Rolltreppen fürs Gehirn: Geistiger Muskelschwund
Es ist eine alte Angst des Menschen: Der technische Fortschritt führe dazu, dass wesentliche Fähigkeiten verkümmern. Die Rolltreppe zum Beispiel macht uns faul und dick. Ganz zu schweigen von Auto, Eisenbahn und Flugzeug. Was die Rolltreppe für die Beine, ist der Taschenrechner fürs Gehirn: Wir tippen statt zu rechnen. Mit dem Internet kommt eine weitere Dimension dazu: Rolltreppen fürs Gehirn, die dazu führen können, dass wir alle geistig faul und träge werden. Die grosse Frage ist: Wie sollen wir darauf reagieren, wenn immer mehr Menschen nicht mehr richtig lesen wollen oder nicht mehr lesen können? Sollen wir auf Inklusion setzen, Texte nur noch in einfacher Sprache schreiben und noch mehr Videos produzieren? Oder sollen wir im Gegenteil die Menschen dazu auffordern, die geistigen Rolltreppen zu meiden und anspruchsvolle Inhalte anbieten? Mein Wochenkommentar zu Rolltreppen fürs Gehirn.
Die auflagenstärkste Publikation der Schweiz ist keine Boulevardzeitung und kein Möbelkatalog. Es ist das «Abstimmungsbüchlein» mit den Abstimmungserläuterungen des Bundesrats. Das rote Heft im A5-Format wird in der Regel vier Mal im Jahr gut fünf Millionen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern per Post zugestellt. Es enthält die Informationen über die anstehenden Abstimmungen, die Gesetzestexte sowie die wichtigsten Argumente der Befürworter und der Gegner. Die Texte im Abstimmungsbüchlein sind manchmal recht anspruchsvoll. Ein Teil der Menschen, die das Büchlein erhalten, ist damit überfordert.
In ihrem jüngsten Staatenbericht zur Schweiz kritisiert die UNO Behindertenrechtskonvention deshalb die Schweiz, dass «Hürden für Menschen mit Beeinträchtigung bestehen, an öffentliche Informationen und Kommunikation zu gelangen, die für sie verständlich sind.» Der Vorschlag: Der Bund soll seine Abstimmungsunterlagen in so genannt «Leichter Sprache» zur Verfügung stellen. Leichte Sprache ist einfach. Sie benutzt einfache Wörter. Sie verzichtet auf Fachwörter und Fremdwörter. Sie verzichtet auf den Genetiv und den Konjunktiv. Man schreibt kurze Sätze. Die Sätze haben nur eine Aussage.
Leichte Sprache wird gefordert
Gedacht ist Leichte Sprache für Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen. Allerdings wären wohl sehr viel mehr Menschen froh um Leichte Sprache, denn um die Lesekompetenz in den deutschsprachigen Ländern ist es nicht gut bestellt. In der Schweiz fehlen jedem sechsten Erwachsenen jene Lese- und Schreibkompetenzen, die es braucht, um den Alltag zu bewältigen. So sieht es eine Erhebung des Bundesamtes für Statistik aus dem Jahr 2006. Wie es aktuell um die Lesekompetenz der Eidgenossen bestellt ist, wird derzeit im Rahmen einer internationalen Studie neu erhoben: PIAAC heisst die Studie, Programme for the International Assessment of Adult Competencies. Es ist eine Art Pisa-Studie für Erwachsene der OECD. Als die Studie zum ersten Mal durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass in Deutschland jeder sechste Erwachsene die Lesekompetenz eines Zehnjährigen hat. Auch in Deutschland kann also jeder sechste Erwachsene kaum lesen.
Es würde also vielen Menschen helfen, wenn etwa die Bundeskanzlei leichte Sprache verwenden würde. Das wird denn auch regelmässig gefordert. Doch die Umsetzung ist nicht so einfach. Denn die Texte im Abstimmungsbüchlein müssen juristisch wasserdicht sein und sie dürfen die Bürgerinnen und Bürger nicht beeinflussen. Vor allem aber: Es ist nicht nur die Sprache, die komplex ist, oft ist es auch die Sache. Nehmen wir diesen Satz aus den Unterlagen für die Abstimmung am 25. September: «Auf Zinsen aus Obligationen fällt die Verrechnungssteuer nur an, wenn die Obligationen in der Schweiz ausgegeben wurden.» Damit Sie diesen Satz verstehen, müssen Sie wissen, das eine Obligation ist, was Zinsen sind, was mit Verrechnungssteuer gemeint ist und was «Obligationen ausgeben» bedeutet. Es ist also nicht nur eine Frage der Sprache, es ist vor allem eine Frage des Weltwissens und damit der Bildung, ob Sie diesen Satz verstehen.
