigstens nicht. Was ändert sich, wenn wir uns also nicht mehr als Heldin oder als Held sehen, sondern als Autorin oder als Autor unseres Lebens? Denken wir gemeinsam darüber nach. Als Denkanstösse gebe ich Ihnen dazu fünf Lesetipps, fünf Bücher, die Ihnen vielleicht helfen, den Druck, eine Heldin oder ein Held sein zu müssen, loszuwerden und zum Autor Ihres Lebens zu werden.

Geschichten handeln von Heldinnen und Helden. Sie müssen sich grossen Gefahren, einem Rätsel oder einer anderen Herausforderung stellen. Mit Mut und Tatkraft oder auch mit List überwinden sie den Drachen, die sieben Räuber oder den superreichen Bösewicht, heiraten die Prinzessin (oder den Prinzen) und wenn sie nicht gestorben sind, dann, ja was dann passiert, darüber schweigen die Geschichten. Die beiden ersten grossen Heldentypen unserer Kultur waren Achilles und Odysseus, die Hauptfiguren der Ilias und der Odyssee von Homer. Achilles ist der klassische, griechische Krieger. Er ist übermenschlich stark, mutig und tapfer. Das hat auch damit zu tun, dass er unverwundbar ist. Jedenfalls fast: Seine Mutter, die Göttin Thetis, hat den kleinen Achilles in den Styx getaucht, jenen Fluss, der die Grenze bildet zwischen der Welt der Lebenden und der Unterwelt, dem Hades. Als sie ihn ins Wasser tauchte, hielt Thetis ihren Sohn an der Ferse fest. Die Ferse wurde deshalb nicht vom Wasser des Styx benetzt und blieb verwundbar. Sie ist bis heute als «Achillesferse» bekannt. Diese Verletzbarkeit macht den Kämpfer Achilles zum menschlichen Helden.

 

In der nordischen Sagenwelt ist Siegfried aus dem Nibelungenlied die Urfigur des fast unverwundbaren Kämpfers. Siegfried tötet den Drachen Fafnir und badet im Drachenblut. Dadurch wird er unverwundbar. Weil aber zwischen den Schulterblättern ein Lindenblatt haften bleibt, wird diese Stelle vom Blut nicht benetzt. Wie bei Achilles die Ferse wird diese Stelle Siegfried später zum Verhängnis. Vorher erobert er jedoch den legendären Schatz der Nibelungen. Dazu gehört auch ein Tarnhelm, der ihm übermenschliche Kräfte und Unsichtbarkeit verleiht. Siegfried heiratet Kriemhild, wird aber durch Intrigen und Verrat von Hagen von Tronje getötet, nachdem dieser von Siegfrieds verwundbarer Stelle erfahren hat. Wie Achilles ist Siegfried der Inbegriff des heldenhaften Kriegers, der sich durch Stärke, Tapferkeit und Mut auszeichnet. Nur Intrigen und Verrat können ihn zu Fall bringen. Deshalb ist auch Siegfried kein strahlender, sondern ein tragischer Held.

Das tapfere Schneiderlein der griechischen Sagen

Im Unterschied zu Achilles und Siegfried ist Odysseus, der Held der Odyssee, nicht für seine rohe Kampfkraft, sondern für seine Klugheit, List und Anpassungsfähigkeit bekannt. Odysseus ist also das tapfere Schneiderlein der griechischen Sagen. Er ist König von Ithaka, muss sich aber auf der Heimreise vom trojanischen Krieg auf einer zehn Jahre dauernden Irrfahrt bewähren. Das macht er, indem er seine Gegner austrickst. Seine jüngsten Nachfahren sind Tony Stark alias Iron Man in der Marvel-Saga und vielleicht auch Jack Sparrow, der listenreiche Pirat mit Herz von «Pirates of the Caribbean».

Neben den Kämpfern Achilles respektive Siegfried und dem listigen Odysseus ist als dritter Urheld vielleicht Parzival zu nennen. Seine Geschichte ist die Quest: Die Heldin oder der Held muss sich auf eine gefährliche Reise machen, um ein wertvolles Ziel zu erreichen, ein Rätsel zu lösen oder einen Schatz zu finden. Zu Beginn der Geschichte ist Parzival ein naiver, unerfahrener Junge. Auf seiner Reise wächst und reift er zum weisen Ritter heran. Dabei besteht er seine Prüfungen keineswegs nur mit Bravour, er begeht immer wieder gravierende Fehler. So findet er tatsächlich die Gralsburg Munsalvaesche, versäumt es aber, den kranken Gralskönig Anfortas nach seinem Leiden zu fragen.

