Unsere leichtgläubige Gesellschaft

Publiziert am 28. März 2024 von Matthias Zehnder

Ich schreibe diese Zeilen am Gründonnerstag, also am Tag vor Karfreitag und damit vor den wichtigsten kirchlichen Feiertagen der christlichen Konfessionen. Am Karfreitag gedenken die Christen der Kreuzigung von Jesus von Nazareth, an Ostern feiern sie seine Auferstehung. Für gläubige Menschen bilden diese Tage das Zentrum ihrer Religion. Für alle anderen sind es einige willkommene Ferientage. Die Folgen sind kilometerlange Staus am Gotthard und voll besetzte Züge. Feiertage sind zu blossen Freitagen geworden, weil Religion in unserer Gesellschaft nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Wer meint, damit habe sich der Glaube aus der Welt verabschiedet, irrt sich aber ganz gewaltig. Die Menschheit weiss zwar immer mehr und dieses Wissen ist immer einfacher verfügbar, das heisst aber nicht, dass der einzelne Mensch sich nur auf sein Wissen beschränken könnte. Was Realität ist, hängt im Gegenteil sehr stark davon ab, was wir glauben. Weil das, was die Menschen glauben, heute so individuell und persönlich ist, haben wir uns nicht in eine besonders rationale, sondern in eine besonders leichtgläubige Gesellschaft verwandelt. Mein Wochenkommentar vor Ostern zu Glaube und Realität.

Seit 1874 garantiert die Bundesverfassung die Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Schweiz. Seither hat sich die Gesellschaft schrittweise säkularisiert: Kirche und Staat haben sich getrennt, die Zahl der Kirchenmitglieder ging zurück, die Bedeutung der Religion im Alltag nahm ab. Im Januar hat das Bundesamt für Statistik Schlagzeilen mit der Feststellung gemacht, dass Konfessionslose erstmals die grösste Bevölkerungsgruppe in der Schweiz sind. Im Kanton Basel-Stadt gehören bereits 57 Prozent der Wohnbevölkerung keiner Religionsgemeinschaft mehr an.

Wir leben in einer säkularen Gesellschaft, in der Religion zwar noch in Form von Traditionen und Feiertagen präsent ist, darüber hinaus aber keine grosse Rolle mehr spielt. Daraus zu folgern, dass die Menschen nichts mehr glauben, wäre aber grundfalsch. Unsere Gesellschaft baut zwar auf die Aufklärung und den Rationalismus und damit auf die Wissenschaft und den Verstand. Sie belächelt Religion, Mystik und Rituale und setzt auf Effizienz und Empirie. Die Gesellschaft ist aber nur vordergründig so rational. Im Kern spielt der Glaube nach wie vor eine grosse Rolle.

Die Realität ist das, was nicht weggeht

Diese Woche bin ich einem Satz von Philip K. Dick begegnet, einem amerikanischen Science-Fiction-Autor. Er sagte: «Die Realität ist das, was nicht weggeht, auch wenn man nicht daran glaubt.» Der Satz bringt den Empirismus auf den Punkt. Auf den ersten Blick ist das nichts als vernünftig: Natürlich existiert die Realität unabhängig von unseren Überzeugungen. Ob wir an die Schwerkraft glauben oder nicht, spielt keine Rolle. Der Apfel fällt so oder so zu Boden. Also: Weg mit dem Glauben. Aber ist es wirklich so einfach? Lässt sich das Glauben wirklich aus dem Alltag verbannen? Ich denke nicht. Und zwar aus drei Gründen.

1) Glauben ist effizienter. Wir können nicht immer alles hinterfragen und nach Beweisen suchen. Natürlich können Sie beim Einkaufen jedes Lebensmittel untersuchen, die Zutatenliste prüfen, die Produzenten abklären, die Lieferkette konsultieren – nur kämen Sie dann nie über das erste Regal hinaus. Das gilt auch für den Umgang mit anderen Menschen: Wenn Sie einem Menschen einmal Vertrauen geschenkt haben, glauben Sie ihm. Das ist effizienter, als immer jedes seiner Worte auf die Goldwaage zu legen.

2) Glauben ist wirksam. Es macht zum Beispiel einen grossen Unterschied, ob wir an die Wirksamkeit eines Medikaments glauben oder nicht. Eine gut geführte Behandlung mit Placebos kann selbst dann wirksam sein, wenn der Patient weiss, dass er ein Placebo einnimmt. Umgekehrt kann ein Nocebo-Effekt den Zustand eines Patienten objektiv verschlechtern, weil er es glaubt. Die Effekte funktionieren selbst dann, wenn man sich das Medikament nur vorstellt. Basler Forscher haben im Rahmen einer Studie festgestellt, dass eine solche imaginäre Pille deutlich gegen Prüfungsangst wirkt, wenn sie ritualisiert eingenommen wird. Weil die Probanden daran glauben, wirkt ihre Handlung. Der Glaube wirkt.

