
Sommergedanken: Osten – der Aufbruch
Jeden Morgen um sechs Uhr halte ich auf meiner Joggingrunde über Basel kurz inne und mache ein Foto. Im Winter ist es tiefschwarze Nacht auf dem Bild. Im Frühling färbt sich der Himmel von Woche zu Woche heller, bis im Frühsommer zum ersten Mal so früh am Morgen die Sonne zu sehen ist. Oft versteckt sie sich hinter Wolken – aber manchmal erscheint sie wie aus einem Kinderbuch: als lachende Kugel, die ihre Strahlen über die Stadt schickt.
Wer einen solchen Sonnenaufgang beobachtet, versteht intuitiv, warum der Osten seit jeher als Sinnbild für Anfang und Neuanfang, für Aufbruch und Geburt gilt.
Für C. G. Jung ist der Osten mehr als eine Himmelsrichtung im wörtlichen Sinn: Er ist ein archetypischer Ort der Wandlung. In seinen Studien zu Mandalas, Träumen und religiösen Symbolen beschreibt Jung die vier Himmelsrichtungen als universelle Struktur, die das Selbst ordnet. Der Osten steht dabei für den Anfang der inneren Reise – den ersten Schritt zur Mitte. «Der Osten ist der Ort der Morgenröte, des Anfangs, des intuitiven Durchbruchs», schreibt C.G. Jung.
Lange Zeit war der Osten bei uns ein mystischer Ort, ein Projektionsraum für spirituelle Sehnsüchte. Für Goethe war der «Orient» kein reales, geografisches Gebiet, sondern ein imaginierter Sehnsuchtsraum. Anders als Goethe reiste Hermann Hesse selbst nach Indien. Asiatische Philosophie – insbesondere der Buddhismus – prägte seine späteren Werke. In Siddharta schreibt er: «Suchen heisst: ein Ziel haben. Finden aber heisst: frei sein, offen stehen, kein Ziel haben.» Der Osten wird zum Raum der inneren Freiheit – nicht als Richtung, sondern als Haltung.
Doch dieses romantische Bild des Ostens ist zerbrochen. Heute steht der Osten für viele Menschen in Europa nicht mehr für Weisheit und Gelassenheit, sondern zunehmend für geopolitische Spannungen – und sogar für Bedrohung. China, Russland und viele islamisch geprägte Länder liegen aus europäischer Perspektive im Osten. Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist unmittelbar östlich der EU ein Krieg entbrannt. Und auch innerhalb Europas sorgen die Staaten im Osten wie Ungarn oder Polen mit autoritären Entwicklungen für Unruhe.
Stecken im Osten also doch nicht nur Licht und Anfang?
Vielleicht gehört es auch zum Wesen des Lichts, dass es Schatten wirft. «Der erste Schritt zur Individuation ist der nach Osten – dorthin, wo das Licht herkommt», schrieb C.G. Jung. Individuation meint bei Jung die Verwirklichung des Selbst. Sie beginnt mit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schatten, den verdrängten, dunklen Anteilen der Persönlichkeit.
Vielleicht ist das der Punkt: Erleuchtung bedeutet nicht, dass alles hell und licht ist. Erleuchtung ist vielmehr die Gelassenheit, im Licht der aufgehenden Sonne auch die eigenen Schattenseiten anzunehmen.
Am frühen Morgen, wenn im Osten die Sonne aufgeht und das erste Licht des Tages über den Horizont fällt, wird einem die Dunkelheit der Nacht erst richtig bewusst. Wenn ich an «meinem» Ort kurz innehalte und der Sonne ins Gesicht schaue, empfinde ich genau das: den Anfang. Ich empfinde ihn, weil ich innehalte – und Orientierung, weil ich vom Ziel ablasse und mich nach Osten wende.
Basel, 04.07.2025, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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2 Kommentare zu "Sommergedanken: Osten – der Aufbruch"
Der Osten – für mich ein Sehnsuchtsort obwohl ich noch nie dort war.
Es beginnt schon im Böhmerwald – unendlicher Wald, Wanderwege auf denen man sich schon verlaufen hat, Waldgasthäuser, 1000 Wege – und alles unglaublich günstig. Polen mit den Masuren, mit der Fröhlichkeit, Lebensfrohheit, Sauberkeit, Ordnung, Fleiss und Aufstrebsamkeit.
Wegen der „bösen“ Politik ein Land nicht besuchen – was kann der Russische Taigabewohner dafür. Seine Gastfreundschaft bleibt ungebrochen. Der Schäfer in Sibirien, der Zugschaffner nach Wladiwostok, die fleissigen Mütterchen in den Strassendörfern, der Waldmensch nahe Omsk, der Wolgaschiffer, der Birkensaftsammler in Kasan, der Rentner im Waldblockhaus am Aralsee, der Arbeiter welcher im Nordpool-Express zu seinem Arbeitsplatz in der Gas-Station im ewigen Eis strebt….
Der Osten – Loswandern und immer weiter, weiter, weiter – kein Meer trennt bis in die Mongolei – Lebensträume welche (bei mir) wohl für ein anderes Leben bestimmt sind. Einfach Land, Weite, ewiges Grün, Wald, endloser Himmel, Sonnenuntergänge in der Flachheit – hier im Lichtsmoggeschwängerten und Überbevölkerten Europa nicht mehr vorstellbar.
Auch der Westen hat seinen Reiz, und auch hier gilt, nur weil jetzt ein „böser“ Nr. 47 schaltet (welcher – und das gilt – im eigenen Land zur Zeit zur absoluten Hochform aufläuft und geliebt wird) die USA nicht mehr besuchen? Der Tankwart in der Wüste Las Vegas ist der selbe, in New Orleans wird weiter Musik gemacht, an den Küsten wird weiter spirituell meditiert, in Alaska Hundeschlitten gefahren und in New York multikulti 24/7 getanzt….
Wenn man gegen Westen schreitet, kommt man irgendwann in den Osten, und umgekehrt. Das Fernweh lockt, doch selbst die billigsten Reisevarianten kosten…. – und wird von der drohenden SRG-Zwangs-Gebühren-Rechnung umgehend zunichte gemacht. Das Gute: Man ist subito wieder auf dem Boden und voll im Hier und Jetzt….
Doch die Bilder im Kopf, die Gedanken sind frei – frei nach August Heinrich Hoffmann von Fallersleben lässt er sie schillern, bewegen und glitzern… Und es ging damals ganz ohne lästige Serafe-Gebühr auch und besser….
Eine gute Orientierung im Raum halte ich für existenziell. Wie Matthias Zehnder mit der im Osten aufgehenden Sonne, erde und und mitte ich mich täglich wie folgt: Mit und in den Füssen den Boden spüren. Die Kraft der Erde durch den Körper strömen lassen. Sich in und mit dem Rückgrat aufrichten. Aufrecht und aufrichtig, wahrhaftig und wirklich da sein. Der Welt wie sie ist gewachsen sein, und den Kopf für das Licht des Himmels frei und offen halten.