Die Urgeschichte des Helden

Parzival ist die Urgeschichte vom Helden, der auszieht, Abenteuer erlebt, an den Gefahren wächst und schliesslich das Rätsel löst, den Schatz oder den Sinn des Lebens findet. Auf diesem Muster basieren die meisten Abenteuergeschichten, von «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» bis «Indiana Jones» und der «Star Wars»-Saga rund um Luke Skywalker. Im letzten Band von «Harry Potter» greift Joanne K. Rowling mit Harrys Suche nach den Heiligtümern des Todes und der Horcruxe die Suche nach dem Gral ebenfalls auf. Auch die Reise von Harry ist geprägt von innerem Wachstum, moralischen Konflikten und der Erkenntnis, dass Opfer notwendig sind, um das Wohl der Gemeinschaft zu sichern.

Und was ist mit den Heldinnen? Sie sind tatsächlich seltener. In der Odyssee zeigt Penelope, die Frau von Odysseus, aussergewöhnliche Ausdauer, Klugheit und Loyalität. Sie wartet 20 Jahre lang standhaft auf die Rückkehr ihres Mannes und widersteht mit List und Klugheit den vielen Freiern, die sie umschwärmen. Auf ganz andere Art und Weise ist Antigone eine starke Heldin. Sie stellt sich mutig gegen die Staatsmacht. Sie ist entschlossen, ihren Bruder gegen den Willen des Königs zu begraben und zeigt damit moralische Grösse. In der nordischen Sagenwelt ist die Walküre Brünhild eine tapfere Königin. Ihre Liebe zu Siegfried endet tragisch, das macht sie zu einer innerlich zerrissenen Heldin.

Der Monomythos der Heldenreise

Als einer der ersten hat der amerikanische Literaturwissenschaftler und Mythenforscher Joseph Campbell die Heldengeschichten aus Religionen, Sagenwelten und Überlieferungen verglichen und versucht, die archetypische Grundstruktur der Heldenreise herauszufiltern. Das Resultat war sein Buch «Der Heros in tausend Gestalten». Er stützt sich dabei unter anderm auf die Tiefenpsychologie von Carl Gustav Jung und dessen Überlegungen zu Archetypen und dem kollektiven Unbewussten. Daraus und basierend auf dem Vergleich unzähliger Mythen und Geschichten entwickelt Joseph Campbell seinen Monomythos. Er nennt es die Heldenreise. Das ist ein universelles Erzählmuster mit drei Hauptphasen:

  1. Der Aufbruch: der Held verlässt seine vertraute Welt und zieht ins Unbekannte hinaus.
  2. Die Initiation: der Held besteht mannigfaltige Prüfungen und Gefahren und wächst daran.
  3. Die Rückkehr: der Held kehrt verwandelt zurück, oft mit einem Geschenk für die Gemeinschaft.

Die deutsche Filmemacherin und Autorin Doris Dörrie hat sich intensiv mit Heldinnen und Helden beschäftigt. Natürlich in ihren Filmen, aber auch in ihren Büchern und im Rahmen ihrer Lehrtätigkeit als Professorin für Angewandte Dramaturgie und Stoffentwicklung an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. In ihrem letzten Buch «Die Heldin reist» beschreibt sie knapp und lustig diesen Monomythos des Helden:

Der (zukünftige) Held, oft schwach und blass, ein Schisser, Muttersöhnchen, Versager, muss aus dem Haus, raus aus der gemütlich miefigen Wohnküche, rein ins Abenteuer. Das kann auf vielfältigste Art und Weise geschehen: durch ein Missgeschick, etwa von einer radioaktiven Spinne gebissen zu werden, durch Eltern, die einen im Wald aussetzen, durch eine miese Prophezeiung, die man mit sich herumschleppt, durch eine Kündigung, eine Hausräumung, einen Umzug oder durch schiere Wanderlust. Egal wie, der Held muss aufbrechen, denn wenn er diesen Aufruf zum Abenteuer ausschlägt, bleibt er für immer ein Waschlappen, Trottel und Weichei – und es gibt keine Geschichte. Wer sich nicht fürchtet, hat einfach bisher noch nichts kennengelernt, vor dem er sich fürchten müsste, er stolpert ungeschützt ins Abenteuer. Der Furchtsame aber legt seine teure, tolle Funktionsrüstung an, die jedoch später garantiert eine Schwachstelle aufweisen wird (wie das Lindenblatt zwischen Siegfrieds Schulterblättern, der doch extra in Drachenblut gebadet hatte). Gerüstet oder nicht, auf dem Weg ins Abenteuer muss der Held die Schwelle in ein fremdes und gefährliches Land überschreiten, vorbei an strengen Schwellenwärtern, die manchmal aussehen wie der Türsteher vom Berghain, manchmal aber auch klein, dünn und unerbittlich wie die Dame hinter einem Lufthansa-Schalter. Wenn der Held die Schwelle überschritten hat, gibt es kein Zurück mehr. Im fremden Land gelten die ihm bekannten Regeln nicht mehr, er versteht kein Wort, man isst eklige Dinge, es ist entweder zu heiß oder zu kalt, der Boden unter seinen Füßen beginnt zu schwanken. Dubiose Gestalten bieten ihre Hilfe an, Widersacher belästigen ihn, manchmal findet er Rat bei einer weisen Frau, manchmal sogar treue Begleiter, die aber ihre eigenen Probleme mit sich bringen, er übersteht eine Prüfung nach der anderen, bis er auf dem Höhepunkt dem Drachen gegenübersteht, seinem schlimmsten Feind und seiner größten Angst. Es wird dunkel um ihn, er stürzt in die tiefe Nacht der Seele, aber er darf jetzt nicht umkehren, nicht davonlaufen. Natürlich gewinnt er den Kampf, weil er muss – sonst wäre er kein Held. Lädiert, aber triumphierend kehrt er heim, bekommt die Frau, das Haus und das Auto und befreit auch noch gleich die daheimgebliebenen Jammerlappen.
So ähnlich läuft es in allen erfolgreichen Geschichten der Welt ab … Selbst Buddha und Jesus folgen diesem Muster, minus Haus, Auto und Frau.
(Döris Dörrie: «Die Heldin reist». Zürich: Diogenes 2022: S. 10f.)

Das also ist eine Heldin oder ein Held. Ob Frodo oder Luke Skywalker, Lisbeth Salander oder Hermione Granger – all die Heldinnen und Helden stellen uns vor ein Problem: Sie sind für uns Normalsterblichen unerreichbar. Wir sind nie so mutig, nie so klug, nie so stark und nie so schön, nie so listig, so ausdauernd, so clever und so zielorientiert. Wir normalen Menschen empfinden es manchmal schon als Heldentat, aus dem Bett zu kommen, den Bus zu erwischen, die Blödmänner im Büro auszuhalten und die schnippischen Bemerkungen der Nachbarin. Das grösste Rätsel, das wir im Alltag lösen, ist die Frage «Was soll ich heute kochen?» Wir kämpfen nicht mit Drachen, sondern mit unseren dreijährigen Kindern in der Trotzphase (wobei meist der dreijährige Drache gewinnt). Und wo bei den Helden Muskeln protzen, schwabbeln bei uns die Erinnerungen an Prosecco und Pralinen. Nein: Wir fühlen uns alle nicht als Heldinnen und Helden. Wenigstes mir geht es so.

Heldenhafte Vorsätze zum neuen Jahr

Gerade zum Jahresbeginn ist das ein Problem. Jetzt sollten wir uns fürs neue Jahr doch Heldentaten vornehmen oder mindestens Ziele setzen, die eines Helden würdig sind. Statt den heiligen Gral, die Heiligtümer des Todes oder Prinz und Prinzessin zu suchen, bleibt es aber, wie immer, beim Vorsatz zu mehr Freundlichkeit und ein paar Kilo weniger auf der Waage. Wie schreibt Doris Dörrie noch? Weichei und Jammerlappen. Jawohl.

