Unsere kranke Gesellschaft

Publiziert am 6. März 2020 von Matthias Zehnder

In Krisen zeigen die Menschen ihre besten Seiten – und ihre schlechtesten. Unsere Gesellschaft zeigt gerade eher ihre schlechten Seiten. Medien melden Erkrankte im Liveticker wie Tore in einem Fussballspiel. Die Corona-Panik führt zu Abschottung, Verdächtigungen und einem Klima der Angst. Die Angst vor der Krankheit ist derzeit grösser als die Gefahr. Die Angst ist so gross, dass die Gesellschaft sich krank macht. Wir sind im Begriff, das über Bord zu werfen, was das Leben ausmacht: die Menschlichkeit. Deshalb: Seid rücksichtsvoll, wascht die Hände, hustet in den Ellenbogen, aber hört nicht auf zu leben!

Die Welt ist verrückt. Im wörtlichen Sinn: sie ist abgerückt von Vernunft und Augenmass. Man könnte meinen, das Corona-Virus habe die Lage komplett auf den Kopf gestellt. Die Welt sei vorher weiss gewesen und jetzt sei sie schwarz. Das Leben sei vorher sicher gewesen und jetzt sei es gefährlich. Ja, es scheint, als sei vielen Menschen erst jetzt aufgegangen, dass das Leben lebensgefährlich ist. Die Medien tragen mit der Fokussierung auf das Virus das ihre dazu bei. Sie haben auf ihren Newsticker-Seiten Corona-Zähler eingebaut. Da zählen sie Infizierte, Tote und Geheilte – wie Torschüsse, Tore und Eckbälle in einem Fussballspiel.[1] Es ist verrückt.

Doch es ist keineswegs so, dass das Leben vor dem Corona-Virus sicher war und jetzt ist es gefährlich. Schauen Sie sich die Risikogruppen an. Als besonders gefährdet gelten Menschen, die älter sind als 65 Jahre oder Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen, schwachem Immunsystem oder Krebs. Das sind etwa dieselben Menschen, die auch als Risikogruppe bei der saisonalen Grippe gelten.[2] Oder bei anderen Erkrankungen. Es sind Menschen, auf die wir ohnehin Rücksicht nehmen müssen. Oder besser: müssten.

Armutszeugnis für die Gesellschaft

In der Grippesaison 2018/2019 haben in der Schweiz 209’200 Personen wegen einer grippeähnlichen Erkrankung eine Hausärztin oder einen Hausarzt konsultiert. Das entspricht rund 2,5% der Bevölkerung. Und das war eine vergleichsweise milde Grippesaison. 3,4% aller gemeldeten Grippeverdachtsfälle hatten eine Lungenentzündung, als sie den Arzt konsultierten – bei den über 64jährigen war es sogar jeder Zehnte. Fast 5% der über 64jährigen Grippepatienten mussten hospitalisiert werden. Jedes Jahr sterben hunderte Menschen in der Schweiz an der saisonalen Grippe.[3]

Gegen die saisonale Grippe gibt es eine Impfung. Die Durchimpfrate ist in der Schweiz aber selbst bei Risikogruppen tief (25–30%). Von der Impfung abgesehen helfen gegen eine Grippeansteckung dieselben Vorsichtsmassnahmen wie gegen das Coronavirus: Hände waschen und desinfizieren, in den Ellbogen husten, bei Krankheit zu Hause bleiben. Es ist mit anderen Worten ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, dass viele Leute diese Vorsichtsmassnahmen erst jetzt ernst nehmen. Wer weiss, wieviele grippe-Ansteckungen (und Grippe-Tote) sich verhindern liessen, wenn die Menschen sich immer die Hände waschen würden.

Nationalismus statt Offenheit

Nationalisten fühlen sich durch die Viruskrise bestätigt: Das Virus kommt aus dem «Ausland». Die offenen Grenzen sind das Problem. Entsprechend haben Marine Le Pen in Frankreich, Matteo Salvini in Italien und der Tessiner Lega-Nationalrat Lorenzo Quadri schon früh gefordert, man müsse die Grenzen schliessen.[4] Abschottung und Nationalismus sind aber nicht die Lösung des Corona-Problems, sondern ein Teil seiner Ursache. Aus nationalistischen Gründen haben die Behörden im chinesischen Wuhan zu Beginn nicht das Virus bekämpft, sondern die Fachleute, die vor dem Virus warnten. Donald Trump hat schon im letzten Mai die Fachleute entlassen, die von der Obama-Administration nach der Ebola-Krise angestellt worden waren, um Epidemien zu bekämpfen.[5]