Das Video ist nicht viel verständlicher
Trotzdem steigt der Druck auf die Bundeskanzlei, die Abstimmungsinformationen verständlicher zu machen. Seit 2016 produziert sie deshalb Erklärvideos, die das Wichtigste in Kürze zu jeder Vorlage präsentieren. Die Videos zeigen zwar hübsche Grafiken, ändern aber nichts daran, dass die Zuschauer über eine gute Allgemeinbildung verfügen müssen. Der erste Satz im Video zur Vorlage über die Änderung des Verrechnungssteuergesetzes lautet: «Der Bund erhebt auf Zinseinkommen aus Obligationen die Verrechnungssteuer.» Viel verständlicher als der schriftliche Text ist das nicht.
Die Bundeskanzlei wehrt sich gegen stärkere Vereinfachungen, weil Texte in leichter Sprache nicht mehr präzise genug seien. In Medienhäusern ist das anders: Hier ist das Publikum wichtiger als die Präzision. Fernsehmoderatoren und Onlinejournalisten schrauben lieber die Genauigkeit herunter und erreichen dafür mehr Menschen. Das ist nur logisch: Medien leben von der Quote. Sie müssen sich deshalb ihrem Publikum anpassen. Und das ist immer weniger in der Lage, einen etwas anspruchsvolleren Text zu verstehen. Denn Lesen kommt langsam, aber sicher aus der Mode.
Lesen kommt aus der Mode
Einen Hinweis geben die Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (MPFS), konkret die Studie «Jugend, Information, Medien», kurz «JIM». Seit mehr als 20 Jahren untersucht die Studie das Leseverhalten der Jugendlichen. Ergebnis: Langsam, aber kontinuierlich sinkt die Zahl der Jugendlichen, die Bücher liest. Waren es 1998 noch über 40 Prozent, sind es heute noch 32 Prozent der Jugendlichen, die angeben, dass sie in ihrer Freizeit Bücher lesen. Dafür ist die Zahl der Kinder, die schon ein Smartphone besitzen, in den letzten Jahren rasant gestiegen. In der Schweiz sind heute 25 % der 6-/7-Jährigen und 60 % der 10-/11-Jährigen bereits im Besitz eines eigenen Smartphones. Und das wird selten zum Lesen eingesetzt.
Kein Wunder haben immer mehr junge Erwachsene Mühe damit, einen Text zu verstehen. Das beschränkt sich keineswegs nur auf schlecht ausgebildete Menschen. Von Lehrpersonen, die an Gymnasien unterrichten, höre ich, dass schon die Lektüre von zehn Buchseiten für immer mehr Schüler nicht mehr zu bewältigen sei. Professorinnen und Professoren beklagen sich über mangelnde Sprachfähigkeiten der Studenten. Ist das nun das übliche Klagen der Alten über die junge Generation oder verlernen tatsächlich immer mehr Menschen das Lesen und Schreiben?
Die Rechenkompetenz verkümmert
Um das Rechnen ist es nicht besser bestellt: Etwa jeder fünfte Erwachsene kommt über Zählen und die einfachsten Grundrechenarten nicht hinaus. Ein wichtiger Grund dafür ist erforscht: Seit es den Taschenrechner gibt, muss man nicht mehr rechnen können. Waren Taschenrechner noch bis vor ein paar Jahren Geräte, die zu Hause in der Schreibtischschublade lagen, trägt heute jeder einen leistungsfähigen Rechner mit sich herum: Ich meine natürlich das Smartphone. Es gibt deshalb kaum mehr Situationen, in denen man wirklich selber rechnen muss. Der Taschenrechner ist eine geistige Rolltreppe, die dazu führt, dass die «Muskeln» im Gehirn, die man fürs Rechnen braucht, verkümmern. Die Rechenkompetenz geht zurück.