Das wäre ja alles nicht so schlimm, wenn nicht das Problem mit dem Erzählen bestünde. Wir Menschen sind Geschichtenerzähler. Die Geschichten, die wir uns erzählen, folgen archetypischen Mustern und sie sind von monomythischen Heldinnen und Helden bevölkert. Wie sollen wir vor uns die Geschichte unseres eigenen Lebens erzählen, wenn wir doch so gar nicht zum Helden taugen?

Ich kann nichts erzählen

Vermutlich sagen auch Sie: «Meine Geschichte ist es nicht wert, erzählt zu werden.» Oder noch schlimmer: «Ich habe keine Geschichte.» Gemeint ist damit wohl: Ich habe nichts Heldenhaftes erlebt und kann deshalb nichts erzählen. Denn eine Geschichte haben wir alle, weil wir alle eine Vergangenheit haben. Die Frage ist: Wie können wir unsere eigene Geschichte erzählen?

Wir können Sie erfinden. Max Frisch hat darüber einen Roman geschrieben: «Mein Name sei Gantenbein» heisst das Buch. Der Erzähler bemerkte dass man sich seiner Erinnerungen nur gewiss sein kann, wenn man sie als zusammenhängende Geschichte erzählt. Der Erzähler glaubt, dass jede Geschichte eine Erfindung ist: Wenn man über sich selbst erzählt, erfindet man in diesem Moment sein eigenes Ich.

Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es, und manchmal stellte ich mir vor, ein anderer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung. (Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Seite. 11)

Der Erzähler erfindet sich eine Geschichte. Er richtet sich förmlich in seiner Geschichte ein. Er erfindet sich dafür auch einen Namen: Mein Name sei Gantenbein. Der zentrale Satz: Ich probiere Geschichten an wie Kleider. (Seite 20) Max Frisch beantwortet die Frage nach dem Ich, nach der Identität, mit Geschichten: Ich bin, was ich über mich erzähle.

Geschichten wechseln wie Kleider

Max Frisch spielt dabei mit der Erfindung des Ichs, mit den Möglichkeiten der Veränderung, Geschichten zu wechseln wie Kleider. Im richtigen Leben geht es eher um Erinnerung und Selbstvergewisserung: «Je kohärenter unsere Biografie erinnert und erzählt wird, umso stärker ist das Gefühl der Identität, das Gefühl, auch über Veränderungen hinweg immer die gleiche Person zu sein», schreibt Gudula Ritz-Schulte in ihrem spannenden Buch über das autobiographische Arbeiten. «Autor des eigenen Lebens werden» heisst es. Ich bin auf das Buch gestossen, als ich mich mit jenem Satz aus dem Gespräch mit Doris Dörrie beschäftigte: «Vielleicht bin ich gar nicht die Hauptfigur im Film meines Lebens, vielleicht bin ich die Autorin oder der Autor.»

Mir ist aufgegangen, dass ich ja gar nicht die Heldin, der Held meines eigenen Lebens sein muss. Ich muss nicht unbedingt stark und mutig sein, Drachen töten und Prinzessinnen erobern. Wenn ich nicht Held, sondern Autor meines Lebens bin, dann könnte ich mich auch ans Fenster setzen, in den Garten schauen und beschreiben, was die Spatzen grad so treiben. Ein Held muss handeln. Eine Autorin oder ein Autor kann auch nur zuschauen und zuhören, den kalten Schnee spüren, die Säure der Zitrone auf der Zunge, den Geruch nach frisch gebackenem Brot. Man muss kein Held sein, um Haferbrei zu beschreiben. Oder Linsensuppe.

Eine Einladung zum Schreiben

Es gibt über dieses Wahrnehmen und Beschreiben des Alltags ein wunderbares Buch von Doris Dörrie: «Leben, Schreiben, Atmen» heisst es, «eine Einladung zum Schreiben». Und genau das ist es: Doris Dörrie regt im Buch mit vielen kleinen Schreibübungen zum Schreiben an.