Den besten Schutz gegen das Virus bieten transparente Information und internationale Zusammenarbeit der Fachleute. Beides gehört nicht zum Repertoire von Nationalisten. Die Angst vor dem Virus führt auch im Alltag zu Ausgrenzung und rassistischem Verhalten. Ein Mensch mit chinesischen Gesichtszügen der niest? Gefährlich! Ein italienisch sprechender Mensch, der hustet? Verdächtig! Die Angst vor Ansteckung korrumpiert. Doch ob Italiener, Chinese oder Schweizer – alle sind wir gleich gefährdet. Wichtiger als Hautfarbe oder Herkunft ist, dass man sich die Hände wäscht.

Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens

Sorgen machen muss uns dagegen etwas anderes. Im Kanton Basel-Stadt sind (Stand Freitagnachmittag) erst ein Dutzend Krankheitsfälle registriert, in der Medienkonferenz des Kantons sprach Spitaldirektor Werner Kübler aber bereits von einer Überlastung des Universitätsspitals Basel. Das Spital sei auch ohne Coronavirus schon voll. Und genau das ist das Problem: Unser ökonomisiertes Gesundheitswesen ist so aufgestellt, dass die Auslastung von Spitälern und Arztpraxen möglichst hoch ist. Nur dann können jene Renditen erwirtschaftet werden, die es braucht, damit die Spitäler etwa ihre Gebäude abzahlen können. Schon der Beginn einer ausserordentlichen Situation bringt die Spitäler an den Anschlag. Das kann doch nicht sein.

Ähnlich präsentiert sich die Situation bei den Medikamenten und Desinfektionsmitteln: Die Krise hatte kaum begonnen, da waren keine Desinfektionsmittel mehr erhältlich. Viele Medikamente sind schon im Normalfall nicht mehr lieferbar, weil weltweit nur noch ein oder zwei Hersteller (oft in China) die Medikamente produzieren. Wenn da Probleme auftreten, können die Hersteller nicht liefern. Schon vor der Coronakrise waren in der Schweiz über 600 Medikamente nicht lieferbar.[6] Und das im Pharmaland Schweiz. Der Grund: Es lohnt sich nicht mehr, die Medikamente in der Schweiz herzustellen. Die Schweiz ist in der Lage, ihre Landwirtschaft zu schützen und die Konsumenten zu zwingen, teure Schweizer Kartoffeln oder teure Schweizer Milch zu kaufen, aber unser Land ist nicht in der Lage, für eine Versorgung mit wichtigen Medikamenten zu sorgen? Das kann doch nicht sein.

Die Angst ist grösser als die Gefahr

Vor allem aber grassiert derzeit die Angst. Die Angst vor dem Virus und vor Ansteckung. Wir haben verlernt, mit Krankheit umzugehen. Krankheit ist in unserer Gesellschaft ein Fall für eine Pille. Ich erinnere mich an einen Werbespot aus den 80er Jahren für Spalt-Schmerzmittel. Bildschirmfüllend war eine Tablette zu sehen mit einem Spalt in der Mitte. Die Tablette drehte sich um 90 Grad, wie ein Schalter. Dazu war ein entsprechendes Geräusch zu hören und ein Sprecher sagte: «Spalt! Schaltet den Schmerz ab! Schnell!» Genauso stellen wir uns Medizin vor. Krankheit, das ist etwas, das man mit einer Tablette abschalten kann. Schnell!

Mindestens geben wir uns dieser Illusion hin. Denn jeder Arzt oder Apotheker weiss: Ohne Medikamente dauert eine Grippe sieben Tage – mit Medikamenten dauert sie eine Woche. In den allermeisten Fällen schalten wir mit den Tabletten vielleicht den Kopfschmerz ab. Die Grippe wird deswegen nicht kürzer. So oder so muss das Immunsystem mit den Viren fertig werden. Dass es, wie jetzt beim Coronavirus, kein Medikament gibt, das die Krankheit abschaltet, das verunsichert. Bei Virenerkrankungen ist das aber häufig so. Das Abschalten von Krankheiten ist eine Illusion. Wir müssen wieder lernen, dass Krankheit dazugehört. Das Kranke an unserer Gesellschaft ist, dass sie immer gesund sein will. Zu einer gesunden Gesellschaft gehört auch die Krankheit. Doch davor haben wir Angst.

