Unschärfe

Publiziert am 6. April 2023 von Matthias Zehnder

Wenn Sie ab und zu mit Ihrem Mobiltelefon fotografieren, kennen Sie das Phänomen bestimmt: Wenn Sie nicht gerade bei schummerigem Licht abdrücken und das Mobiltelefon einigermassen ruhig halten, ist alles auf dem Bild scharf. Vordergrund, Hintergrund, die Bildränder, das Zentrum. Das liegt daran, dass Handys über relativ weitwinklige Kameras verfügen, die Bilder mit grosser Schärfentiefe produzieren. Das Resultat jedenfalls ist – langweilig. Fragt sich: Warum? Wo das Bild doch scharf ist …

Diese Woche habe ich in Lausanne den neuen Museumskomplex Plateforme 10 besucht: Gleich hinter dem Hauptbahnhof sind hier die drei kantonalen Waadtländer Kunstmuseen, weitere Kunstsammlungen, Restaurants, Buchhandlungen und Shops vereinigt. Es fühlt sich ein bisschen an wie das Museumsquartier in Wien, einfach mit See-Aussicht. Auf dieser Plateforme 10 zeigt das Photo Elysée eine spannende Ausstellung über die Unschärfe in der Fotografie. «Flou» heisst das auf Französisch. Diese Ausstellung hat mir die Augen geöffnet.

In zwölf Abschnitten erzählt sie die Geschichte der Unschärfe in der Fotografie vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Schnell wird klar: Die Unschärfe ist fester Bestandteil des menschlichen Blicks. Unser Bild der Welt ist nur im Zentrum scharf. Darum herum ist viel «Flou».

Die Malerei bediente sich bewusst der Unschärfe als Stilmittel. Schon im 17. Jahrhundert gestattete Unschärfe, «das Zarte und Sanfte einer Arbeit» zum Ausdruck zu bringen. Ihren Höhepunkt erlebte die Unschärfe mit Malern wie Camille Corot und Charles-François Daubigny.

In diese sanfte Bilderwelt stösst im 19. Jahrhundert die Daguerreotypie, die erste Fototechnik. Die Bilder sind unerbittlich präzise und bis ins letzte Detail gestochen scharf. Es ist ein visueller Schockmoment. «Schärfe», notiert der Ausstellungskatalog, «wird im 19. Jahrhundert zum Hauptmerkmal der Fotografie und so blieb es auch über 100 Jahre lang.»

In den ersten Jahren nach ihrer Erfindung war die Fotografie keine Kunst, sondern eine spannende neue Technik. Um 1890 bemühten sich zum ersten Mal Fotografen international um die Anerkennung der Fotografie als Kunstform. Ihr Mittel: die Unschärfe. Die «Piktorialisten» sahen in der Unschärfe einen Weg, «sich von der – in ihren Augen so brutalen – fotografischen Schärfe zu verabschieden und sich der Malerei anzunähern», schreibt das Photo Elysée.

Für diese Fotografen ist die Unschärfe der entscheidende Unterschied zwischen einer fotografierenden Maschine und einem künstlerischen Fotografieprozess. Zum Teil berufen sie sich auf das menschliche Sehen, das nur im fokussierten Zentrum scharf ist. Früh entdecken sie in der Unschärfe aber auch ein entscheidendes Gestaltungsmittel.

Ein Mittel, das beim Festhalten von Bewegungen zum zentralen Element wird. Eigentlich lässt die Fotografie jede Bewegung erstarren. Mit längeren Belichtungszeiten kann die Fotografie eine Bewegung aber sichtbar machen. Entweder bleibt der Hintergrund scharf und das bewegte Objekt wirkt verwischt oder umgekehrt, die Kamera bewegt sich mit dem Objekt und der Hintergrund wird unscharf.

Diese Möglichkeiten eröffnen eine neue Subjektivität in der Fotografie: Derselbe Moment lässt sich ganz unterschiedlich festhalten. Unschärfe wird so zum kreativen Raum des Menschen hinter der Kamera. Ein Raum, den Fotografen ab den 1950er-Jahren gezielt auszuloten beginnen. In der Ausstellung zu sehen sind Bilder von Otto Steinert, zum Beispiel die Sicht vom Arc de Triomphe auf die Strasse davor mit unscharfen Autos, oder ein wunderbares Porträt, das Henri Cartier-Bresson von Alberto Giacometti geschossen hat. Auf dem Bild sind die berühmten Skulpturen von Giacometti zu sehen. Er selbst mittendrin, Haltung und Schritt entsprechen fast genau einer seiner Skulpturen. Mit einem Unterschied: Giacometti ist unscharf.

Links: Otto Steinert, Blick vom Arc de Triomphe [Vue de l’Arc de triomphe], 1951 © Museum Folkwang, Essen – ARTOTHEK
Rechts: Florence Henri, Composition (personnage et panier sur une plage), vers 1930-1935 © Archive Florence Henri / Martini & Ronchetti

Spätestens beim Anblick dieses Bildes wird klar: Die Unschärfe gehört zum Menschen. Vielleicht ist die Unschärfe das, was uns von Computern und von der Künstlichen Intelligenz unterscheidet. Die Fähigkeit, etwas erfühlen und erspüren zu können, wie sie einen Künstler ausmacht, aber auch Voraussetzung für viele andere menschliche Tätigkeiten sind. Computer können nur von Daten ausgehen. «Datum» ist das Gegebene, das definiert vorliegt. Als «1» oder als «0», richtig oder falsch, online oder offline. Aus diesem Gegebenen errechnen Computer neue Daten. Und geben sie aus als «1» oder «0», richtig oder falsch. Computer kennen keine Unschärfe.

Menschen können mit Unschärfe nicht nur leben, vielleicht macht die Unschärfe uns sogar aus: Zweifel und Ahnung, Glaube und Unsicherheit, Vorgefühl und Nachgeschmack. Es sind die Bereiche rund um den Fokuspunkt herum, jene Unschärfe, die sich nicht präzise betrachten lässt, weil sie dann ihr Wesen verliert. Schon Denis Diderot war sicher, dass Unschärfe nicht das Gegenteil von Schärfe sei, sondern in sich eine exquisite Vollendung darstelle, welche die Details verzaubere.

Das hat mich die Ausstellung im Photo Elysée gelehrt: Der Unschärfe wohnt ein Zauber inne. Es ist vielleicht jener Zauber, der uns von Maschinen, vom Computer, unterscheidet.

Mit diesen Zeilen über die Unschärfe in der Kunst (und im Leben überhaupt) grüsse ich Sie aus meiner kleinen Osterpause.

Lausanne, 6. April 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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«Flou – Unschärfe – Blur»

3.3.2023 – 21.5.2023
Photo Elysée – Musée cantonal pour la photographie
Pl. de la Gare 17, 1003 Lausanne.
https://elysee.ch/

Bild: Otto Steinert, Blick vom Arc de Triomphe [Vue de l’Arc de triomphe], 1951 © Museum Folkwang, Essen – Artothek

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