Wir sind alle Geschichtenerzähler. Vielleicht macht uns das zu Menschen. Vielleicht haben wir auch nur keine Ahnung, welch großartige Geschichtenerzähler Katzen oder Dromedare sind. Wir können nicht aufhören zu erzählen. In einem endlosen inneren Monolog erzählen wir uns Geschichten über uns selbst. Manche davon sind wahr, einige nur ein bisschen, andere überhaupt nicht. Wir alle sind Fiktion, aber das glauben wir nicht, weil wir uns in ihr befinden wie in einem Fortsetzungsroman.
Schreibend erforsche ich die Welt. Meine Welt. Was beeindruckt mich? Was merke ich mir? Was erschüttert mich? Was erheitert mich? Was begeistert mich? Woran erinnere ich mich? (Doris Dörrie: Leben, Schreiben, Atmen. Seite 9f.)

Viele Menschen schrecken vor dem Erinnern und Schreiben zurück. Sie sagen sich: Ich kann das nicht, ich bin nicht interessant genug, mir fällt nichts ein und wenn, dann ist es peinlich.

Die Liste ist endlos. Aber ich will gar nicht besonders toll, inspiriert oder originell sein, sondern die eigene Schatzkiste öffnen, Erinnerungen herausholen, sie ans Tageslicht bringen, abstauben und betrachten. Dafür ist es hilfreich, ohne Pause weiterzuschreiben und nicht am Stift zu kauen, sonst drängen sich andere Gedanken in den Vordergrund – und schon bin ich auf dem Weg zum Kühlschrank, zum Telefon, ins Internet. Statt etwas hervorzubringen, stopfe ich etwas in mich hinein, Konsum füllt mich ab, aber erfüllt mich nicht. Konsum und Kreativität sind natürliche Antagonisten. (Doris Dörrie: Leben, Schreiben, Atmen. Seite 25)

Zehn Minuten schreiben am Stück

In Ihrem Buch empfiehlt Doris Dörrie deshalb, zehn Minuten am Stück von Hand zu schreiben, ohne Pause, einfach draufloszuschreiben, was einem in den Sinn kommt. Der Trick ist dabei, wirklich nicht nachzudenken, sondern einfach zu schreiben. Als Anleitung gibt sie in ihrem Buch dafür kleine Aufgaben. Etwa: Geh durch die Wohnung deiner Kindheit. Schau auf deine Kinderfüsse, als würdest du durch eine Kamera blicken. Folge deinen Füssen. Oder: Schreib über das Essen in deiner Kindheit. Was hast du gern gegessen? Was nicht? Was war dein Lieblingsessen? Wer sass mit am Tisch? Wie sah die Küche aus? Wer hat gekocht? Oder: Schreib über ein Kleidungsstück, das du als Kind hattest. Das du geliebt oder gehasst hast, das wie eine Rüstung für dich war oder dich der Lächerlichkeit preisgegeben hat.

Mittlerweile macht Doris Dörrie öffentliche Schreibseminare. Ein ganzes Theater voller Menschen beugt sich nach ihren Anweisungen über Notizblöcke und schreibt zehn Minuten ohne Innezuhalten über Griessbrei und Pflaumenmus, Bratwürste, Käsefondue oder den Geruch von frisch gebackenen Weihnachtsplätzchen. Die Erinnerungen an das Essen in der Kindheit seien besonders fruchtbar, erzählt sie. Jeder hat ein Lieblingsessen – oder ein Gericht, das er gehasst hat. Auf diese Weise finden auch Menschen zum Erinnern und zum Schreiben, die von sich denken, dass sie nicht interessant genug sind, dass sie in ihrem Leben keine Heldinnen oder Helden waren.

Wir müssen keine Helden sein

Genau das ist der Punkt: Wir müssen keine Heldinnen und Helden unseres Lebens sein. Wir können auch einfach Autorin oder Autor des Lebens werden. Die Plätzchen beschreiben oder den Hund, die Spatzen im Ginster vor dem Haus oder das abgestossene blaue Spielzeugauto aus der Kindheit auf dem Schreibtisch. Das Spielzeugauto steckt voller Erinnerungen. Die Spatzen im Ginster oder die Schneeflocken, die im Licht der Strassenlaterne tanzen, die sind jetzt. Und das ist der Trick dabei: Zum Autor Ihres Lebens werden Sie, wenn Sie die Gegenwart so wahrnehmen wie Ihre Erinnerungen. Wenn Sie mit so offenen Sinnen aus dem Fenster schauen, dass Sie das, was sie da sehen, hören oder riechen beschreiben könnten.

