Verwirrung der Gefühle

Publiziert am 5. April 2024 von Matthias Zehnder

Diese Woche habe ich mich mit dem neuen Buch des deutschen Filmemachers Werner Herzog beschäftigt: «Die Zukunft der Wahrheit» heisst das Buch. Es ist ein autobiographisch gefärbter Essay über die Frage, ob es so etwas wie Wahrheit gibt in der Kunst, der Kultur und natürlich vor allem im Film. Herzog schreibt in seinem Buch, es gebe keine falschen Gefühle. Gefühle seien immer wahr. Als Beweise führt Herzog die globale Gefühlsaufwallung nach dem Tod von Prinzessin Diana an – und die Oper: Die Geschichten, die Opern erzählen, mögen noch so an den Haaren herbeigezogen sein – die Gefühle, die eine Oper im Publikum erzeugt, sind echt. Es gibt keine falschen Gefühle. Die grosse Frage ist: Was bedeutet das für unser Zusammenleben? Heisst das, dass alle Gefühle echt und wahr und damit berechtigt sind? Dass auch Fremdenhass oder Fremdenangst wahre Gefühle sind, die man ernst nehmen muss? Ich glaube nicht. Warum, das sage ich Ihnen diese Woche in meinem Wochenkommentar über die Verwirrung der Gefühle.

Am 22. März hat Prinzessin Kate in einer Videobotschaft verkündet, dass sie Krebs habe. Sogar die konservative «Times» räumte ihre Titelseite frei und informierte über die Krebsdiagnose der Prinzessin.  Der «Daily Mirror» sprach von einem «Cancer Shock», der «Daily Express» von einem «Huge Shock» und «The Sun» versicherte der Prinzession, «you are not alone». Auch auf dem Kontinent bewegt die Krebsdiagnose von Kate die Menschen. Während die «NZZ» schon fast unterkühlt titelt «Prinzessin Kate hat Krebs», sprechen die Berliner Zeitung «B.Z.» und der «Blick» aus der Schweiz von einer «Schockdiagnose» und die «Schweizer Illustrierte» erklärt ihren Leserinnen und Lesern: «Sie will stark sein – für ihre Kinder».

Ganz offensichtlich bewegt die Krebsdiagnose der britischen Prinzessin die Menschen. Und zwar auch Menschen in der Schweiz und in Deutschland fernab der britischen Monarchie. Menschen, die Kate weder je gesehen haben noch je mit ihr zu tun haben werden. Viele dieser Leserinnen und Leser sind erschrocken über die Krebsdiagnose der jungen Frau, ja sogar «geschockt», wie das der «Blick» schreibt. Sie fühlen mit der Prinzessin mit, sind vielleicht traurig oder angespannt. Und das alles, weil vor allem Boulevardzeitungen gekonnt auf die Tränendrüsen drücken. Sind diese Gefühle also falsch?

Falsche Bilder, echter Schmerz

Nein, sagt Werner Herzog in seinem neuen Buch: Es gibt keine falschen Gefühle. Gefühle sind immer echt, auch wenn sie einer Ikone wie Prinzessin Kate oder Princess Diana gelten, einem Bild also, das mit der Realität wenig zu tun hat. Die Betroffenen würden ihm sicher zustimmen: Als Diana starb, haben sie geweint und echte Tränen vergossen, jetzt sind sie wirklich ergriffen von Kates Krebsdiagnose. Sie fühlen den Schmerz, die Gefühle sind echt. Was heisst das? Gibt es wirklich keine falschen Gefühle, wie Werner Herzog schreibt? Müssen wir also jedes Gefühl ernst nehmen und so stehen und damit wirken lassen?

Wenn das so ist: Haben die Politiker also recht, die sagen, man müsse die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen? Müssen wir alle Gefühle von allen Menschen immer ernst nehmen? Aber was machen wir dann mit dem fanatischen Hass eines Antisemiten, mit der unerwiderten, selbstzerstörerischen Liebe eines jungen Menschen, mit Flugangst, Spinnenphobie und Panik? Lassen wir das alles so stehen, weil wir es ernst nehmen und es keine falschen Gefühle gibt? Irrt also Stefan Zweig, wenn er von der «Verwirrung der Gefühle» schreibt?

