Die AfD und der Fluch der Stimmung

Publiziert am 18. März 2016 von Matthias Zehnder

Es war ein Schock: In Sachsen-Anhalt holte die Alternative für Deutschland AfD am letzten Wochenende jede vierte Stimme und steigt damit zur zweitstärksten Partei des Bundeslandes auf. In Baden-Württemberg erreicht sie aus dem Stand 15,1 Prozent Wähleranteil und wird drittstärkste Partei. In Rheinland-Pfalz erreicht sie 12,6 Prozent. Interessant ist dabei: In jedem der drei Bundesländern siegt eine andere Partei. In Sachsen ist es die CDU, in Baden-Württemberg sind es (zum ersten Mal in einem Bundesland) die Grünen und in Rheinland-Pfalz ist es die SPD.

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Zuerst die SVP, dann die FPÖ und der Front National und jetzt also die AfD. Wie konnte es nur so weit kommen, dass in Deutschland eine Partei zweistellige Stimmenanteile erzielt, die ein so deutlich reaktionäres Programm verfolgt? Dass viele ihrer Anliegen nicht etwa Kopfschütteln auslösen, sondern auf breites Verständnis, ja auf Sympathie stossen – gerade auch in der Schweiz?

Wie kommt es, dass eine freiheitliche und offene Gesellschaft sich auf breiter Front so plötzlich ins Gegenteil verkehren will? Nein, es kann nicht daran liegen, dass die Menschen genug haben. Im Osten von Deutschland, wo die AfD die höchste Zustimmung erhält, halten sich am wenigsten Flüchtlinge auf, sind jüdische und islamische Kultur sicher nicht ein Problem auf breiter Front. Ähnlich wie in der Schweiz wenden sich in jenen Gebieten die Bürger am stärksten gegen Ausländer, in denen die Ausländerquote am geringsten ist. Warum also dieser Umschwung nach rechts? Der interessanteste Erklärungsversuch kommt von Heinz Bude, Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Bude sagt: Die Stimmung ist schuld.

Das Wort Stimmung gibt es so nur auf Deutsch: Es meint nämlich sowohl die eigene, emotionale Verfassung, als auch die Gestimmtheit einer Landschaft oder einer Menschenmenge. In anderen Sprachen gibt es dafür zwei unterschiedliche Wörter: mood und attunement auf Englisch, humeur und athmosphère auf Französisch. Nur auf Deutsch wird die subjektive und die objektive Seite dieser Gestimmtheit mit demselben Wort Stimmung bezeichnet. Schon früh haben Philosophen über dieses Wort nachgedacht. Heidegger sagt zum Beispiel (etwas vereinfacht): Man kann nicht nicht gestimmt sein. Der Mensch ist weder Autor noch Zeuge seiner Stimmung. Er ist ihr ausgesetzt, ob er will oder nicht.

Nun haben nicht nur einzelne Menschen eine Stimmung, sondern auch Gesellschaften. Dabei spielen die Medien eine wichtige Rolle: Die verschiedenen Publika der Gesellschaft bilden Räume der Stimmung, die durch einen gleichmässigen Strom von relevanten Informationen und gemeinsamen Erregungen aufrechterhalten werden und das Erleben von Gesellschaft intensivieren, schreibt Heinz Bude. Eine wesentliche Rolle spielen dabei seit Beginn der 20er Jahre die grossen Kaufzeitungen, die in den Städten im Strassenverkauf (deshalb heissen sie Boulevardzeitungen) abgesetzt wurden. Diese ersten Massenmedien suchen ihren Erfolg mit Aktualität, Emotionalität und Visualität.

Zu sagen, dass diese Boulevardmedien Stimmungsmacher sind, wäre zu einfach. Sie sind ebenso Ausdruck der Stimmung einer Gruppe. Wesentlicher als ihr Inhalt ist die Art ihrer Ansprache: direkt, emotional – affektiv. Die Kaufzeitungen müssen die Kunden in ein, zwei Sekunden auf dem Boulevard zum Kauf animieren – das geht nicht mit intellektuellen Höhenflügen. Genauso funktionieren heute Netzmedien: Ob Twitter oder Facebook, ob Blick.ch oder Watson – diese Medien fackeln nicht lange. Sie rufen ihre Geschichten aus wie einst die Zeitungsverkäufer der B.Z. am Mittag, die 1904 als erste deutsche Boulevardzeitung im Stil amerikanischer Vorbilder die Berliner zum Kauf animierte.

