Fünf Lebensbilder an Stelle eines Wochenkommentars

Publiziert am 20. Juli 2018 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Sommerferien. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Biografien – also fünf höchst anregende Lebensbilder. Alle fünf haben mich inspiriert, jedes auf seine Weise. Das erste Buch hat mich in einer alten Liebe bestätigt – und das fünfte ist zart im Thema, aber wuchtig in der Wirkung. Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:

Eine Orange als Rezept gegen Nationalismus
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/eine-orange-als-rezept-gegen-nationalismus/

Achtung: Der Erhalt von Arbeitsplätzen kann Ihrer Gesundheit schaden
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/achtung-der-erhalt-von-arbeitsplaetzen-kann-ihrer-gesundheit-schaden/

Wie wir auf Roboter reagieren sollten
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/wie-wir-auf-roboter-reagieren-sollten/

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Aber jetzt zu den fünf Lektüretipps.

Die erste Biografie handelt von einem Dichter, der zu Unrecht nur politisch gelesen wird. Zeit, sich um sein künstlerisches Erbe zu kümmern.

Bertolt Brecht

Für viele Leser hat das Werk von Bertolt Brecht Staub angesetzt: Die Zeit des sozialistischen Dichters mit dem schlecht sitzenden Anzug und dem Stumpen im Mund scheint vorbei zu sein. Diese neue Biografie beweist auf atemberaubende Art das Gegenteil: Der britische Germanist Stephen Parker hat mit Hilfe von bisher unzugänglichen Archivunterlagen aus Ostberlin das Leben von BB neu aufgearbeitet und die Informationen zu einem neuen Brecht-Bild zusammengefügt. Im Vordergrund steht für ihn nicht der politische Brecht, der freiwillig in die DDR übersiedelte, sondern der sensible Künstler Brecht, der uns, gerade heute, viel zu sagen hat. Parker versammelt in dieser über Tausend Seiten starken Biographie zwar jede Menge Wissen, aber es sind nicht die vielen Informationen, die das Buch so lesenswert machen: Es ist die leichte Hand, mit der Parker uns durch das Leben des Bertolt Brecht führt. Parker beitreibt keine Faktenhuberei, er erzählt das Leben Brechts anschaulich, ja spannend. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es ein britischer Germanist ist, dem das Kunststück gelingt, den Deutschen ein neues Brecht-Bild zu vermitteln. Dieser übersensible Dichter, der seine Sensibilität hinter kratzbürstigen Schichten von Zynismus und Ironie versteckte, der den Kapitalismus mit scharfer Feder kritisierte und sich deshalb in der DDR niederliess, da aber vom realen Sozialismus rasch enttäuscht war, dieser Dichter hätte uns heute wieder viel zu sagen. Schön, erschliesst ihn uns ein Engländer neu.

Stephen Parker: Brecht. Eine Biografie. Suhrkamp, 1030 Seiten, 81.50 Franken; ISBN 978-3-518-42812-2

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Die zweite Biografie ist gleichzeitig Lebensbild und Staatsgeschichte:

David Ben Gurion

Der Staat Israel ist vor ein paar Wochen 70 Jahre alt geworden: Im Mai 1948 hat der spätere Regierungschef Davin Ben Gurion die Staatsgründung ausgerufen. Der israelische Historiker und Journalist Tom Segev schaut in diesem Buch kritisch zurück auf den Staatsgründer, der, wie der Untertitel schon verrät, einen Staat um jeden Preis wollte. 1906 betrat David Ben Gurion, der damals noch David Grün hiess, zum ersten Mal den Boden von Erez Israel und war überwältigt. Tom Segev beschreibt (sehr kritisch übrigens), wie Ben Gurion mit Zähnen und Klauen für Israel (und gegen Konkurrenten) kämpft. Wie er 1948 die Gunst der Stunde nutzte und den Staat ausrief, obwohl er wusste, dass die Antwort der arabischen Länder darauf nur Krieg sein konnte. Wie er als oberster Befehlshaber der Haganah, der israelischen Armee, das Land schützte – und säuberte. Und wie der alte Staatsmann zur Einsicht kam, dass es etwas gibt, das wichtiger ist, als möglichst viel Land: 1967 sagte Ben Gurion: «Wenn ich wählen müsste zwischen dem ganzen Land oder Frieden, dann ist Frieden wichtiger.» Die Altersweisheit des Staatsgründers findet aber wenig Gnade vor den kritischen Augen es Autors. So ist das Buch, das Lebensbild und Staatsgeschichte in einem ist, eine Art kritische Ergänzung zu «Exodus», dem Roman von Leon Uris über die Gründung des Staates Israel, in dem Ben Gurion und seine Getreuen etwas gar gut wegkommen. Bedrückend bleibt nach der Lektüre die Erkenntnis zurück, dass viele Probleme des jungen Staates Israel bis heute nicht gelöst sind.

