Viel Glück?

Publiziert am 8. Januar 2016 von Matthias Zehnder

Viel Glück im Neuen Jahr! Sicher sind Sie in den letzten Tagen diesem Wunsch auch dutzende Male begegnet, auf Karten mit allerlei Glücksymbolen, ausgesprochen von Freunden über einem perlenden Glas Champagner, in Zeitungen und Zeitschriften. Doch was wünschen wir uns eigentlich, wenn wir uns viel Glück wünschen? Was ist Glück – und ist es wirklich erstrebenswert, viel Glück zu haben?

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Auf Deutsch ist das Wort „Glück“ zweideutig. Einerseits kann es das Glück im Spiel meinen, das, was auf englisch „Luck“ heisst, auf Französisch „la bonne chance“ und auf gut Latein „Fortuna“. Andererseits kann „Glück“ die Erfüllung meinen, die auf Englisch „Happiness“ heisst, auf Französisch „bonheur“ und auf Latein „Beatitudo“. Was also wünschen wir uns zu Neujahr – bonne chance oder bonheur? Die Gunst des Zufalls, der uns Geld und Gewinn bringt, oder Erfüllung durch Glückseligkeit? Und ist es vielleicht kein Zufall, dass auf Deutsch die beiden Worte gerne durcheinandergeraten?

Mach es nicht so kompliziert, höre ich Sie sagen. Glück, das ist doch ganz einfach der Gipfel, die Erfüllung. Wäre ein glückliches Leben also ein Leben voller Erfüllung? Kaum. Bergsteiger Reinhold Messner etwa überkam auf dem Gipfel jeweils keine Euphorie, sondern eine Depression. Er bezeichnete es gar als Tragödie, wenn man sein Ziel erreiche und nannte den Berg, von dem er absteige eine „zerstörte Illusion“.

Das kann es ja nicht sein, dass wir uns zu Neujahr „zerstörte Illusionen“ wünschen. Aber was ist Glück dann? Ein Blick in die Buchhandlung hilft (für einmal) nicht viel. Es gibt Tausende von Ratgebern über die Wege zum Glück. In den Büchern geht es aber meistens darum, wie man glücklich wird und nicht darum, was das Glück ist. Vielleicht weiss das die Glücksforschung. Das ist ein neuerer Forschungszweig, der sich in den letzten Jahren etabliert hat – als Teilbereich nicht etwa von Philosophie oder Psychologie, sondern der Ökonomie.

Glücksforscher Karlheinz Ruckriegel ist Professor an der Fakultät für Betriebswirtschaft der Technischen Hochschule Nürnberg. Er versteht unter Glück das subjektive Wohlbefinden eines Menschen – auch und gerade im Hinblick auf seine wirtschaftliche Situation. Macht Geld also doch glücklich? Ruckriegel winkt ab. Seit den sechziger Jahren sei das Pro-Kopf-Einkommen in den westlichen Nationen kontinuierlich gestiegen. Obwohl sich die Menschen heute deshalb mehr leisten können als früher, sind sie aber nicht glücklicher geworden. Es genügt also nicht, das Einkommen zu steigern, um glücklicher zu werden. Es geht um eine Steigerung der Lebensqualität. Und die lässt sich, zumindest nach Meinung der Wirtschaftswissenschafter, sogar messen.

Die OECD hat dafür den „Better Life Index“ entwickelt. Die Menschen in den OECD-Ländern werden zu elf Lebensbereichen befragt und geben an, wie zufrieden sie sind. Die Bereiche umfassen so unterschiedliche Faktoren wie das Haushaltseinkommen und die Mordrate, die Zahl der Arbeitslosen und die Luftqualität, Wohnungsgrösse und Freizeitstunden. Die Schweiz erhält in fast allen Bereichen gute bis sehr gute Noten. Doch macht das die Schweizer wirklich glücklich?

Nicht nur die OECD ist dieser Ansicht. Auch in einer Untersuchung der University of Leicester, die nicht nur ökonomische, sondern auch viele psychologische Faktoren berücksichtigt, schneidet die Schweiz sehr gut ab und belegt hinter Dänemark den zweiten Platz auf der „World Map of Happiness“. Unser Land hat also viele Glücksfaktoren erreicht – aber macht uns das wirklich glücklich?

„Das Glück wird überschätzt“, sagt Wilhelm Schmid, Lebenskunstphilosoph. So viel Glück, wie da angepeilt werde, könne es gar nicht geben und die Erwartungen, die das ständige Labern über Glück hervorrufen, seien heillos übertrieben. Schmid bezeichnet Glücks-Indizes deshalb als „Zumutung“. Es sei Zeit, dass die Welt die Chance entdecke, die im Unglück liege. Glück bringe nichts. „Es ist schön, wenn es uns gelegentlich berührt wie ein Hauch. Aber wenn es zu lange anhält, macht es träge und wir richten uns in einer Zufriedenheit ein, die uns auf Dauer nicht guttut“, schreibt Schmid. Es sei das Unglück, das sensibel, wach und deshalb produktiv mache.