Was für eine Stimmung verbreiten sie denn, diese Boulevardmedien? Die sind doch so unterschiedlich… In der Tat: Inhaltlich unterscheiden sie sich stark. Gemeinsam ist ihnen die emotionale Art. Heinz Bude schreibt: Die von den journalistischen Online-Anbietern produzierte Stimmung geht daher weniger von den mitgeteilten Inhalten und den darin enthaltenen Beziehungsbotschaften aus als von der Methode der direkten affektiven Publikumsansprache. Bude sagt, es entstehe ein Gefühl der Disjunktion, also der Aufspaltung der Gesellschaft, in ein offizielles und seriöses Publikum, das in den traditionellen Medien aufgehoben ist, und ein inoffizielles und populäres Publikum, das nicht auf die Deutungsangebote aus den Medien wartet, sondern das Medium selbst in die Hand nimmt. Es entsteht also ein Wir-Gefühl unter Menschen, die sich in Opposition zur etablierten Gesellschaft sehen, zur Lügenpresse und zur Classe Politique.

Das Gefühl, das durch diese Opposition zwischen emotionalem Wir und rationaler Führungsschicht in der Gesellschaft entsteht, ist das des Misstrauens: Breite Kreise haben das Vertrauen in die Politik, in den Staat, in die Medien, in die Intellektuellen verloren. Die AfD, die SVP, der Front National, Beppe Grillo in Italien oder Donald Trump in den USA – sie alle bewirtschaften dieses Misstrauen mit den Mitteln der Boulevard-Zeitungen: direkt, emotional – affektiv. Dabei ist nicht entscheidend, ob (und dass) sie alle den Finger auf manch wunden Punkt legen, sondern wie sie das machen. Und mit welchem Resultat: Sie führen wieder eine vertikale Spaltung in die Gesellschaft ein zwischen dem polierten Palazzo, wo die Mächtigen sind, und der Piazza, wo das Volk sich über die Mächtigen empört.

Was für eine Stimmung steht dahinter? Heinz Bude spricht von der Stimmung der Gereiztheit, die den Hintergrund bilde für plötzlich hochschiessende soziale Bewegungen des Misstrauens. Piraten oder Pegida, Ecopop oder Tea Party – die Anliegen der Misstrauischen sind sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen eine kollektive Gereiztheit, eine Systemaversion, ein Empfinden des Betrogenseins. Und das zum Teil zurecht, wenn man sich die Zahl der Working Poor anschaut und sich vergegenwärtigt, wie teuer das Leben für eine Familie mit Kindern in der Schweiz heute ist. Immer mehr Menschen haben auch in der Schweiz den Eindruck, dass sie am steigenden Wohlstand nicht mehr teilhaben. Dass gleichzeitig Tausende von Flüchtenden in Europa Schutz suchen, gibt den Misstrauischen das Gefühl, dass sie nicht nur von oben, sondern auch von unten unter Druck kommen.

Die Gereiztheit äussert sich heftig im Internet, in Kommentarfeldern unter Artikeln, in Facebook-Postings – und in den Resultaten von Wahlen und Abstimmungen. Wie finden unsere Gesellschaften wieder aus dieser Gereiztheit heraus? Schwierige Sache, sagt Heinz Bude. Man könne sich weder mit Gewalt noch mit Idealismus dagegenstemmen. Kurz: die Gereiztheit lässt sich nur destruktiv nutzen. Unter dieser Gereiztheit gibt es aber laut Bude ein Bedürfnis, die Dinge wieder zusammenzufügen, eine Art Bedürfnis nach Reparatur. Dieses zutiefst menschliche Bedürfnis lässt sich nicht von einem Parteiapparat ansprechen, sondern nur von einzelnen Menschen. Das ist vielleicht der Grund dafür, warum der Grüne Winfried Kretschmann gegen den Trend die Wahlen in Baden-Württemberg gewonnen hat: Seine Parteizugehörigkeit war sekundär. Im Vordergrund stand das Vertrauen in ihn als Menschen.

Kurz: In der Stimmung der Gereiztheit und des Misstrauens brauchen wir nicht Boulevard-Parteien, die der Logik der Gereiztheit folgen und das Misstrauen bewirtschaften, sondern Menschen, in die wir Vertrauen setzen können. Echte Menschen.

5 Kommentare zu "Die AfD und der Fluch der Stimmung"

  1. Wenn sich immer mehr Medien und gewisse Parteien auf dem Boulevard tummeln und eine immer grössere Anzahl Menschen mit ihren Emotionen, ihren Geschichten und Vereinfachungen flächendeckend zu drangsalieren resp. zu verführen vermögen, stellt sich die Frage, auf welcher Plattform oder auf welchen Foren deren Messages relativiert oder gekontert werden können. Auch auf dem Boulevard? Haben die „echten“, verantwortungsvollen Menschen dort überhaupt eine Chance, gehört und – noch besser – verstanden zu werden?