Dem Lesen geht es ähnlich. Die «Rolltreppen», die dazu führen, dass unsere «Lesemuskeln» verkümmern, sind vielfältig. Es beginnt damit, dass es für Kinder und Jugendliche natürlich viel einfacher ist, Videos auf dem Handy anzuschauen, als sich durch ein Buch zu lesen. Jugendliche müssen immerhin in der Schule noch lesen und schreiben – viele Erwachsene können dem Lesen dagegen fast ganz aus dem Weg gehen. Mit dem Resultat, dass immer mehr Menschen nicht mehr in der Lage sind, eine A4-Seite Text zu verstehen. Die Frage ist, wie die Gesellschaft im Allgemeinen und die Medien im Speziellen darauf reagieren sollen.
Benachteiligungen beseitigen
Gewöhnlich lautet die Devise heute: Inklusion! In der Schweiz gibt es zum Beispiel das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG), das die «Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen» regelt. Ziel des Gesetzes ist es, «Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind.» Das Gesetz verlangt mit anderen Worten, dass öffentlich zugängliche Bauten, Anlagen und Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs behindertengerecht gestaltet sind. Beeinträchtigte und behinderte Menschen sollen Tram und Bus, Theater und Restaurants genauso nutzen können wie alle anderen Menschen.
Man spricht in diesem Zusammenhang auch von «Barrierefreiheit»: Die öffentliche Einrichtungen sollen so gestaltet sein, dass Menschen mit Beeinträchtigungen sie ohne zusätzliche Hilfen nutzen können. Der Anspruch der Barrierefreiheit gilt auch in der Kommunikation. Seit Langem gibt es induktive Höranlagen in öffentlichen Räumen. Es gibt Gebärdensprachdolmetscher, die Ansprachen, Parlamentsdebatten und die «Tagesschau» in Gebärden übersetzen. Selbstverständlich werden Websites barrierefrei gestaltet, also so, dass Screenreader damit klarkommen. Jetzt steigt der Druck auch auf die Inhalte: Wie das Abstimmungsbüchlein sollen auch andere Inhalte in Leichter Sprache gestaltet werden, damit sie auch jene Menschen verstehen, die schlecht lesen können. Bloss: Das sind schon lange nicht mehr nur beeinträchtigte und behinderte Menschen.
Geistige Rolltreppen machen dumm
Immer mehr Menschen verfügen nicht mehr über eine gute Lesekompetenz. Sie sind deshalb auf Angebote in Leichter Sprache, auf Hörinhalte oder Videos angewiesen. Die Verfügbarkeit solcher Angebote führt aber dazu, dass immer mehr Menschen nicht mehr richtige Texte lesen. Um es mit der Rolltreppe zu vergleichen: Wenn immer mehr Rolltreppen gebaut werden, steigen die Menschen immer weniger Treppen und benötigen deshalb erst recht Rolltreppen.
Wobei der Vergleich ja hinkt. Wir sind nun schon so viele Jahre mit Fitnesspropaganda zugedröhnt worden, dass wir Rolltreppen ja nur noch mit schlechtem Gewissen benutzen. Wir wissen: 10’000 Schritte am Tag sind das Ziel – und nehmen deshalb öfter mal die Treppe. Mit den geistigen Rolltreppen ist das anders. Da gibt es keine Ziele wie zehnmal Kopfrechnen und zehn Buchseiten am Tag. Im Gegenteil: Mir scheint, Bildung ist fast schon verpönt. Irgendwann vor ein paar Jahren ist in den Medien der totale Jugendwahn ausgebrochen. Statt dass wir Kinder und Jugendliche langsam an gute Sprache und komplexe Gedanken heranführen, übt sich die Medienwelt in TikTok-Videos und veröffentlicht Blabla-Texten, wie sie früher nur in der «Bravo» standen. Wir werfen uns der Jugend an die Brust, statt dass wir uns die Jugend mal zur Brust nehmen. Aber vielleicht werd ich auch einfach alt.
