Tatsachen und Meinungen oder: Wie man einen Pudding an die Wand nagelt

Publiziert am 15. Mai 2020 von Matthias Zehnder

Die Medien sollen keine Meinungen verbreiten, sondern sich an Tatsachen halten. Das hört man, gerade in der Coronakrise, immer wieder. Denn Tatsachen sind fest und unverrückbar, Meinungen dagegen so glibberig wie ein Wackelpudding. Doch das stimmt gleich beides nicht. Tatsachen sind nicht der feste Grund, als den sie gelten – und Medien können auch die verwegenste Meinung in eine Tatsache verwandeln. Denn Medien haben ein Rezept, wie sie jeden Pudding an die Wand nageln können. Das ist schon im Normalfall heikel. In der Krise führt es zu Verwirrung.

«Fakten, Fakten, Fakten!» – so lautete der Werbeslogan von «Focus», des Nachrichtenmagazins, das 1993 als Konkurrenz zu «Spiegel» und «Stern» von Hubert Burda Media gegründet wurde. Schon die erste Ausgabe von «Focus» am 18. Januar 1993 strafte den Slogan aber Lügen: Die Titelgeschichte über Hans Dietrich Genscher, der angeblich ein Comeback als Nachfolger von Bundespräsident Richard von Weizsäcker plane, entpuppte sich als Ente. Der Verkauf von «Fakten» war gleichwohl erfolgreich: «Focus» konnte sich als «Spiegel-Konkurrenz etablieren. Der Schweizer Tamedia-Verlag machte die Fakten später gleich zum Namen eines Nachrichtenmagazins, das der Verlag 1995 nach dem Vorbild von «Focus» gründete: «Facts» hiess das Magazin, das 2007 wieder allerdings wieder eingestellt wurde.

In der Coronakrise ist der Ruf nach Fakten besonders laut. Medien sollen Fakten liefern. Keine Meinungen, keine Gerüchte, sondern harte Fakten, auf die wir uns verlassen können. Die Fakten sollen so präsentiert werden, dass das Publikum sich daraus eine Meinung bilden kann. Diese Haltung geht davon aus, dass Meinungen und Fakten in klarem Gegensatz zueinander stehen. Doch das stimmt so nicht.

Daten, Fakten, Meinungen

Das Wort «Fakten» kommt von lateinisch «factum». Das ist das Neutrum des Partizips Perfekt von «facere». Das bedeutet «machen» oder «tun». Ein Faktum ist also etwas Gemachtes. Und das bedeutet, dass ein Faktum oft gerade nicht der feste Grund bietet, den wir uns von ihm versprechen. Einen festen Grund bietet nur etwas, das unverrückbar feststeht. Etwas, das gegeben ist. Auf lateinisch ist das «Gegebene» ein «Datum». Der wirklich feste Grund also wären nicht Fakten, sondern Daten.

Das hat Konsequenzen in der Coronakrise. Die Messreihen, die eine Forscherin erhebt, das sind Daten. Daten alleine sagen noch nichts aus. Unsere Forscherin muss die Daten interpretieren. Dafür stellt sie eine Hypothese auf. Diese Interpretation veröffentlicht sie in Form einer Studie. Diese Veröffentlichung enthält die Fakten. Aus denselben Daten lassen sich unterschiedliche Fakten machen – deshalb bieten nicht die Fakten den festen Grund, den wir uns suchen, sondern die Daten. Anders gesagt: Fakten sind Tatsachen – und diese Taten können bei denselben Daten sehr unterschiedlich ausfallen.

So nageln Medien einen Pudding an die Wand

Fakten stehen deshalb also bezüglich Sicherheit zwischen Daten und Meinungen. Daten sind fest gegeben. Meinungen sind dagegen so glibberig wie ein Wackelpudding. Jede und jeder kann zu allem eine Meinung haben und sei sie noch so abstrus. Von den Medien verlangen wir, dass sie sich mit Meinungen zurückhalten. Schliesslich wollen wir uns auf die Medien verlassen können. Medien sollen sich auf harte Fakten konzentrieren, die sie quasi unverrückbar an die Wand nageln. Doch in den Medien verwandeln sich Meinungen auf geheimnisvolle Art und Weise in Fakten. Medien haben nämlich einen Weg gefunden, wie sie den glibberigsten Wackelpudding wie einen unverrückbaren Fakt an die Wand nageln können.