  2. Ich vermute nicht, dass man einfach die Entwicklung der „Stimmung“, diesem anonymen Begriff, die „Schuld“ zuschieben kann. Ebensowenig ist es zielführend, die immer gleichen Leiern von „Propaganda-Plakat-Flut“, von „Menschen in die Irre steuern“, von hetzen zu sprechen, wenn die rechts-konservativen Parteien in Europa im Aufwind sind. Es ist auch erniedrigend für die Wähler dieser Parteien, also für viele Bewohner der Schweiz und Europas, wenn man sie wie Jean Ziegler kürzlich im Schawinski-Talk als „Spinner“ abtut, oder wie oft gehört als „das sind halt die Dummen, die „Tumben“, die „rechts-konservativen Trolle“. Genau diese Gräben werden aufgetan, und zwar nicht von den „Volksdümmlichen“ (schon wieder so eine hochnäsige abschätzige Wählerbeschreibung über die rechtskonservativ-Zugewandten), sondern die sich als „soziale Gesellschaftsschicht“ schimpfende Bevölkerung, die „Gerechten“, die „Netten“ sondern solche Ausdrücke in die Mikrofone und füllen mit solchen gehässigen Phrasen die Leserbriefspalten. Wo ist jetzt die freie Gesinnung, die Meinungsvielfalt, wo ist das liberale Demokratieverständnis dieser Brain-Elite?
    Das Aufkommen dieser Parteien ist nichts anderes als das (demokratische) Abbild der Gesellschaft. Und diese Gesellschaft merkt, wenn man masshalten soll. Masshalten beim Rauchen ist gut, beim Alkohol, beim Orangenessen, nicht Zuviel „fettiges“ rät heutzutage jeder Arzt. Mass bewahren ist gut. In jedem Fall. Dies gilt auch beim Thema Asyl. Schon wieder sind seit Jahresbeginn (im Schatten der abertausenden welche via Türkei nach Europa gelangen wollen) in Italien 10´000 Migranten bunt gemischt aus dem ganzen Kontinent Afrika in Sizilien und auf Lampedusa gelandet. In der Schweiz, ja in ganz Europa werden die Jobs für einfache Tätigkeiten immer weniger, sie werden gestrichen oder ausgelagert. Doch die vielen Flüchtlinge, wo sollen denn die alle eingesetzt werden….. Zudem: 1000de „schlecht“-ausgebildete Deutsche leben in miesen 1-Zimmer-Wohnungen, müssen mit ein paar Euro im Monat über die Runden kommen, können nicht in eine andere Gemeinde umziehen, zahlen (reales-Beispiel) das Monatsabo der Freiburger Verkehrs Betriebe aus der eigenen Tasche, während den Migranten die freie Ortswahl gewährt wird, während die Migranten freie Fahrt auf dem Netz des Freiburgers Verkehrsverbund haben, und so z.B. von der Freiburger Stadthalle (welche seit einem Jahr für Kulturelle Anlässe gesperrt ist, weil dort Flüchtlinge einquartiert sind) abends locker mit der Tram von Oberwiehrle nach Freiburg Hauptbahnhof gondeln, wo abends der grosse Asylantentreff ist, so viele, dass die Reisenden (oft Frauen) den Weg via Hauptbahnhof meiden und Umwege in Kauf nehmen müssen, wenn sie nicht „angesprochen“ werden wollen.
    Ist es da nicht menschlich, das ein „Hauch“ von Ungerechtigkeitsempfinden über die „normalen“ Bürger kommt, das ein „Hauch“ von Neid, von Eifersucht in der Bevölkerung hochkommt. Wenn Polizisten in NRW Ladendiebstähle von Flüchtlingen nicht mehr Aufnehmen, weil sich z.B. wegen einer gestohlenen Lippenpomade der ganze administrative Aufwand nicht lohnt, herauszufinden, wo der Flüchtling untergebracht ist, wie er heisst (keine Papiere auf sich, stellt sich stumm), und welche Behörde wo und für was zuständig ist, sprich wer die „Busse“ bezahlen würde…. Stattdessen knüpft man sich jeden deutschen Teenager vor, der einen Kioskdiebstahl begangen hat (was ebenso nicht o.k. ist) vor, verlangt umgehend den Personalausweis, und kann er sich nicht ausweisen, geht man schnurstacks auf die Eltern los, mit Busse, Sozialeinsatz oder Jugendamt…..
