Fünf Denkanstösse an Stelle eines Wochenkommentars
Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Sommerpause. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Denkanstösse – also fünf höchst anregende Sachbücher. Es sind Bücher, nach deren Lektüre sie die Welt anders sehen werden. Das erste Buch eröffnet Ihnen die Welt der Tiere auf eine ganz neuartige Weise: Es widmet sich den Sprachen der Tiere, aber dies aus philosophischer Sicht. Das fünfte Buch widmet sich dem drängendsten Problem unserer Zeit: dem Verhältnis von Europa zu Afrika und der Verantwortung, die Europa aus der Kolonialzeit zu tragen hat. Ein schwieriges Thema – es ist deshalb gut, dass es sich bei diesem Buch nicht um ein Sachbuch, sondern um einen Roman handelt.
Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:
Keine Hauptstadt für die Schweiz – auch keine Medienhauptstadt
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/keine-medienhauptstadt-fuer-die-schweiz/
Wir brauchen einen Artikel über Informationssicherheit in der Verfassung
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/wir-brauchen-einen-artikel-ueber-informationssicherheit/
Digitale Medien führen nicht zu Einsamkeit. Im Gegenteil.
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/digitale-medien-fuehren-nicht-zu-einsamkeit/
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Aber jetzt zu den fünf Lektüretipps.
Das erste Buch öffnet Ihnen die Welt der Tiere auf überraschende Art und Weise, indem es sich mit den Sprachen der Tiere beschäftigt:
Die Sprachen der Tiere
Der französische Philosoph René Descartes («Ich denke, also bin ich») stellte 1620 fest, dass Tiere nicht sprechen und deshalb nicht denken können. Die niederländische Schriftstellerin und Philosophin Eva Meijer widerspricht ihm in diesem Buch vehement: Sie zeigt mit vielen Beispielen, dass Tiere sehr wohl sprechen können. Dabei meint sie weniger die Verständigungsversuche zwischen Tieren und Menschen. Sie erzählt zum Beispiel von den Versuchen, Menschenaffen mit der Gestensprache für Gehörlose das Sprechen beizubringen. Interessanter, weil vielfältiger sind die Sprachen der Tiere unter sich. Elefanten zum Beispiel können sich über viele Kilometer hinweg mit tiefen Tönen verständigen. Garnelen verfügen über zwölf Farbkanäle – der Mensch zum Beispiel hat nur deren drei. Präriehunde sind in der Lage, durch Heulen einander darüber zu informieren, dass ein Mensch sich nähert, wie gross er ist und was er in der Hand trägt. Meijer beschreibt eine ganze Reihe solcher Tiersprachen, von der Sprache der Bienen über die von Mäusen, Affen, Vögeln und Eichhörnchen bis zur Sprache der Fische. Schon das allein ist faszinierend. Nun ist aber Eva Meijer nicht Biologin, sondern Philosophin, deshalb beschreibt sie die Sprachen der Tiere nicht nur, sondern denkt auch darüber nach. Sind es wirklich Sprachen? Haben Tiere eine Grammatik? Und was bedeutet das alles? Meijer schreibt, wir Menschen neigten dazu, Sprache und Intelligenz so zu definieren, wie wir selbst sie nutzen. Wir setzen Tieren etwa ein Puzzle vor und wenn ein Tier nichts damit anzufangen weiss, schliessen wir daraus, dass es nicht intelligent ist. Doch die Intelligenz und die Sprache der Tiere richtet sich nicht nach menschlichen Massstäben, sondern nach dem Lebensraum und den Sinnesorganen der jeweiligen Tierart. Aus der Sicht eines Hundes sind wohl Menschen nicht intelligent, weil ihre Nase viel schlechter ist als die eines Hundes. Aus der Sicht einer Biene haben Menschen keine Ahnung von Pheromonen. Wenn wir nun aber zum Schluss kommen, dass nicht nur Menschen sprechen können, sondern auch Tiere, dann ist es höchste Zeit, dass wir beginnen, den Tieren zuzuhören – und die Tiere ernst nehmen. Ein spannendes Buch, das einem im besten Sinn neue Welten eröffnet.