Dilemma zwischen Inklusion und Anspruch
Ich glaube, wir stecken in einem Dilemma. Einerseits ist es richtig, dass wir für Inklusion von behinderten und beeinträchtigten Menschen sorgen. Dass wir Rolltreppen bauen, für Übersetzung mit Gebärden sorgen, unsere Bahnhöfe in Blindenschrift anschreiben. Dazu gehören auch einfache Zugänge zu Informationen für bildungsferne Menschen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir zur Rolltreppengesellschaft werden. Ich finde, wir müssen weiterhin Ansprüche stellen an die Menschen. An uns selbst. Wer gehen kann, soll Treppen steigen. Wer denken will, muss lesen und zwar keine Leichte Sprache. Es ist gut, wenn wir einfache Einstiegslevel anbieten, – aber doch nicht immer und für alle. Verständlichkeit ist gut, aber es ist eine Illusion, zu meinen, die Relativitätstheorie, der kategorische Imperativ oder die Gen-Schere Crispr/Cas würden verständlicher, wenn man den Genetiv aus der Sprache verbannt. Wer Begriffe verwenden will, muss vorher etwas begriffen haben – und das heisst nun mal geistig Treppen steigen.
Was meinen Sie? Ist Verständlichkeit um jeden Preis bis zur Leichten Sprache der richtige Weg für alle? Sollen wir als Gesellschaft nicht so, wie wir Ansprüche an die körperliche Fitness und Gesundheit stellen, auch Ansprüche an die geistige Fitness und Bildung stellen? Sollen wir also die Treppen steil halten und auch in den Medien, dem Abstimmungsbüchlein mehr verlangen von den Menschen? Ich bin gespannt auf Ihre Kommentare.
Basel, 19. August 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
Bild: © KEYSTONE/Roger Szilagyi
Bethke, Hannah (2022): Bildungsstudie: Die Lesefähigkeiten von Viertklässlern sind in Deutschland dramatisch gesunken. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/international/bildungsstudie-lesekompetenz-von-grundschuelern-sinkt-ld.1674604; 18.8.2022].
Eidgenössisches Departement des Innern (2022): Schweiz präsentiert ersten Staatenbericht vor UNO-Behindertenrechtsausschuss. In: Admin.ch. [https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-87508.html; 19.8.2022].
Fedlex (2002): Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen. In: Admin.ch. [https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2003/667/de; 19.8.2022].
Greiner, Lena (2013): Jeder sechste deutsche Erwachsene liest wie ein Zehnjähriger. In: Spiegel. [https://www.spiegel.de/lebenundlernen/job/piaac-studie-erwachsene-in-deutschland-koennen-schlecht-lesen-a-926653.html; 18.8.2022].
Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (MPFS) (2021): JIM-Studie 2021: Jugend, Information Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. [https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2021/JIM-Studie_2021_barrierefrei.pdf; 19.8.2022].
PIAAC (2022): Programme For The International Assessment Of Adult Competencies – PIAAC. [https://www.gesis.org/piaac/piaac-home; 18.8.2022].
Rötheli, Valentina (2022): Einfachere Sprache: Ist das Abstimmungsbüchlein für viele zu komplex? Autor: In: Schweizer Radio Und Fernsehen (SRF). [https://www.srf.ch/news/abstimmungen-15-mai-2022/einfachere-sprache-ist-das-abstimmungsbuechlein-fuer-viele-zu-komplex; 19.8.2022].
16 Kommentare zu "Rolltreppen fürs Gehirn: Geistiger Muskelschwund"
Nee, Taschenrechner machen nicht dumm. Sie erweitern unsere Möglichkeiten, mathematische Aufgaben dann zu lösen, wenn wir eine Lösung brauchen.
– Ich bin durchaus fähig, eine Multiplikation von 2 6-stelligen Zahlen auf dem Papier auszuführen. Es braucht einfach Zeit + Geduld + ich bin nicht wirklich sicher, ob das Resultat dann auch stimmt, auch nicht, wenn ich die Rechnung wiederhole.
Aber was bringt mir diese Fertigkeit? Mein Taschenrechner kann Exponential-Rechnen, die 3. Wurzel aus einer Zahl bilden, mit Sinus ¦ Cosinus-Kurven umgehen, Integrale bilden. Und er kann das dann, wenn ich ein zuverlässiges Resultat brauche.
Ich war als Junge dabei, als ein Mitarbeiter meines Vaters im Ingenieur-Büro 3 Wochen lang ein Gleichungssystem mit 30 Unbekannten von Hand aufzulösen versuchte, damit die 100 x 60 m grosse Betondecke der Dolder-Kunsteisbahn im Winter unter der Kühlung keine Risse bildet.
– Er schaffte es.
– Aber heute schaffen wir sowas in einem Bruchteil der Zeit + mit viel grösserer Sicherheit, dass das Resultat auch stimmt.