    Dies und noch viele weitere Beispiele sind die wahren Argumente, welche die Wähler in die Arme der aufstrebenden rechtskonservativen Parteien sind. Das Ungleichgewicht in vielem, die Unausgewogenheit, die Masslosigkeit. Wie sagte doch ein jüdischer Mitbürger aus Brandenburg im RBB-Fernsehen: „und wer von all den Menschen in der Politik, in den etablierten Parteien tut denn noch etwas für den normalen, einheimischen Bürger?“ So kommt es mir manchmal sogar in der holden Schweiz vor…. Doch, das einzige, was ich in BL von Staat erhalte, ist die Steuerrechnung. Und selbst diese ist nicht mehr das, was sie einmal war. Kam früher jedes Jahr ein dicker Packen im Couvert an uns, sind es heute noch zwei A4-Blätter. Easy-tax-CD ist angesagt, bitte auf der Gemeinde abholen – und wer noch so von vorgestern ist, soll sich die Steuerformulare gefälligst in Eigenverantwortung beschaffen…. Dafür stapelten sich eines Morgens vor der MFK beider Basel die schönsten Biella-Ordner, praktisch ungebraucht, zur Papierabfuhr bereitgestellt. Ein mancher Fahrlehrer bediente sich (ganz legal) dem gebrauchten „Altpapierberg“ – Weihnachten für die ansonsten bis zum geht-nicht-mehr mit Bürokratie und Schikanen gesegneten Fahrlehrer.
    Nein, nochmals zum Thema, wir schweifen ab: Verständliche Killerargumente gegen die etablierten Parteien: Kein Masshalten in Sachen Asylaufnahme, sei es in Italien, in Austria, in France oder selbst in Deutschland, Ungleichbehandlung in tausend Kleinigkeiten, welche man – sofern man mit wachem Geist durchs Leben schreitet, ohne Ideologie und verzerrtem Gutmenschenweltbild – im Alltag ständig bemerkt, und die tausend kleinen selbst erlebten Mosaiksteinchen geben schlussendlich ein Gesamtbild, das selbst eine Angela Merkel (die Diskusionsunfreudige) mit ihren Wohlfühlreden nicht mehr wegblasen kann, immer mehr Übergriffe und Gewalttaten bis ins Uferlose, welche von (den-oft-nichts-zu-verlieren-habenden) Asylanten getätigt werden, das ganze Drogendealergeschäft (die schönen, lauen, ruhigen Abende vor der Basler Clarakirche gehören der Vergangenheit an), diesem Geschäft, welches besonders perfid wird, wenn es sich unseren Schulhöfen nähert, das nicht-mehr-in-die-Herkunfsländer wollen, auch wenn diese sich bereits schon lange wieder auf der sicheren-Herkunftsländer-Liste befinden, das Untertauchen (allein in der Schweiz befinden sich ca. 100´000 – 300´000 Personen ohne Aufenhaltsgenehmigung, viele davon Flüchtlinge, welche nach CH-Gesetzsprechung wieder nach Hause sollten, welche untergetaucht sind, und es werden immer mehr, nicht weniger – dies ist sicher….)
    und noch viele weitere Aspekte. MASS-Halten ist das Gebot der Stunde, war es schon und wird es immer sein. Mit dieser Regelung fährt man gut. In der Gesundheit. In der Spielsucht. Beim Arbeiten und auch beim Faulenzen. Und als Land, nein – sogar als Kontinent – ebenso. Tut man dies nicht, kann es ins Gegenteil kippen. Und so kann auch der brävste Bäckersmann, der liebste Postzusteller welcher nun wirklich nichts mit Fremdenfeindlichkeit oder ähnlichem zu tun hat, plötzlich kippen und zum „Nazi“ werden. Die grosse Gefahr aller Gutmenschen wie Merkel usw., die ja genau das verhindern will – aber mit dem aktuellen Handeln so wie dies jetzt abläuft genau das Gegenteil bewirkt.
    Denk-Mal.

  3. Höchst interessant: das Wort Stimmung-en gibt es so nur auf Deutsch: Es meint nämlich sowohl die eigene, emotionale Verfassung, als auch die Gestimmtheit einer Landschaft oder einer Menschenmenge.
    Auch das Wort Heimat gibt es nur auf Deutsch. Heimaten im Plural weist darauf hin, dass Heimat individuell ist.

  4. Danke. Für mich erneut ein Wochenkommentar mit auch konkret alltagspraktischer Orientierungshilfe. Bei politischen Entscheidungen – so hatte ich es als Wissenschaftler angenommen – würde es bei Abstimmungen darum gehen, Fachwissen und Sachkenntnisse vorausschauend für ein bestmögliches Handeln nutzbar werden zu lassen. In der Regel erfahre ich es aber als Politiker so, dass Stimmen oder Abstimmungen gewinnt, wem es gelingt, am meisten Stimmung zu machen. Es gibt Stimmungskanonen. Sie verbreiten eine Bombenstimmung.

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