Als Autorin oder als Autor Ihres Lebens müssen Sie nicht auf Heldentaten warten. Es genügt, wenn Sie sich an die Gegenwart erinnern. Und das ist schon fast ein heldenhafter Vorsatz für das neue Jahr: Erinnerung an die Gegenwart. Was meinen Sie?

Dabei helfen können Ihnen die fünf Bücher, auf die ich zurückgegriffen habe:

  1. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Neuübersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Berlin: Insel Verlag 2022
  2. Döris Dörrie: «Die Heldin reist». Zürich: Diogenes 2022
  3. Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1975.
  4. Gudula Ritz-Schulte, Alfons Huckebrink: Autor des eigenen Lebens werden. Anleitung zur Selbstentwicklung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2012
  5. Doris Dörrie: Leben, Schreiben, Atmen. Zürich: Diogenes 2019

Damit verbunden mein Vorsatz für das neue Jahr: Lassen Sie uns Autorinnen und Autoren unserer Leben werden und erinnern wir uns an die Gegenwart!

Basel 3. Januar 2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: KEYSTONE/DPA/Sven Hoppe
Die Filmregisseurin und Autorin Doris Dörrie Ende Juni 2023 am Filmfest in München.

Jochen Wegner und Christoph Amend: Doris Dörrie, wie erzählen wir die Geschichte unseres Lebens? Interviewpodcast «Alles gesagt», Zeit Online, 18. Dezember 2024; https://www.zeit.de/gesellschaft/2024-12/interviewpodcast-alles-gesagt-doris-doerrie

Ein Kommentar zu "Vom Helden zum Autor des eigenen Lebens"