Mein Fazit ist also genau das Umgekehrte:
Taschenrechner befähigen mich Aufgaben zu lösen, welche ich sonst am liebsten gar nicht angehen würde.
Lieber Konrad, herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Vielleicht ist der Taschenrechner das falsche Bild? Oder er hat nur bei Dir diese Wirkung? Fakt ist: Die Lesekompetenz geht zurück, die Bereitschaft/Fähigkeit, sich mit komplexeren Texten auseinanderzusetzen, ist rückläufig. Das hat verschiedene Gründe (Reizdichte, Konzentrationsfähigkeit, Sprachkompetenz etc.). Ein Grund ist sicher die Verfügbarkeit des Handys: Wenn man ein so wirkmächtiges Unterhaltungsgerät jederzeit in der Tasche hat, braucht es schon einiges, dass man trotzdem zum Buch greift. Ich gehe, by the way, davon aus, dass das auch für das Rechnen gilt…
Lieber Matthias: Eigentlich meine ich den Taschenrechner als Beispiel für alle aufgeführten neuen Techniken.
– Ganz generell entstehen neue Techniken aus einem Bedürfnis heraus uns weiterzuentwickeln, nicht um uns zur Bequemlichkeit zu animieren.
– Die Bequemlichkeit folgt, wenn die Menschheit den neuen Möglichkeiten nicht folgt, sprich sich bezüglich Ausbildung + Nutzung nicht an die Spitze der Entwicklung stellt, sondern hinten nachhinkt.
Ich würde bei der Ausbildung ansetzen wollen.
– Gerade heute findest du im Tagesanzeiger einen Artikel zu diesem Thema (Leitartikel zum Lehrkräftemangel: ‚Wir müssen diese Tabus brechen‘), dass wir in der Schule (eigentlich auf allen Stufen bis zur Uni ¦ ETH) Kenntnisse (Wissen + Können) eintrichtern + per Drill vermitteln, dort wo Spass + Neugier gefordert wären.
– Es hat mehr als genug Menschen auf dieser Welt. Was es braucht sind Menschen, welche ihren Spass am Ausprobieren + ihre Neugier leben dürfen. Der Drill törnt uns ab + macht uns faul.
Meine Sicht halt.
Taschenrechner, Computer und andere Maschinen verhindern weitgehend selbstinszenierte Vernetzungen im eigenen Gehirn, was für das Niveau einer echten Bildung entscheidend ist.
Nee, Bruno Bettoli: Davon erkenne ich bei jenen Leuten überhaupt nichts, welche Beruf-mässig mit ‚Taschenrechnern, Computern und anderen Maschinen‘ umgehen.
Das ist für Ingenieur-Berufe absurd + völlig irreal . Sorry.
In der Grundausbildung (nicht Hochschulen) bleiben die eigenen Hirnvernetzungen entscheidend.
Könnte es sein, dass wir in der Grundausbildung etwas Grundlegendes falsch machen (ich wiederhole mich teilweise)?
– Für mich sind Intuition (verinnerlichte Kenntnisse aus Wissen + Können) + Spass am Auskundschaften + Neu-Gier entscheidend, während sich unsere Ausbildung immer noch auf Drill + Auswendig-Lernen ausrichtet (siehe Tagi-Artikel zum Thema von heute).
– Solange es auf jeden Einzelnen von uns ankam, mag das seine Berechtigung gehabt haben. Nur: Es hat Menschen im Überfluss auf dieser Welt. Da geht es um jene unter uns, welche vom Standard abweichen, welche tun, was vor ihnen noch niemand getan oder gewagt hat.
Warum haben wir einen eklatanten Niveauabschwung in der Bildung? Was da gesagt wird (es gibt nicht nur den Tagi) betrifft nach Paretoprizip höchsten 20% der Menschen. Für den Rest ist Bildung harte Arbeit, um erfolgreich zu sein. Alles andere sind Träumereien, denn entscheidend sind immer Selbstkompetenzen und erst in zweiter Linie Teamkompetenzen.
Grundsätzlich bin ich mit der Analyse einverstanden, finde jedoch die Verknüpfung zum wichtigen Thema Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung etwas unglücklich.
Zentraler beim Problem sehe ich die unnötige mediale Anbiederung an ein scheinbar mit längeren und tieferen Texten überfordertes Publikum.