Derzeit grassiert vor allem die Angst vor dem Virus. Es besteht die Gefahr, dass wir vor lauter Angst, das Leben zu verlieren, genau das über Bord werfen, was das Leben lebenswert macht: die Menschlichkeit, soziale Kontakte, Begegnungen – womöglich sogar Freundschaften. Lasst uns nicht aus Angst vor dem Tod das Leben über Bord werfen. Wir reden nicht von Beulenpest und Cholera. Das Coronavirus ist für jene Menschen gefährlich, auf die wir ohnehin besonders Rücksicht nehmen müssen: für alte und chronisch kranke Menschen. Alle anderen Menschen sollen die empfohlenen Vorsichtsmassnahmen befolgen, die zu befolgen ohnehin Sinn macht. Also: Wascht die Hände, hustet in den Ellenbogen, seid rücksichtsvoll. Aber hört um Gottes Willen nicht auf zu leben!

Basel, 6. März 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©Romolo Tavani – stock.adobe.com

[1] Die Tamedia-Zeitungen zum Beispiel hier: https://interaktiv.bazonline.ch/2020/wuhan-coronavirus-ausbruch/ , die NZZ hat hier Grafiken zusammengestellt: https://www.nzz.ch/panorama/coronavirus-schweiz-auf-platz-9-der-infektions-rangliste-ld.1542774

[2] Siehe die Informationsseite des BAG über die saisonale Grippe: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/krankheiten-im-ueberblick/grippe.html

[3] Informationen zur Grippesaison 2018/2019 siehe hier: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/mt/infektionskrankheiten/grippe/saisonbericht-grippe-2018-19.pdf.download.pdf/saisonbericht-grippe-2018-19-de.pdf

[4] Quadri hat das bereits am 23. Februar gefordert, siehe hier: https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/wir-muessen-die-tessiner-grenze-schliessen/story/10447475

[5] Es handelt sich dabei um die Miztarbeiter for global health security and biothreats on the national security council (NSC) siehe The Guardian, 31. Januar 2020: https://www.theguardian.com/world/2020/jan/31/us-coronavirus-budget-cuts-trump-underprepared

[6] Eine Übersicht über nicht lieferbare Medikamente gibt es hier: https://www.drugshortage.ch/

10 Kommentare zu "Unsere kranke Gesellschaft"

  1. Das Corona-Virus ist ein Risiko für Leib und Leben. Das ist die schlechte Nachricht. Die Corona-Virus-Krise zeigt aber auch, dass die Natur stärker ist. Wie der Klimawandel und die Flüchtlingskrise wird auch das Corona-Virus unsere Lebens- und Wirtschaftswelt verändern. Die Natur ist stärker. Wie radikal sie in den nächsten Jahren unsere Welt verändern wird, ist offen. Und wie rasant und tiefgreifend dies geschieht, hängt davon ab, ob wir es verstehen, mit der Natur zu gehen. Oder ob wir weiterhin rücksichts- und sinnlos gegen die Natur denken und handeln wollen. Immer noch mehr hartherziges, profit- und spassgieriges Wachstum geht nicht mehr. Das wissen alle, die es wissen wollen. Noch sind wir eine Minderheit.

  2. In einer Runde zitierte ich den Vergleich zwischen Verkehrsunfällen und dem Virus: Wenn wir die Unfälle so ernst nähmen, hätten wir das Autofahren schon längst verboten. Ein Kollege meinte cool: „Autos sind nicht ansteckend.“ Sicher nicht ?

  3. Jetzt gibt es halt mal keine Brot und Spiele.
    Kein Joggeli-Sonntags-Lebenssinn, keine Shows, keine Darbietungen irgendwelcher Musikgruppen, keine Spass-Komödianten und Polit-Kabarettisten, keine Podiums-Talks über irgendwas und keine Kultur auf der Theaterbühne Basel mit ewiggleichen halbnackten Schauspielern welche in Sachen Hochkultur gepriesen werden.
    Einfach mal keine Nebenschauplätze. Einfach mal zu sich selbst kommen. Einfach mal über das Wesentliche nachdenken. Einfach mal bei der Sache sein. Bei seiner ureigenen Sache. Besinnung, Rückbesinnung, Innehalten. Auch wenn es nicht so spassig ist wie sich dem ewig lockenden Äusseren zu widmen.
    Ach, wie wird das der Menschheit gut tun, den Menschen vorwärtsbingen und das Bewusstsein fürs wahre Leben schärfen.
    Alles hat seine Zeit. Diese geschenkte Zeit soll unser sein.