Wie echt ist der Fremdenhass?

Werner Herzog hat schon recht, wenn er schreibt, Gefühle seien immer echt. Das Problem ist nur: Das gilt nur für den Menschen, der sie empfindet. Wer Platzangst hat, spürt ganz reale Angst, wenn er oder sie einen engen Fahrstuhl betritt. Das Gefühl kann so beklemmend sein, dass das Herz schneller schlägt und vielleicht sogar Schweisstropfen auf die Stirn treten. Das Herzrasen und die Schweisstropfen sind real, da können die Begleiter noch so locker erklären, dass der Fahrstuhl sicher sei. Oder Flugangst: Wer von einer Panik-Attacke heimgesucht wird, wenn der Pilot Schub gibt, dem nützt es nichts, wenn der Sitznachbar versichert, mit der Ankunft am Flughafen habe er den gefährlichsten Teil der Flugreise schon hinter sich. Wer Angst hat vor Spinnen, muss sich nicht fragen, ob die Angst echt ist. Höhenangst kann so intensiv sein, dass der oder die Betroffene einen Schwindelanfall erleidet und sich nicht mehr aufrecht halten kann. Kein Zweifel: Diese Gefühle sind real und echt. Es sind wahre Gefühle.

Wenn Gefühle immer echt und wahr sind, müssen Politiker also die Gefühle der Bürgerinnen und Bürger immer ernst nehmen, auch wenn es sich dabei um Fremdenangst oder gar Fremdenhass handelt? Wenn wir der Logik der Echtheit von Gefühlen folgen, dann handelt es sich ja auch dabei um echte Gefühle. Was nun? Offensichtlich ist blinder Hass kein Gefühl, dem wir uns hingeben sollten, auch wenn es sich innerlich so echt anfühlt wie jedes andere Gefühl. Wir sollten uns im Gegenteil davor hüten, dass wir uns von solchen Gefühlen leiten lassen. Doch das ist gar nicht so einfach. Gefühle sind schnell bei der Hand und Denken ist langsam und anstrengend.

Schnelles Fühlen, langsames Denken

Systematisch gezeigt hat das der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman. Letzte Woche ist er gestorben. Bekannt wurde er mit seinem Buch «Schnelles Denken, langsames Denken». Darin und in seinen Forschungen hat er gezeigt, dass wir Menschen in aller Regel nicht langsam und sorgfältig denken und urteilen, sondern schnell, intuitiv und emotional. Kahneman hat bewiesen, dass wir nicht der Homo oeconomicus sind, für den uns die Wirtschaft immer gehalten hat. Wir sind keine rein rational agierenden Menschen, die kühl kalkulieren, wir handeln vielmehr intuitiv, basierend auf Vorurteilen, Kurzschlüssen und Generalisierungen. Anders gesagt: Wir handeln viel emotionaler, als wir denken. Gefühle sind schnell bei der Hand, Denken ist anstrengend. Besonders anstrengend wird es, wenn man durch Denken im Nachhinein zu einem anderen Urteil kommt. Das versuchen die meisten Menschen zu vermeiden – und beginnen gar nicht erst, über ihre schnellen, emotionalen Urteile nachzudenken.

Seine eigenen Gefühle nimmt jeder Mensch also ernst und traut ihnen oft mehr als dem eigenen Verstand. Das Problem dabei ist natürlich das Wort «eigen»: Die Menschen trauen den eigenen Gefühlen. Denn die sind zwar immer wahr, aber eben immer nur für den, der sie empfindet. Gefühle sind Teil einer inneren Welt, die prinzipiell von Aussen nicht zugänglich ist. Man kann Angst, Wut, Trauer, Vertrauen, Ekel, Überraschung, Neugierde oder Freude nicht messen wie die Körpertemperatur. Das heisst: Sie lassen sich nicht objektivieren. Ja, sie sind wahr, aber immer nur für den Menschen, der sie empfindet. Was tun?