Hier erlaube ich mir zB. direkt Bajour mit dem „Briefing“ zu nennen, das offensichtlich nicht auskommen kann, ohne irgendwelche nervösen Gifs einzubauen oder persönliche Befindlichkeitsschilderungen der Verfasserinnen. Da fühle ich mich als Leserin dann schlicht für zumindest einfältig gesehen und die Leserschaft als Ganze für nicht voll genommen.
Radio SRF ist ein weiteres Beispiel. Kaum mehr ein Wort-Format über 30 Minuten. Dabei haben Podcasts, in denen tatsächlich während Stunden nur klug und anspruchsvoll geredet wird, durchaus ihr Publikum.
Auch Youtube-Videos beschränken sich längst nicht nur auf oberflächliches Kurzfutter, sondern es gibt eben die ganze Breite. Youtuber wie Rezo und andere machen viel Quatsch für Quote, finden aber auch ein Millionen-Publikum mit anspruchsvollen Inhalten. Könnten oder wollten die Leute nicht mehr denken, wäre das nicht so.
Kurz: Wir sollten allen Menschen (unabhängig von Grad ihrer Beeinträchtigung) zutrauen, dass sie klüger und interessierter sind, als wir erwarten und ihnen entsprechende Inhalte und Formen zumuten.
Und für Menschen mit Beeinträchtigung sollten wir mehr Inklusion anbieten, damit auch sie ihr Potenzial ausschöpfen können.
PS. Ich finde übrigens Ihren Wochenkommentar ein sehr gelungenes Beispiel, anspruchsvolle Inhalte zu vermitteln und durch das Angebot von geschriebenem Text, Audio oder Video die unterschiedlichsten Bedürfnisse abzudecken, ohne dabei Kompromisse beim Inhalt zu machen.
Liebe Esther Lattner, vielen Dank für Ihren Kommentar. Nein, YouTube beschränkt sich nicht auf Gummibärchen fürs Gehirn (schliesslich gibt es meine Kommentare auch auf YouTube ;). YouTube ist aber in den letzten Monaten stark unter Druck geraten, weil Kinder und Jugendliche lieber TikTok nutzen.- Siehe https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/gummibaerchen-fuers-gehirn/ Das grundsätzliche Problem dahinter ist, dass die allermeisten Medien tendenziell auf Quatsch für Quote setzen, weil das im Internet mit Reichweite belohnt wird – und die allermeisten Medien ökonomisch von Reichweite abhängig sind.
Die Bemühungen zur Inklusion werden da ad absurdum geführt, wo sie von nicht beeinträchtigten Menschen als Abkürzung benutzt werden. Das ist bei Lift und Rolltreppe durchaus der Fall, denkbar sind ähnliche Effekte auch, wenn es um Inhalte in einfacher oder gar Leichter Sprache geht.
Aber ich freue mich, dass wir uns im Grundbefund einig sind in der Beurteilung der medialen Anbiederung.
Herzlichen Dank und ein wunderbares Wochenende…
Was in diesem Wochenkommentar in leichter Sprache als geistige Rolltreppen bezeichnet sind, scheinen mir unter anderem Symptome dessen, was sich als Wohlstandsverwahrlosung bezeichnen lässt. – Gegen 20 Prozent der Erwachsenen, die in der Schweiz die obligatorische Schulpflicht erfüllt und damit den Staat je um die CHF 100’000 gekostet haben dürften, können einen Text zwar lesen, ihn aber nicht wirklich verstehen. Sie gelten als sogenannte funktionale Analphabet*innen. Etwa weitere 60 Prozent der Menschen könnten auch einen anspruchsvollen Text zwar verstehen: viele wollen das aber nicht wahrhaftig und wirklich, weil sie sonst anders handeln müssten. Zu ihnen gehören auch beispielsweise viele Medienleute, Politiker*innen und Professoren: sie gelten als hoch qualifiziert, sind aber in wirkungsorientiertem Sinn für dumm zu halten. Vielleicht etwa 20 Prozent der Menschen wollen sich beispielsweise im Geiste des mittlerweile hunderte von Jahren präsenten Immanuel Kant (1724-1804) aufklären und dementsprechend vernünftig handeln. Aber auch mit ihnen lässt sich kein Staat machen: weil sie zu wenige sind. Die Macht der Mehrheit gehört denen, die nur wissen wollen, was sie wissen wollen: es scheinen immer noch mehr zu werden. Das alles ist traurig, wenn es wahr ist.