Das Zauber-Tupperware, mit dessen Hilfe Medien jeden Pudding an die Faktenwand nageln können, das sind die Anführungszeichen. Wenn eine Zeitung schreiben würde, dass man Menschen gegen das Coronavirus Desinfektionsmittel spritzen könnte, wäre das völliger Blödsinn. Steht die Aussage aber in Anführungszeichen, darf sie in jeder Zeitung stehen. «Desinfektionsmittel erledigt das Virus in einer Minute. Gibt es einen Weg, wie wir so etwas machen könnten – durch Spritzen … wäre interessant, das zu prüfen», sagte US-Präsident Donald Trump.[1] Was da zwischen Anführungszeichen steht, ist kompletter Blödsinn. Trump hat es aber gesagt und das ist ein Fakt. Der Wackelpudding ist an die Wand genagelt.

So wird aus einer Meinung ein Fakt

Die meisten Menschen realisieren nicht, dass das, was zwischen Anführungszeichen steht, nicht Fakt ist, sondern Meinung. «Er war als Schnellfahrer bekannt», titelt der «Blick» diese Woche über den Fahrer eines Wagens, der auf der Strecke zwischen Chur und Arosa von der Strasse abgekommen ist.[2] War der Fahrer also ein Schnellfahrer? Sieht so aus. Im Artikel jedoch steht: «Im Fürstentum Liechtenstein, wo die beiden Toten herkommen, ist die Bestürzung gross. ‹Ich würde Adrian sicher nicht als rücksichtslosen Raser beschreiben›, sagt ein Kollege zu BLICK. ‹Aber er war halt schon als Schnellfahrer bekannt!›» Ein «Kollege» also sagt, der Mann sei ein Schnellfahrer gewesen. Aber ist er es auch wirklich? Das weiss niemand. Fakt ist bloss, dass der Kollege das sagt. Die Faktizität bezieht sich also nicht auf den Inhalt des Gesagten, sondern nur (höchstens) auf die Tatsache, dass es gesagt worden ist. Und was bleibt im Gedächtnis der Leserinnen und Leser? Richtig: Er war ein Schnellfahrer. Ohne Anführungszeichen.

Eine ganz ähnliche Funktion haben Wörter wie «sollen». Das Nachrichtenportal «Nau.ch; titelte diese Woche: «Coronavirus: Ganze Schweiz soll Tracing-App testen».[3] Was denken Sie, wenn Sie diesen Titel lesen? Vermutlich: Ein Test der Tracing-App wird auf die ganze Schweiz ausgedehnt. Im Artikel steht aber etwas anderes: «Ein offener Brief an SP-Bundesrat Alain Berset macht auf Twitter derzeit die Runde. Unterschrieben von einer Gruppe Personen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Die Forderung: Der Bund soll die App breiter testen.» Es ist also nicht der Bund, der einen Test auf die ganze Schweiz ausweiten will. Eine Gruppe um Epidemiologe Marcel Salathé fordert das lediglich in einem Brief.

Der Trick mit dem Wort «sollen»

Soll-Titel sind im Politik-Teil der Medien häufig. Die «NZZ» titelte diese Woche etwa: Die «Politik greift nach dem Geld der Nationalbank – die AHV soll jährlich etwa 2 Milliarden Franken erhalten».[4] Wow, denken Sie sich jetzt vielleicht, ist ja toll. Freuen Sie sich aber nicht zu früh. Es handelt sich dabei keineswegs um einen Beschluss. Die «NZZ» schreib weiter: «Die Wirtschaftskommission des Nationalrats lanciert einen brisanten Plan: Die Nationalbank soll die Erträge aus den Negativzinsen an die AHV überweisen.» Das Ganze ist also noch nicht einmal eine Vorlage, es ist lediglich ein «Plan» der Wirtschaftskommission. Sie bereitet dafür zwei Vorstösse im Nationalrat vor. Mit solchen «soll»-Titeln berichten Medien häufig über Vorstösse. Mit dem Resultat, dass politisch noch völlig unverbindliche Ideen sich im Gedächtnis der Leserinnen und Leser als Fakten ablagern. Was haben Sie sich vom Titel in der «NZZ» gemerkt? Genau: Die AHV kriegt zwei Milliarden Franken. Das Wörtchen «soll» wird auf diese Weise zu einem weiteren Werkzeug, mit dem sich auf einfache Art und Weise ein Pudding an die Wand nageln lässt.