  1. Jedes Leben ist erzählenswert. Von einfachen Leuten, von normalen Menschen, Agestellten, Selbständigen, Eltern, Pflegenden… ich liebe es.
    Die Zeitung „BZ-Basel“ greift solche Geschichten von meist älteren Mitmenschen der Serie „Was ich noch zu sagen hätte“ auf… Wunderbare Biographien in kurzform, mit weisen Aussagen älterer Mitbürger wie letztin „Mein Ziel ist es, ein gütiges Herz zu haben“ (wie wundervoll einfach und herzergreifend); 10’000 x interessanter wie jede Hochglanzstory über Boris Becker oder Christa Rigozzi, bei denen jeder Satz mit „Ich“ beginnt und die sich mit Luxus-Problemelchen zum Kopfschütteln herumschlagen und jammern….
    Jeder hat was zu erzählen, und seien es auch nur Nichtigkeiten, welche mir lieber sind als jede Prahlerei.
    DOCH: Es gibt nicht genügend Zuhörende mehr. Keine Zeit, Stress, Ich-fokussiert, herzlos und Ellenbogen zählen heute bei Vielen mehr.
    Gottlob gibt es sie aber noch, jene die bereifen, wie wertvoll und fragil das Leben und dessen Geschichten sind. Und jene, welche noch hören können, bemerken das im Kleinen viel mehr steckt als im Grossmauligen der Eliten.
    Schön zu beobachten war dies auch im amerik. Wahlkampf. Während „Flatterhaft-Harris“ wirklich auf ganz Hollywood setzte (welches lückenlos hinter ihr stand und eifrig kassierte) sowie wirklich grosse und zahlreiche Sängerinnen (Adele + Swift) die Trommel rührten, Star-Talkmasterinnen wie Oprah Winfrey zur besten Sendezeit ihr Sympathie-Fragen wie „Welches ist dein liebstes Softeis?“ stellten…. half es 2024 nicht mehr. Denn die pailettengekleideten Ladys und Bling-Bling Herren welche nichts mit der Lebenswirklichkeit der normalen Bewohnenden zu tun haben zogen nicht mehr.
    Uninteressant für Viele. Dort mag man nicht mehr hinhören und hinlesen. Eigentlich ein gutes Zeichen.
    Der künftige Klartext-Präsi setzte higegen mehr auf einfache Mitmenschen, er ging in Podcast-Talks von simplen You-Tubern in Kellerstudios, sprach im Coiffeuersalon in der Bronx mit Einwanderer auf dem Friseurstuhl, stoppte mit seiner Ralley-Karawane immer wieder mal bei Wendy’s, KFC, bei Burger-King und McDonalds, wo er sich gar hinter die Fritteuse stellte und posierte ohne Berührungsangst mit Garbage-Drivern…
    Irgendwie besser. Bodenhaftender. Und erdiger. Masshaltend und mit Bauch, grossem Bauch……
    Totzdem das grosse Leider:
    Abgestumpft sind die Mehrzahl der Empfänger. Also wir.
    Tausend News, Tausend Geschichten, Tausendmal Horror hinterlassen wohl Spuren beim Hörverhalten, Leseverhalten und Lebensverhalten. Man merkt es allüberall: Hätte man mir vor ein paar Jahren gesagt, dass fast 40 verletzte Polizeibeamte und 400 Festnahmen an Silvester allein in Berlin keine große politische und gesellschaftlich-mitmenschliche Debatte auslösen – ich hätte es nicht für möglich gehalten.
    „Danke für den Dienst – auch heute an Neujahr.“ Das war die Twitter-Botschaft des deutschen Bundeskanzlers an Neujahr. Mehr hatte Olaf Scholz (66, SPD) nach dieser Gewaltnacht offenbar nicht zu sagen. Abgestumpfter geht es kaum. Und es begeinnt anscheinend oben. Bei unseren Vorbilder… Den sogenannten.
    Schon als normaler Bürger kann man diese lieblose Floskel befremdlich finden. Aber wie muss das auf die Polizisten wirken, die nur Stunden zuvor ihre Gesundheit riskiert und teilweise geopfert haben? Was sagt dazu wohl der Berliner Beamte, dem laut Polizeimeldung in Neukölln „ein junger Mann auf den Rücken sprang und ihn anschließend trat“, als er kniete?
    Doch das Bitterste ist nicht die Gewalt selbst. Sondern das Gefühl, dass sie keine Folgen hat.
    Stumpf. Hohl. Dunkel.
    In der offiziellen Bilanz der Berliner Polizei findet sich ein Satz, der das auf den Punkt bringt. Ein Jugendlicher beschoss Sanität und Feuerwehr-Kräfte während der Löscharbeit mit Pyrotechnik. Herbeigerufene Polizisten nahmen ihn fest und erfassen seine Personalien. Dann heißt es: „Anschließend wurde der 17-Jährige entlassen.“ Wie soll man da noch auf das Kleine, Feine, auf das „Zwischen den Zeilen“ eingehen. Inne halten. Ruhe und Überlegt sein, dies, was die Welt, was wir alle brauchen. Bitter brauchen?
    Reicht das, um diesen und andere Gewalttäter abzuschrecken? Die Antwort findet sich auf den Pro-Palästina-Demos, wo deutsche Beamte seit anderthalb Jahren fast täglich angegriffen werden. Polizisten werden als Nazis beschimpft, Polizistinnen als Huren. Das geschieht nicht heimlich und versteckt. Die Demonstranten filmen die Polizeibeamten aus nächster Nähe und laden ihre Videos stolz ins Netz hoch, wo ihre Freunde die Polizisten erneut beleidigen und bedrohen dürfen.
    Und es passiert fast (Berlin-Silvester ganze 2 Festnahmen) nichts.
    Wie fühlen sich unsere Polizisten, die dutzendfach einen Kriminellen festnehmen, der offiziell nicht einmal im Land sein darf, der aber immer wieder freikommt? Fühlen sie sich noch als „Freund und Helfer“? Oder schon als Schuhabtreter und Prügelknaben, die auf der Straße für politisches Versagen ihren Kopf hinhalten müssen? Ein Polizist ist am erblinden ob einer Kugelbombe – ein Parkhaus brannte, 97 Wohnungen sind nicht mehr bewohnbar – ES WAR EINE RUHIGE BERLINER NACHT – so die ÖRR-Verschleierberichte von ARD und ZDF…
    Zum Abstellen UND Abstumpfung auch da überall pur.
    H O F F N U N G S S C H I M M E R :
    Seien wir empfangbar. Für alles, Fürs Schöne, Kleine, Feine, Emfpndungen, Anregungen, Gedanken, Ideen, Täumereien. Dann passiert auch Gutes, Schönes, Liebevolles, Lebenswertes.
    Denn =
    dass ist es doch – das Leben leben.

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