Tom Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis. Siedler, 800 Seiten, 49.50 Franken; ISBN 978-3-8275-0020-5

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Das dritte Lebensbild zeichnet das spannende Leben eines äusserst widersprüchlichen Mannes nach, dessen politische Wirkung heute wieder hochaktuell ist:

Muhammad Ali

Cassius Clay, der sich später Muhammad Ali nannte, ist einer der erstaunlichsten Männer Amerikas. Er gewann den Schwergewichtstitel im Boxen dreimal – und verlor ihn dreimal wieder. Er war ein Superstar und einer der meistgeliebten Männer Amerikas, doch dann gab er seine Mitgliedschaft in der Nation of Islam bekannt und wurde postwendend zu einem der am häufigsten geschmähten Männer der USA. Er war ein amerikanischer Held und ein Kriegsdienstverweigerer. Er schlug seine Gegner blutig und war gleichzeitig ein Symbol für Toleranz und Pazifismus. Er war einer der grössten Schwergewichtsboxer aller Zeiten und verkörperte auf einzigartige Weise Tempo, Kraft und Stehvermögen, was ihn Schläge einstecken liess, die andere umhauten. Er galt als berühmtester Mann weltweit, als personifizierter Geist des zwanzigsten Jahrhunderts, doch dann streckten ihn Parkinson und die Spätfolgen der rund 200’000 Kopftreffer nieder. Er war stark, charmant, arrogant und wollte geliebt werden. Kurz: Muhammad Ali war der grösste. Der amerikanische Journalist Jonathan Eig erzählt in diesem Buch das Leben von Cassius Clay alias Muhammad Ali und damit auch die Geschichte einer sozialen Revolution in Amerika, die Ali selbst mitvorantrieb: als die schwarzen Amerikaner die weissen Amerikaner zwangen, die Bestimmungen des Bürgerrechts neu zu formulieren und allen Amerikanern die gleichen Rechte zu gewähren. Auch wenn Sie sich nicht für Boxen interessieren, ist dieses Buch deshalb jede Minute Lektüre wert. Und wenn Sie sich für Boxen interessieren, dann ist es ein Muss.

Jonathan Eig: Ali. Ein Leben. DVA, 704 Seiten, 45.50 Franken; ISBN 978-3-421-04689-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783421046895

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Das vierte Lebensbild besteht tatsächlich aus vielen Bildern: Ein Künstlerportrait von der Hand einer Künstlerin, in Zeichnungen und Texten.

Frida Kahlo

Frida Kahlo, mit ihrem markanten Damenschnurrbart und ihren zusammengewachsenen Augenbrauen, ist die mit Abstand bekannteste mexikanische Künstlerin, ja vielleicht die bekannteste Künstlerin Lateinamerikas. Das hat damit zu tun, dass etwa ein Drittel ihrer Bilder Selbstportraits sind, es hat aber auch mit ihrem klaren Strich und ihrer unvergleichlichen Mischung aus Surrealismus und neuer Sachlichkeit zu tun. In diesem kleinen Buch erzählt die spanische die spanische Künstlerin María Hesse in kurzen Texten und vielen eigenen Bildern das Leben der aussergewöhnlichen Mexikanerin. Texte aus der Feder von Frida Kahlo mischen sich mit beschreibenden Texten von Hesse, die Bilder der beiden Frauen nähern sich an und geben ein kalaidoskopartiges Bild des Lebens von Frida Kahlo. Hesse schreibt: «Dieses Buch erzählt weder Fridas tatsächliches Leben noch das von ihr erfundene. Vielmehr mischt es beide, weil ich glaube, dass manchmal das wirkliche Geschehen interessanter gewesen ist als die Fiktion; andere Male bleibe ich lieber bei Fridas eigener Wahrheit.» Und überhaupt, schreibt Hesse: Wer Frida wirklich kennenlernen möchte, der verliere sich in ihren Bildern, denn «die wahre Frida lebt in ihren Bildern». Das Buch mit seinen vielen Zeichnungen ist dafür ein wunderbarer Einstieg.