Es bleiben zwei Fragen

Jetzt stellen sich noch zwei Fragen: Warum bleiben die Medien nicht bei den Fakten? Warum setzen sie auf solche Titel mit «soll» und Anführungszeichen?

Zur ersten Frage: Die Medien bleiben bei den Fakten, das ist ja gerade das Problem. Trump hat das mit den Desinfektionsmitteln ja gesagt. Die Aussage ist eine Tatsache – im wörtlichen Sinn: Die Aussage ist eine Tat von Trump. Die Medien berichten also über Fakten. Aber, wie oben erklärt: über Fakten und nicht über Daten.

Zur zweiten Frage: Die allermeisten Medien setzen heute online auf Reichweitenmodelle. Das heisst: Sie brauchen aus ökonomischen Gründen möglichst viele Klicks. Und das heisst: Sie brauchen Aufmerksamkeit. Wie ich ausführlich in meinem Buch «Die Aufmerksamkeitsfalle» beschrieben habe, funktioniert das umso besser, je aussergewöhnlicher das Gemeldete ist. Deshalb greifen Medien sehr gerne zu Titeln mit aufmerksamkeitserregenden Zitaten oder übertiteln einen Bericht über einen parlamentarischen Vorstoss mit einem «soll»-Titel. Das bringt einfach mehr Klicks als ein Titel wie: «Wirtschaftskommisson des Nationalrats plant Vorstösse zu…»

Das alles ist verständlich, ja logisch. In der Corona-krise entpuppt es sich aber als fatal. Wir haben auch ohne zuspitzende Titel kaum verlässliches Wissen über das Virus. Indem sie jeden bunten Pudding an die Wand nageln, sorgen viele Medien zwar für Klicks, aber auch für Verwirrung. Deshalb: Hüten Sie sich vor dem Pudding. Das Schwarzbrot der Daten ist auf lange Sicht gesünder – auch wenn Sie länger daran kauen müssen.

Basel, 15. Mai 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©Yulia Furman – stock.adobe.com

[1] Vgl. «Der Spiegel»: «Trump spekuliert über Injektion von Desinfektionsmittel – Ärzte warnen dringend», 24. April 2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/trump-spekuliert-ueber-injektion-von-desinfektionsmittel-aerzte-warnen-dringend-a-2ca6e209-200a-47d9-9ccb-251a0f05cbc3

[2] «Blick» vom 14. Mai 2020, Seite 8

[3] «Nau.ch» vom 13. Mail 2020: https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-ganze-schweiz-soll-tracing-app-testen-65706877

[4] «NZZ» vom 13. Mail 2020: https://www.nzz.ch/schweiz/die-politik-greift-nach-dem-geld-der-nationalbank-die-ahv-soll-jaehrlich-etwa-2-milliarden-franken-erhalten-ld.1556406

5 Kommentare zu "Tatsachen und Meinungen oder: Wie man einen Pudding an die Wand nagelt"

  1. Tatsachen – nach meiner Lesart: Sachen, die Taten entsprechen und bewirken können – spiegeln sich nicht nur im Kopf mit Intellekt und Daten, sondern auch im Herz mit Gefühlen und Emotionen. Meinungen, die gut zu beidem passen, scheinen in der Regel als eine Wahrheit verstanden zu werden. Meinungen, die Verwirrung stiften, werden hingegen oft telquel als eine Verschwörung taxiert. Für eine lebensfreundliche Orientierung braucht es sowohl eine sozial verlässliche Vernetzung als auch eine vielfältig basierte Vermittlung von Daten. Sicherheit scheint es höchstens beim Denken zu geben. Vielleicht wollen auch deshalb viele nicht tun, was sie wissen?

  2. Ein treffender Beitrag, welche die Fassade des heutigen, „offiziellen“ Journalismus ein wenig demaskiert. Nur durch solche Analysen können gegenseitige „wahrheitsgetreue“ Aufschaukelungen in den Medienbotschaften aller Gattungen relativiert werden.

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