3) Glauben ist nötig. Längst nicht alles in unserer Welt ist im wörtlichen Sinn so objektiv wie ein Apfel. Immer grössere Teile unserer Welt bestehen nur noch medial. Das heisst: Immer grössere Teile unseres Erlebens beruhen nicht auf direkten Erfahrungen mit Objekten wie einem Apfel, sondern mit Darstellungen davon in Medien. Wir haben es also immer häufiger nicht mit einer objektiven Wirklichkeit zu tun, sondern mit einer Vorstellung davon. Und das heisst: Wir leben alle immer stärker in einer imaginären Welt. Einer Welt, die nur funktioniert, weil wir daran glauben.

Bankkonto statt Geldspeicher

Nehmen wir mein Geld. Der grösste Teil davon liegt auf einem Bankkonto. Und das heisst: Es besteht aus einer Zahl im Datenspeicher eines Computers. Das Wort «Konto» kommt vom italienischen Wort «conto», das bedeutet «Rechnung». Eine Bank ist eben kein Geldspeicher wie der berühmte Panzerschrank von Dagobert Duck, sondern nur ein Haus voller Rechnungen. Der Eintrag im Datenspeicher des Computers funktioniert als Geld, weil wir es alle glauben. Es funktioniert auch nur so lange. Kommen Zweifel auf, kommt es zum Bankrun: Die Menschen rennen zur Bank und wollen ihr Geld bar auf die Hand haben. Das geht aber auch in besten Zeiten nicht, weil die Banken gar nicht in der Lage sind, all die Eintragungen auf ihren Computern in reales Geld zu verwandeln. Banken funktionieren nur so lange, wie wir alle glauben, dass sie funktionieren. Banken unterscheiden sich also gar nicht so sehr von den Experimenten der Psychologen an der Universität Basel mit der imaginären Pille.

Das gilt nicht nur für Banken. Wir glauben im Alltag viel mehr, als wir glauben. Nur wenig ist so objektiv wie ein Apfel. Philip K. Dick irrt, wenn er sagt: «Die Realität ist das, was nicht weggeht, auch wenn man nicht daran glaubt.» Richtig ist wohl eher: «Die Realität ist das, wovon wir glauben, dass es die Realität ist.» Oder etwas kürzer gesagt: «Die Realität ist das, woran wir glauben.» Und weil Ostern ist, können wir den Satz auch umkehren: «Was wir glauben, ist Realität.» Es ist nicht die Realität, die den Glauben ausmacht, sondern umgekehrt: Der Glaube macht die Realität. Wie bei der imaginären Pille unserer Basler Psychologen.

Trend zur personalisierten Religion

Und was ist mit der Feststellung des Bundesamts für Statistik, dass die Konfessionslosen in der Schweiz die grösste Bevölkerungsgruppe sind? Es bleibt wohl nur eine Aussage über die Kirchenmitgliedschaft. Es bedeutet, dass Glaube individualisiert ist. Bei Lichte besehen ist das kein Abschied vom Glauben, sondern blosser Eklektizismus: Viele Menschen stellen sich eine personalisierte Religion zusammen, indem sie Elemente aus verschiedenen Religionen und spirituellen Wegen auswählen. Sie verabschieden sich von den grossen Traditionen und den tradierten Erzählungen und stellen Individualismus und Selbstverwirklichung ins Zentrum. Der Glaube spielt in unserer Gesellschaft heute vielleicht der starken Medialisierung wegen sogar eine grössere Rolle als früher.

Vielleicht wehren Sie sich jetzt und sagen, dass man religiösen Glauben und den Glauben, dass die Banken funktionieren, nicht vermischen dürfe, dass also «glauben an» etwas anderes sei als «glauben, dass». Natürlich impliziert «glauben an» eine tiefere, persönlichere Bindung oder Überzeugung. «Glauben dass» ist stärker auf konkrete Sachverhalte oder Annahmen ausgerichtet. Man könnte aber auch sagen, dass «glauben an» aus vielen einzelnen Aspekten von «glauben dass» besteht. Diese einzelnen Glaubensaspekte sind die Legosteine, aus der sich das «glauben an» zusammensetzt.

Lego-Leichtgläubigkeit

Eklektizismus besteht nun oft darin, dass die Menschen sich ein personalisiertes Set solcher Legosteine zusammenstellen. Die Summe der Legosteine ergibt kein stimmiges «glauben an» mehr, sondern nur noch ein personalisiertes Legohäuschen. Ist das aufgeklärter und rationaler als der Glaube an eine der grossen Religionen? Ich glaube nicht. Im Gegenteil. Ich stelle eher fest, dass auf Ebene der «glauben dass»-Legosteine die Bereitschaft zugenommen hat, irgendwas zu glauben. Die Folge ist eine neue Leichtgläubigkeit. Eine Lego-Leichtgläubigkeit.