Antworten von Mark Aurel

Ich persönlich suche Hilfe bei den Stoikern, bei Epiktet und Mark Aurel, also dem römischen Kaiser Marcus Aurelius, der von 121 bis 180 lebte und seit 161 als Kaiser das römische Reich regierte. In seinen Selbstbetrachtungen schreibt Mark Aurel, dass Gefühle ein natürlicher Teil des Menschseins seien. Er sah sie nicht als etwas, das man unterdrücken oder vermeiden sollte, sondern als etwas, das man verstehen und akzeptieren sollte. Fast 2000 Jahre vor Daniel Kahneman warnte Mark Aurel aber davor, dass Gefühle uns täuschen können und uns manchmal zu unvernünftigen oder schädlichen Handlungen verleiten. Er war überzeugt, dass wir unsere Gefühle durch unsere Gedanken und Handlungen beeinflussen können. Indem wir unsere Urteile über die Welt ändern, können wir auch unsere emotionalen Reaktionen ändern.

Er schrieb: «Wenn äussere Dinge dich belasten, dann ist es nicht das Ding an sich, welches das Gefühl der Belastung hervorruft, sondern nur dein Urteil darüber. Und das kannst du jederzeit ändern. Und wenn innere Dinge dich belasten, wer sollte dich daran hindern, sie in günstigerem Licht zu sehen?» Das Ziel der stoischen Philosophie nach Mark Aurel ist die Gelassenheit apatheia. Gelassenheit meint nicht, dass man keine Gefühle mehr hat, sondern dass man sich von ihnen nicht beherrschen lässt. Das ist der springende Punkt. Mark Aurel sagt: «Halte dich nicht auf mit dem, was deine unmittelbaren Eindrücke dir sagen.» Und weiter: «Ist die Gurke bitter? Wirf sie weg. Sind da Dornen auf dem Weg? Weiche ihnen aus.»

Sei kein Opfer Deiner Gefühle

Jetzt sagen Sie vielleicht: Aber wenn ich doch Flugangst habe… Mark Aurel würde sinngemäss sagen: Dann nimm den Zug. Oder besuch einen Kurs gegen Flugangst. Dich dem Gefühl hinzugeben, bringt Dich nicht weiter. Das Gefühl ist zwar echt und deshalb wohl auch wahr, aber Du musst nicht Opfer Deiner Gefühle bleiben. Das Gefühl entsteht in Dir, in Deinem Inneren, also kannst Du auch da ansetzen, um es zu verändern oder zu überwinden.

Und was ist mit den Politikern, die sagen, man müsse die Ängste und damit die Gefühle der Bevölkerung ernst nehmen? Sie haben schon recht: Sie müssen die Gefühle ernst nehmen. Das heisst aber nicht, dass sie Ängsten, Hass und Zwietracht nachgeben sollen. Wir sollten Hass und Zwietracht also so ernst nehmen wie einen Erdrutsch, der eine Strasse verschüttet hat: Ziel muss es sein, Wege zu finden, das Hindernis, also diese Gefühle zu überwinden.

Wie kommen wir dahin? Auch darauf haben die Stoiker eine Antwort. Die höchste Tugend ist für sie Wissen statt Meinung. Gemeint ist damit weniger das Sachwissen, wie es Wikipedia zur Verfügung stellt, sondern das, was sich aufgrund von langsamem Denken nach Kahneman einstellt. Meinungen kann jeder haben und zwar schnell. Meinungen beruhen meistens auf Gefühlen, Annahmen und Vorurteilen. Der Wissende aber folgt seinem Verstand und denkt eigenständig. Er prüft seine Gedanken, wägt Argumente und Erfahrungen ab und kommt erst dann zu einem Urteil.