Eva Meijer: Die Sprachen der Tiere. Verlag Matthes & Seitz Berlin, 176 Seiten, 40.90 Franken; ISBN 978-3-95757-536-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783957575364
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Das zweite Buch zeichnet ein bitteres Bild unserer Tourismusgesellschaft:
Die Welt im Selfie
Jedes Jahr sind rund 1,2 Milliarden Menschen unterwegs im Ausland – jeder siebte Mensch unternimmt also eine Auslandsreise. Eine riesige Menschenhorde, die wie ein Heuschreckenschwarm über die Sehenswürdigkeiten der Welt herfällt. Marco d’Eramo beschreibt in diesem Buch den Tourismus als Plage unserer Zeit. Quartierläden werden zu Souvenirshops, Wohnungen zu Übernachtungsgelegenheiten, Kirchen zu Sehenswürdigkeiten. Wir leben im Touristischen Zeitalter, schreibt d’Eramo, der Tourismus ist zur weltweit wichtigsten Industrie geworden – und damit nichts anderes als eine kapitalistische Geldmaschine, die unsere Städte zu Kulissen degradiert und die Einwohner daraus vertreibt. Marco d’Eramo, selbst Römer, weiss davon zu berichten. Nicht nur Venedig, auch Rom ächzt unter den Touristenschwärmen. Die Zahlen, die er in seinem Buch zusammenträgt, sind nicht neu, aber in dieser geballten Form serviert, geben sie zu denken. Spannend an dem Buch ist, dass Marco d’Eramo zu ergründen versucht, warum Touristen reisen. Er zitiert frühe Touristen wie Mark Twain, der auf seinen Reisen die Schauplätze seiner Lektüren besichtigte, und endet beim zeitgenössischen Touristen, der vor der Mona Lisa ein Selfie knipst. Ein Selfie, das dem Touristen beweisen soll, dass er da gewesen ist, ja: dass er ist. Das Selfie als Ausdruck der grossen Selbstunsicherheit unserer Tage – zum Heulen, schreibt d’Eramo. Sein Buch ist eine bittere Abrechnung mit Billigfliegern und Reiseratgebern, der Aufschrei eines Römers über dem Untergang seiner Stadt. Das Buch ist kein Ratgeber. Lösungen bietet d’Eramo keine an. Ausser: zu Hause bleiben und lesen. Zum Beispiel sein Buch.
Marco D’Eramo: Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters. Suhrkamp Verlag, 362 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-518-42809-2
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Das dritte Buch ist all den (oft unbekannten) Erfinderinnen und Erfindern gewidmet, auf deren Schultern wir heute stehen:
The Innovators
Sie wissen bestimmt, wer Steve Jobs war und dass er Apple gegründet hat. Wahrscheinlich wissen Sie auch, wer Bill Gates ist und kennen seine Rolle bei Microsoft. Aber wissen Sie, wer die Computermaus erfunden hat? Oder dass Marc Andreessen den ersten Webbrowser programmierte? Kennen Sie Jimmy Wales, den Gründer von Wikipedia? Oder Grace Hopper, die als erste ein Programm schrieb, mit dem sich Programme in Maschinensprache übersetzen liessen? Walter Isaacson, bekannt durch seine kongeniale Biografie über Steve Jobs, macht sich in diesem Buch auf die Spur der vielen Vordenker und Erfinder, die den Computer und das Internet möglich gemacht haben. Das Buch beginnt 1833 mit Ada, Countess of Lovelace, der einzigen (legitimen) Tochter des englischen Dichters Lord Byron, und ihrer Begegnung mit Charles Babbage, dem Erfinder der ersten Rechenmaschine. Waren die ersten «denkenden» Maschinen noch Kinder der Romantik und damit hochfliegender Träume, waren es 100 Jahre später profane Militärs, die die Entwicklung der ersten Computer vorantrieben. Auf wundersame Weise verwandelten sich die militärischen Rechenmaschinen in den folgenden Jahren aber zurück in die Traummaschinen der Romantik. Isaacson erzählt die Geschichte der Entwicklung von Computer und Internet packend und anekdotenreich anhand ihrer Protagonisten und macht damit auch klar, wie viele verschiedene (und zum Teil vergessene) Menschen es brauchte, damit wir heute sorgenlos Computer, Handy und Internet nutzen können.