Es ist eine Leichtgläubigkeit im doppelten Sinn: Die Menschen glauben leicht, sind also einfach zu verführen. Und das, was sie glauben, hat wenig Gewicht. Es ist kein ausgebautes Glaubenshaus, sondern nur ein paar leichte Legosteine.

Mehr Thomas

Meine Lieblingsfigur in der Ostergeschichte ist Thomas. Das ist einer der Jünger von Jesus und er ist alles andere als leichtgläubig. Als Jesus den anderen Jüngern nach seiner Auferstehung erschien, war Thomas nicht anwesend. Als die Jünger Thomas von der Auferstehung erzählten, zweifelte er und sagte, dass er es nur glaube, wenn er seine eigenen Finger in die Wundmale von Jesus legen könne. Thomas wird deshalb oft als der Ungläubige gesehen, als Zweifler, der nicht glauben will. Doch das stimmt nicht. Es ist nicht so, dass Thomas nicht glauben will. Thomas kann nicht einfach so glauben, was seine Freunde ihm erzählen. Und das heisst: Thomas ist nicht leichtgläubig – und lässt sich deshalb auch nicht so schnell von dem abbringen, was er glaubt.

Ich meine deshalb, wir sollten uns, gerade heute, Thomas zum Vorbild nehmen. Aufklärung und Rationalismus, Wissenschaft und Verstand reichen nicht aus. Wir brauchen, gerade im Umgang mit der Realität, auch Glauben. Weil es effizienter, weil es wirksamer und weil es nötig ist. Denn Realität ist das, was wir glauben. Gerade weil das, was wir glauben, so wichtig ist, sollten wir uns vor Leichtgläubigkeit hüten.

Basel, 28. März 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: Grégoire Huret (1664): «Jésus fait toucher ses plaies à St Thomas». Aus: «Théâtre de la Passion de Notre Seigneur Jésus Christ», Bild 28. The Metropolitan Museum of Art, New York.

Buergler, Sarah et al. (2023): Imaginary pills and open-label placebos can reduce test anxiety by means of placebo mechanisms. In: Sci Rep 13/1. doi:10.1038/s41598-023-29624-7. [10.1038/s41598-023-29624-7; 28.3.2024].

Stallmach, Lena (2023): Imaginäre Pillen: Placeboeffekt Funktioniert Auch Ohne Placebo. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/wissenschaft/imaginaere-pillen-der-placeboeffekt-wirkt-auch-ohne-placebo-ld.1759077; 28.3.2024].

4 Kommentare zu "Unsere leichtgläubige Gesellschaft"

  1. Es gibt die dummen Gläubigen: sie glauben an Glanz und Gloria. Den gleichgültigen Gläubigen fehlt die Kraft des Glaubens. Die schlauen Gläubigen glauben an das, was ihnen nützt. Die gut Gläubigen glauben aus und in Liebe: sie können sich von Herzen am Leben freuen. Wenn letztere in der Minderheit sind, wird es in und mit der Welt schwierig oder gar tödlich.

    1. Antwort an U. Keller:
      Welch treffende Auslegeordnungs-Liste:
      Die „dummen“ (=einfältigen) Gläubigen (banal liebenswert)…
      Die Gleichgültigen (beängsitgend viele…)
      Die Schlauen (kalül-raffiniert-schlimm; von unserem System mit der stets gefüllte Golden-Credit-Card belohnt)…
      Die Gläubigen aus und in Liebe (Licht, Wärme, Hoffnung, Empathie, mit gütigem Herzen, Grosszügig und *Friedenshoffend). Sie werden Überhand gewinnen. Ich glaube daran!!!
      (Apropos *Frieden: Wo sind all die weissen Tauben, die Oster-Friedensmärsche, die (Schweizer) „Frauen für den Frieden“, der Dreiland-Friedensmarsch… jahrelang marschiert, skandiert, demonstriet… wenn nicht jetzt, wann dann? Alle mucks-ducks-still = Ihnen wohl Anti-Rechtsschwurbler-Putinist-Image wichtiger als „verpönten“ Frieden… An was glauben dann jetzt all diese irdischen Show-Friedensengel?… Wohl an den Doppelmoral-Osterhasen, es kann nicht anders sein)…
      Gesegnete Ostern und friedvolles Sein allüberall….

  2. Ersetze im Kommentar einmal versuchsweise „Glauben“ durch „Vertrauen“. Das könnte das Verständnis, worum es geht, noch etwas verbreitern: Ohne Vertrauen würden unsere Familien und alle Formen von Gemeinschaft nicht funktionieren, ein demokratischer Rechtsstaat nicht, und die Wirtschaft schon gar nicht. Die alten Germanen hatten ein ganz kurzes Sprichwort, das mich schon lange begleitet: „Trau schau wem“. Wieviel Schaden und Enttäuschung könnten wir uns sparen, würden wir das beherzigen. Und uns das Vertrauen nicht von den (eigentlich nur wenigen) lauten Leuten rauben lasssen, die es untergraben und für ihre eigenen Zwecke missbrauchen.

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