Niemand lebt lange

Mark Aurel schreibt im zweiten Buch seiner Selbstbetrachtungen: «Begegne jedem Problem, das sich dir stellt, mit der Beharrlichkeit eines Römers und Mannes, mit gewissenhafter und ungekünstelter Güte, mit Zuneigung für andere, Freigebigkeit und Gerechtigkeit. Verschwende auf alle anderen Eindrücke keine Zeit. Das wird sich von selbst ergeben, wenn du jede Handlung so ausführst, als wäre sie die letzte deines Lebens.» Er sagt also: Nimm jedes Problem ernst, sei gewissenhaft und gerecht und geh das Problem mit Zuneigung für andere an. Als Übung stell Dir vor, dass das, was Du tust, die letzte Handlung deines Lebens sei. Handle mit Beharrlichkeit und ungekünstelter Güte. Das sagt Marcus Aurelius, also kein weltfremder Spinner, sondern der römische Kaiser, ein erfahrener und erfolgreicher Politiker. Grund genug für unsere Politiker, die Worte ernst zu nehmen.

Und was bedeutet das für die Wahrheit der Gefühle von Werner Herzog und was heisst es in Bezug auf den «Krebs-Schock» von Prinzessin Kate? Mark Aurel sagt, ebenfalls im zweiten Buch, dass man sich nicht «entehren» und sein «Glück von den Seelen anderer abhängig» machen soll. «Denn niemand lebt lange, und dein Leben ist fast schon vorüber.» Also: Lass Dich nicht ablenken von Deinem Leben, kümmere Dich um die Dinge, die wirklich wichtig sind für Dich und Deine Liebsten. Ich vermute, dass der Gesundheitszustand einer Prinzessin eher nicht dazu gehören.

Basel, 5. April 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

Bild: KEYSTONE/AVALON/BBC Studios / Avalon

Catherine, die Prinzessin von Wales, hat eine persönliche Videobotschaft aufgezeichnet, in der sie über ihre Krebs-Erkrankung informierte. Die Videobotschaft ist am 20, März 2024 in Windsor aufgezeichnet worden.

Epiktet (2019): Über die Kunst der inneren Freiheit. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von A. A. Long. München: FinanzBuch Verlag 2019.

Herzog, Werner (2024): Die Zukunft der Wahrheit. München: Hanser Verlag 2024

Kahneman, Daniel (2012): Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler Verlag 2012

Schriefl, Anna: Stoische Philosophie. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam Verlag 2019. (Reclams Universal-Bibliothek)

Waterfield, Robin; Aurel, Mark (2022): Selbstbetrachtungen. Kommentierte Edition von Robin Waterfield. München: FinanzBuch Verlag 2022.

2 Kommentare zu "Verwirrung der Gefühle"

  1. Angst, Freude, Scham, Trauer, Wut: fünf Gefühle. Vier davon können krank machen. Freude erhält gesund. Hier dazu der Schluss meines Beitrags „Vom Glauben an die Liebe“ für DAS BLATT vom April:
    Ängste und das Chaos,
    Ohnmacht und ein sich Schämen,
    Trauer und Zerstörungswut:
    Alles aus dem Kopf raus lassen.
    Und ihn für das Licht des Himmels frei und offen halten,
    um aus und in Liebe von Herzen mit Freude zu leben.

  2. 1.) Jeder Tag bringt Neues: M.Zehnder liest „Schweizer Illustrierte“
    2.) Falsche Gefühle sind getrimmt und frombar. Duch tagtäglich-Meldungen wie https://www.oe24.at/welt/mann-sticht-in-supermarkt-mit-messer-auf-4-jaehrige-ein/590784822 enststeht Fremdenhass-Gefühl.
    3.) Nebenschauplatz Gefühle hat der West-Welt-Mensch zuhauf (Prinzessin Kate usw)
    Echte Gefühle sind frei – und manchmal schwer zu ertragen bis unerträglich bis Schnaps+Cigarette….

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