Antwort:
Ich kann mich den Kellerschen Worten nur anschliessen. Hier merkt man, da ein Pädagoge spricht, ein Mann mit klarem Durchblick, ein Menschenfreund. Grandios, grossartig und herzensvoll mit unendlicher riesiger Liebe fürs Gute von ganz innen !!!
Ich lebe in einem mehrstöckigen Mehrfamilienhaus mit Tief-Garage + einem Lift. Und die Menschen hier nutzen den Lift (hier als Ersatz für ‚Roll-Treppe‘) auf 2 Arten.
– Wer ihn bewusst nutzt, respektiert zumindest die Regel ‚1 Geschoss rauf + 2 Geschosse runter zu Fuss, Rest per Lift‘. Auch die Kinder halten sich recht gut daran.
– Wer den Lift nutzt, weil es ihn gibt, der nutzt halt den Lift + nicht die Treppe. Sei’s drum …
– Fürs Verhalten der Kinder sind die Erwachsenen zuständig … (das nennt sich ‚Erziehung‘ + hat vielfältige Methoden).
Und dann gibt es Erwachsene wie wir, welche erkannt haben, dass sie den Lift gezielt dann nutzen können, wenn er ihnen etwas bringt.
– Wir wohnen im 3. Geschoss. Ich bin sowohl runter wie rauf zum Erd-Geschoss idR rascher zu Fuss als mit dem Lift. Also gehe ich zu Fuss.
– Runter + rauf vom 3. Geschoss zur Tief-Garage (also über 4 Geschosse) bin ich idR rascher per Lift. Also nehme ich den Lift.
– Und von der Tief-Garage vollgepackt mit Einkäufen hilft mir der Lift, oben fit anzukommen …
Fazit: Man kann bewusst mit den Errungenschaften der Wohlstands-Gesellschaft umgehen, oder es bleiben lassen … Wieso nur regen wir uns auf?
Der «Kompetenzenwahn» in KV-Reform 2023 passt bestens zur Förderung der geistigen Degeneration. Die Reform mit hunderten von Kompetenzen, ein Produkt des praxisfernen Konstruktivismus (=Erschaffung der eigenen Realität aus der umgebenden Wirklichkeit), bringt ein unseriöses „Flatterwissen“ mit klarer Niveausenkung. Nur mit fundiertem und strukturiertem Fachwissen verwobene Kompetenzen ermöglichen einen überzeugenden und souveränen Auftritt im Berufsalltag. Scheinbar braucht die Zukunft keine selbstdenkenden, sondern nur noch gleichgeschaltete Menschen, ganz nach dem Motto: Wer wenig weiss, kann wenig tun und wenig erreichen. Einmal mehr beste Voraussetzungen für die Weiterentwicklung einer abgerichteten und degenerierten Gesellschaft.
Lieber Matthias Zehnder
Der Kommentar Rolltreppen fürs Gehirn passt bestens zum Kommentar von letzter Woche. Als freier Journalist mache ich die Erfahrung, dass die Leicht-Schreib-Manie in den Redaktionsstuben zum Standard gehört. Jeder Satz, der nicht nach dem Schema Nominativ Verb Akkusativ verläuft wird darauf zurecht gebogen. Eine Ausnahme gibts nur, wenn Du eine Journalisten-Koryphäe bist. Somit gibts kaum Artikel, die sich durch den Stil von anderen unterscheiden. Da bleibt nur noch der Zugriff zu Schriftstellern von ehedem, Hugo von Hofmannsthal, Josef Roth oder Thomas Mannm, Martin Mosebach oder im Englischen zu Julian Barnes oder Alice Munro
Die IV bezahlt Menschen mit einer Beeinträchtigung mit gutem Grund geeignete Hilfsmittel wie Hörgeräte, Rollstühle oder spezielle EDV-Geräte. Analog dazu sollten die medialen „Rolltreppen“ auch nur denen zur Verfügung stehen, die darauf angewiesen sind. Das Problem liegt also in der Universalität der Information, welche der unabdingbar nötigen Differenzierung bei der ja unbestrittenen Gleichstellung entgegensteht: Gleiches muss gleich, Ungleiches aber auch ungleich behandelt werden. Die Frage ist, wie diesem universalen Rechtsgrundsatz entsprochen werden kann.