Der Philosoph Martin Seel geht nicht ganz so weit, das Unglück zu propagieren, aber auch er spricht von einer „Paradoxie des Glücks“. Wer Glück sucht, der sucht den Moment der Erfüllung. Auf Dauer wäre diese Erfüllung aber nicht auszuhalten. Seel schreibt, man dürfe die Vorstellung der Erfüllung eines Wunsches nicht mit der tatsächlichen Erfüllung verwechseln. „Wir möchten nicht einfach das bekommen, was wir wollen, wir möchten von unserem Glück zu unserem Glück überrascht werden.“ Dem Wunsch, auf dem Mount Everest zu stehen, kann nichts Schlimmeres geschehen, als dass er rasch in Erfüllung geht. Seel unterscheidet deshalb das episodische Glück, also diese einzelnen Augenblicke der Erfüllung auf die oft und gerne die Depression des Bergsteigers auf dem Gipfel folgt, und ein prozessuales Glück, das in einer bestimmten Art zu Leben besteht.

Ein neuer Gedanke? Keineswegs. Schon die amerikanische Unabhängigkeitserklärung beginnt mit der Feststellung, dass alle Menschen gleich erschaffen worden und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten versehen worden seien, darunter „Life, Liberty and the pursuit of Happiness“ – Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Erst auf den zweiten Blick fällt auf: Die Amerikaner haben nicht etwa ein Recht auf Glück in die Verfassung geschrieben, sondern ein Recht auf das Streben danach.

Und genau das ist wohl der Schlüssel zu einem glücklichen Leben: das Streben nach Glück. Es ist nicht das Erreichen des Gipfels, das glücklich macht, sondern der Weg dahin. Und das bedeutet: Die westliche Leistungsgesellschaft (und ganz besonders die Schweiz) hat es schwer mit dem Glück. Denn wir sind es uns gewohnt, zeitsparende Abkürzungen zu nehmen. Auf den Gipfel führt eine leistungsfähige Seilbahn, das Essen kommt per Fertigmenü auf den Tisch, die Musik kommt aus der Konserve. Wir überspringen den Weg, das Kochen, das Musizieren, weil wir meinen, das Glück liege im Ziel, dabei liegt es im Weg, im Streben nach dem Ziel.

Erich Fromm schreibt: „Glück und Freude ist nicht die Befriedigung eines auf physiologischem oder psychologischem Mangel beruhenden Bedürfnisses; nicht die Beseitigung einer Spannung, sondern die Begleiterscheinung allen produktiven Tätigseins im Denken, Fühlen und Handeln.“ Glück ist es also, ein Ziel zu haben. Oder anders gesagt: Glück ist Sinn zu finden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Glück im neuen Jahr.

5 Kommentare zu "Viel Glück?"

  1. …. endlich kann ich wieder von Ihnen lesen, Herr Zehnder vielen Dank!
    Ihre impulsgebenden, zum Denken anregenden, jedoch nie belehrenden Kommentare in der bz fehlen mir enorm, ich bin auf Entzug und suche in anderen Zeitungen, wo Sie wohl schreiben? und nun bin ich hier findig geworden.

    1. Schön, das freut mich sehr. Ein Tipp: Unter http://www.mathiaszehnder.ch/abo können Sie das Wochenmail zum Wochenkommentar abonnieren. Dann erhalten Sie jeden Freitag nachmittag ein Mail mit ein paar Zusatzinformationen (zum Beispiel ein Hinweis auf ein Buch, das ich für den Kommentar benutzt habe) und den Hinweis auf den aktuellen Kommentar. Einfach einschreiben — und weitersagen 😉
      Herzlich, Matthias Zehnder

  2. Glück kann man auch in der positiven Anwendung der Empathiefähigkeit erfahren: wenn wir anderen Menschen helfen, ihnen Gutes antun, dann können wir selbst Glück empfinden. Empathie ist nicht nur von zentraler Bedeutung im zufriedenstellenden Umgang mit anderen Menschen, empathisch sein zu können ist auch eines der Kernelemente des eigenen Glücklichseins. Nicht der Egoismus macht glücklich und zufrieden, sondern das Mitgefühl, die echte Empathie.

  3. Glück… Ja, Glück, lieber Matthias, liegt bei mir eindeutig im Kleinen und Kleinsten und zwar nicht permanent, sondern immer mal wieder, überraschend, unangemeldet, ein kurzes Gefühl, ein kleiner Moment. Das alles trägt durch den Alltag, und ich bin glücklich, überfallen mich immer wieder unvorbereitet diese Sekunden, in denen meine Augen auf etwas fällt, in denen meine Ohren etwas hören, in denen meine Sinne etwas fühlen, was einfach unbeschreiblich ist.
    Ich wünsche dir viele solche Momente!

  4. Glück ist Sinn finden: Stimmt. Um aus dem zirka-200-Jahre-lang-immer-noch-mehr-Schlamassel herauszukommen, brauchen wir nicht nur gutes Glück und viel Schwein, sondern vor allem auch einen andern Lebenssinn.
    Immer noch mehr Wachstum: Und immer noch mehr Verschleiss!
    Immer noch mehr Armut: Und immer noch mehr Elend!
    Immer noch mehr Kriege: Und immer noch mehr Flüchtlinge!
    Immer noch mehr Fun: Und immer noch mehr Übergriffe!
    Immer noch mehr Fanatismus: Und immer noch mehr Terror!
    Immer noch mehr Strassen: Und immer noch mehr Verkehr!
    Immer noch mehr Gier: Und immer noch mehr….
    Immer noch mehr?
    Immer noch?
    Immer…..
    Einfach besser leben!

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