María Hesse: Frida Kahlo. Eine Biografie. Insel Verlag, Insel Taschenbücher 4647, 143 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-458-36347-7

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Das fünfte Buch schliesslich handelt von einer jungen Frau, die sich vor 70 Jahren das Leben genommen hat. Sie beschreibt ihr Leiden am Leben aber so eindrücklich, dass es gestern hätte sein können:

Lore Berger

Als Lore Berger 22 Jahre alt war, schrieb sie einen Roman und nahm sich das Leben: Sie sprang vom Wasserturm auf dem Bruderholz. Dieses Buch enthält den Roman «Der barmherzige Hügel», das bisher unveröffentlichte «journal intime» der Autorin und eine Lebensskizze von Lore Berger, geschrieben von Charles Linsmayer. Es bietet damit ein berührendes Portrait einer überaus verletzlichen, unglücklichen jungen Frau aus unterschiedlichen Perspektiven. Es bleibt offen, ob das tiefe Unglück, das Lore Berger empfindet, wirklich auf die enttäuschte Liebe zurückzuführen ist, oder ob nicht vielmehr das Unglücklichsein mit ihrer grossen Verletzlichkeit, der Düsterkeit der Zeit und dem repressiven Elternhaus zusammenhängt. Denn das Drama spielt sich nicht eigentlich zwischen den jungen Menschen ab, sondern fast ausschliesslich in der Seele der jungen Frau, und dabei spielt es keine Rolle, dass sie 1921 geboren wurde – sie könnte auch 1996 geboren sein und heute 22 Jahre alt werden. Lore Berger litt an Magersucht. Sie schreibt, sie sei in einen Hungerstreik getreten, weil sie sich nach dem Tod gesehnt hatte. Mit Hilfe von Bluttransfusionen wird Lore zurück ins Leben geholt, ihr Haar wird wieder füllig, hübsch und blond – doch es ist eine scheinbare Genesung. Kurz nach Vollendung ihres Romans stürzt sie sich vom Wasserturm. Zurückgelassen hat sie ein Buch und ein Tagebuch, das exemplarisch von der Suche eines jungen Menschen nach dem Leben erzählt. «Soll alles, Kampf und Sieg und Niederlage, ganz vergebens, ganz vergänglich sein?», schreibt sie und: «Versuchen muss ich, ob ich da nicht irgendeine Türe finde, die zur Wahrheit führt, einen Schlüssel zu Gott, einen Schlüssel zum Menschen? Wozu? Wozu da sein? Ich nehme an, um zu erkennen.» Sie selbst bezeichnete die Zeit, in der sie lebte, als «böse». Eine Zeit und eine gesellschaftliche, familiäre und politische Konstellation, die auf sensible, hellhörige Menschen wie Lore Berger verheerend wirkte – vielleicht eine Zeit wie die heutige. Hermann Hesse erkannte das sofort. 1944 schrieb er nach der Lektüre von «Der barmherzige Hügel» in einem Brief an die Mutter: «Ein einziger, echter, wirklicher Mensch in diesem Kreis hätte vielleicht genügt, um sie nicht verzweifeln zu lassen.»

Lore Berger: Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas. Ergänzt um Fragmente aus dem Journal intime der Autorin. Herausgegeben und mit einer Lore-Berger-Biographie versehen von Charles Linsmayer. Baeschlin, 280 Seiten, 30.90 Franken; ISBN 978-3-85717-271-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783857172717

Nieblum auf Föhr, 20. Juli 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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