Walter Isaacson: The Innovators. Die Vordenker der digitalen Revolution von Ada Lovelace bis Steve Jobs. C. Bertelsmann Verlag, 638 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-570-10277-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783570102770
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Das vierte Buch beginnt bei Adam und Eva im wörtlichen Sinn: Es dreht sich um den Schöpfungsmythos und leuchtet diese Urerzählung aus:
Die Geschichte von Adam und Eva
Der Kern dieser Geschichte umfasst nur etwa eine Seite: Gott erschafft Adam und Eva, im Paradies werden sie jedoch von der Schlange verführt und von Gott aus dem Paradies vertrieben. Stephen Greenblatt nennt es den radioaktiven Kern der Geschichte: der Kern strahlt seit 2500 Jahren. Für Greenblatt, Professor für Englische und Amerikanische Literatur an der Harvard Universität, enthält die Geschichte die grundsätzlichen Motive des menschlichen Lebens: die Beziehung zwischen Mann und Frau, die Beziehung zu Gott, sexuelles Begehren, Schuld, Verantwortung und Sühne – und die Einsicht in die eigene Sterblichkeit. Greenblatt untersucht diesen innersten Kern der Geschichte und geht dafür weit zurück in der Zeit, nach Mesopotamien, nach Babylon, zum Gilgamesch-Epos. Und er erzählt, was spätere Gelehrte, Schriftsteller und Philosophen aus der Geschichte gemacht haben. Augustinus etwa, der die Erbsünde erfand, er erzählt vom Problem der Keuschheit, vom Paradies und der Revolte und wie Darwin mit der Schöpfungsgeschichte haderte. Greenblatt versucht herauszufinden, wie es dazu kommen konnte, dass eine Geschichte zu einem Eckpfeiler der Orthodoxie werden konnte, so dass niemand an der buchstäblichen Wahrheit der Geschichte zweifeln durfte. Obwohl Greenblatt Wissenschaftler ist, erzählt er wirklich. Sein Buch reisst mit und ist oft sogar unterhaltend. Man verschlingt sein Adam-und-Eva-Buch – und wird die Geschichte nie mehr so naiv lesen wie zuvor.
Stephen Greenblatt: Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit. Siedler Verlag, 448 Seiten, 40.90 Franken; ISBN 978-3-8275-0041-0
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Der fünfte Denkanstoss schliesslich kommt nicht in Form eines Sachbuchs, sondern in Form eines Romans. Und das ist gut so, denn auf diese Weise wird dieses sperrige Thema spannend:
Alle, ausser mir
Das grosse Thema unserer Zeit, das grosse, unlösbare Problem, das sind die vielen Menschen, die von Afrika nach Europa flüchten und in der Alten Welt eine neue Zukunft suchen. Viele Menschen in Europa fragen: Was geht uns das an? Dieses Buch gibt darauf eine Antwort. Es ist kein Sachbuch, sondern ein Roman und gerade deshalb vielleicht glaubwürdiger als die Aufzählung von Fakten. Francesca Melandri erzählt die Geschichte von Ilaria Profeti, einer jungen Frau in Rom, die eines Tages, als sie heimkommt, auf dem Treppenabsatz vor ihrer Wohnungstüre einen jungen Schwarzen findet, der behauptet, er heisse gleich wie ihr Vater: Attila Profeti. Tatsächlich steht das auch so im Ausweis des jungen Äthiopiers. Unvermittelt wird die junge Frau mit der Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert und erlebt damit stellvertretend für Italien, ja für Europa, wie sehr die Schicksale Afrikas und Europas miteinander verknüpft sind. Francesca Melandri erzählt mit der Familiengeschichte der Familie Profeti die Geschichte des Äthiopienkriegs, als Italien unter Mussolini zwischen 1935 und 1936 das afrikanische Land brutal eroberte. Ilaria beginnt zu recherchieren, ob das sein kann, dass der junge Schwarzafrikaner, wie er behauptet, ihr Neffe ist. Sie entdeckt, dass ihr Vater nicht im Widerstand war, sondern als Soldat in Äthiopien und dass er da nicht nur gekämpft hatte. Stellvertretend für viele Kolonialkriege zeichnet sie nach, wie Italien in Afrika eine Blutspur hinterlassen hat. Melandri zeigt auf diese Weise eindringlicher, als das mit jedem Sachbuch möglich ist, dass wir Europäer eben gegenüber Afrika nicht einfach mit den Schultern zucken und sagen können: Was geht mich das an? Kein Zweifel: das Buch des Sommers 2018!
Francesca Melandri: Alle, ausser mir. Roman. Wagenbach Verlag, 608 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-8031-3296-3
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783803132963
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Kopenhagen, 13. Juli 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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