  4. Ein kurzer Hieb nach „rechts“. Muss den Corona auch noch für politische Ansichten herhalten? Dann der Vergleich Corona=Grippe, was nachweislich absolut nicht stimmt. Als nächstes wird das ökonomische Gesundheitswesen angeprangert. Sie zahlen wohl gerne die doppelte Krankenkassenprämie für 90% überschüssige Kapazitäten? Kleine Rechnung: 8 Mio. Einwohner, 10% Corona infiziert = 800’000, davon 5% kritisch (=ältere Menschen mit Vorbelastungen) = 40’000 zusätzliche Spitalbetter. In der ganzen Schweiz haben wir insgesamt nur knapp 40’000 Spitalbetten, die gut belegt sind. Es ist zur Zeit äusserst wichtig, dass das Virus möglichst lange nicht eine breitere Bevölkerungsschicht erreicht. Offenbar haben Sie den Ernst der Situation nicht begriffen. In Sachen Pharmaproduktion gebe ich Ihnen recht.

    1. Natürlich kann man Covid19 und Influenza miteinander vergleichen. Das macht auch die WHO, siehe hier: https://www.who.int/docs/default-source/coronaviruse/situation-reports/20200306-sitrep-46-covid-19.pdf?sfvrsn=96b04adf_2
      Influenza hat zum Beispiel eine kürzere Inkubationszeit als Covid19 und verbreitet sich deshalb schneller. Zudem ist die so genannte pre-symptomatic transmission, also die Ansteckung, bevor sich Symptome zeigen, bei Influenza wesentlich stärker als bei Covid19. Beim Coronavirus scheint die vorsymptomale Verbreitung fast keine Rolle zu spielen. Ein wichtiger Unterschied sind die Kinder: Während Kinder wesentlich zur Verbreitung der Grippe beitragen, ist das beim Coronavirus ganz anders. Da scheinen Kinder kaum zur Verbreitung beizutragen.
      Ich prangere nicht das ökonomische Gesundheitswesen an, sondern die Ökonmisierung des Gesundheitswesens. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Und ja: Ich zahle gerne meine Prämien, wenn ich weiss, dass das Unispital Basel nicht bei einem Dutzend Coronapatienten schon von Überlastung und Chaos spricht. Ich glaube aber, das ist nicht eine Sache von Krankenkassenprämien, eine solche Dienstleistung an der Bevölkerung sollten wir über die Steuern finanzieren. Das wäre gerechter.
      Selbstverständlich haben Sie recht, dass es im Moment drauf ankommt, dass das Virus sich möglichst langsam verbreitet. Ich wundere mich nur, dass es offenbar Menschen gibt, die erst jetzt die Hände waschen. Das wäre in jeder Grippesaison genauso angebracht (immerhin sterben in der Schweiz pro Grippesaison um die 400 Menschen an der Grippe). Also: Die Lage ist ernst, das heisst aber nicht, dass kritisches Denken eingestellt werden müsste.
      So oder so: Ich wünsche Ihnen gute Gesundheit und einen schönen Sonntag. Herzlich, Matthias Zehnder

      1. Das Corona-Virus bedeutet zwar ein Risiko für Leib und Leben. Es beinhaltet aber auch eine Chance. Entwicklungsbedarf, der in profit- und spassgierigen Schlaraffenländern wie der Schweiz kollektiv verdrängt ist, kommt ins Bewusstsein von mehr als nur einer Minderheit. Es wird ein Handeln provoziert, dank dem der Wachstums-, Wohlstands- und Globalisierungswahn gestoppt werden kann.

  5. Wie kommen Sie denn auf 10%? Sie unterstützen mit solchen Fantasiezahlen doch nur die Panikmache!
    Weltweit gibt es z. Zt. 110’000 Infizierte bei 8 Mrd. Menschen, das sind auf 8 Mio. in der Schweiz gerade einmal 110 oder 0.001375%.
    Von diesen sind über 60% bereits wieder genesen (wieso spricht man eigentlich nie über die?) und 3% gestorben. Wegen <4 Toten bricht eine Hysterie noch nie dagewesenen Ausmasses aus!? Wo wir doch jährlich etwa 400-700 Grippeopfer haben?

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