KI und die Schule – Rolltreppe statt Kletterpartie?
ChatGPT und Google Gemini, Microsoft Copilot und Adobe Firefly haben die Magie an den Computerarbeitsplatz zurückgebracht. Mit den neuen Tools kann man auf Knopfdruck zaubern: Texte, Bilder und Präsentationen entstehen wie von selbst auf dem Bildschirm. Ist das Arbeiten jetzt ganz einfach? Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten scheinen das zu glauben. Sie fragen sich, warum sie noch mühsam lernen sollen, wenn die KI doch auf Knopfdruck für sie arbeitet. Zumal die Generation, die heute in den Klassenzimmern und Hörsälen sitzt, es gerne mal gechillt angehen lässt und der Generation Boomer, also meiner Generation, verkrampftes Leistungsdenken vorwirft. Haben die Jungen Recht? Können sie in Zukunft chillen und die KI arbeiten lassen? Wird aus der anstrengenden Kletterpartie, die Arbeit bisher war, eine sanft surrende Rolltreppe, auf der man sich entspannen kann? Ganz im Gegenteil. KI wird die Arbeit anspruchsvoller und anstrengender machen. Denn in aller Regel werden wir nicht für das Resultat einer Arbeit bezahlt, sondern für den Unterschied, den wir mit unserer Arbeit dabei erzielt haben. Und diesen Unterschied zu erzielen, wird schwieriger. Mein Wochenkommentar über die Anforderungen, die KI an Schule und Unterricht stellt.
Sie kennen sicher diese Zahlenbilder: In scheinbar wirrer Anordnung sind auf einem Blatt Zahlen verstreut. Verknüpft man mit einem Stift die Zahlen der Reihenfolge nach, entsteht ein Bild. Auf eine ganz ähnliche Art und Weise entstehen manchmal Gedanken: Auf den ersten Blick haben die einzelnen Punkte keinen Zusammenhang. Verbindet man sie im Kopf, entsteht daraus ein Bild. So ist es mir in den letzten Tagen ergangen.
Der Ausgangspunkt ist die grosse Frage, wie Schulen und Universitäten auf die KI reagieren sollen. Die schreibende und Bilder generierende KI verunsichert viele Lehrkräfte. Ich habe in den letzten Wochen viele Vorträge an Schulen gehalten und mit Lehrkräften über KI diskutiert. So wie früher der Taschenrechner den Mathematik-Unterricht herausgefordert hat, sorgt die KI heute für grosse Fragezeichen im Deutsch und im Französisch, beim Aufsatzschreiben und beim Biologie lernen. Für viele Schüler ist es ein Igel-Hase-Rennen: Egal, wie sehr sie sich anstrengen, die KI ist schon da. Warum sollen sie sich also überhaupt noch anstrengen? Wie können Lehrerinnen und Lehrer ihre Schüler heute zum Lernen motivieren? Braucht es das alles noch? Sollen sie umstellen auf einen KI-Unterricht?
Generation arbeitsunfähig
Der zweite Punkt: Ein Interview der «Aargauer Zeitung» mit dem Generationenforscher Rüdiger Maas. Er sagt, Leistung sei den jungen Menschen nicht mehr wichtig. «Die Jungen suchen den Sinn nicht mehr in der Arbeit, sondern in der Freizeit. Ein guter Job hat an Prestige verloren, man definiert sich nicht mehr über die Arbeit.» Dabei geht es nicht nur um den Stellenwert der Arbeit, sondern ganz generell um den Leistungswillen. Maas sagt im Interview: «Wir muten den Kindern kaum mehr Wettbewerbsdenken zu.» Denn: «Leistung steht in Verruf. Im Fussball gibt es in tiefen Junior-Liegen keine Rangliste mehr. Man verbietet den Kindern das Siegen. Noch schlimmer aber: Man verhindert, dass die Kinder das Verlieren lernen können.» Maas fürchtet, dass Leistungsnoten nicht nur im Sport, sondern auch in anderen Fächern bald abgeschafft werden könnten. Er sagt, das sei fatal: «Wir entwerten Leistung und beschützen etwas, das gar nicht beschützt werden muss.»
Anlass für das Interview war das neue Buch von Rüdiger Maas: «Generation arbeitsunfähig». Untertitel: «Wie uns die Jungen zwingen, Arbeit und Gesellschaft jetzt neu zu denken». Mit der Generation Z sind die Jahrgänge von Mitte der 90er-Jahre bis zu den frühen 2010er-Jahren gemeint. Es ist die erste Generation, die schon mit dem Internet und mit mobilen Geräten aufgewachsen ist. Im Arbeitsmarkt ist allerdings ein anderer Faktor entscheidend. Meine Generation war es sich gewohnt, um Ausbildungsplätze, Praktika und Stellen kämpfen zu müssen. Da waren schlicht immer viele andere, die sich auch darum bewarben.
Schulleitungen wollen Noten abschaffen
Das hat sich drastisch verändert: Heute gibt es in Deutschland und in der Schweiz mehr offene Stellen als Bewerber. Rüdiger Maas sagt deshalb, dass sich junge Menschen beim Bewerbungsgespräch wie Kunden aufführen. Nicht der Stellensuchende muss sich bewerben, es ist umgekehrt. Die Firmen bewerben sich beim jungen Stellensuchenden. Das Urteil der Älteren über die Generation Z steht deshalb fest: Die Jungen seien «fordernd, frech und faul», denken die Älteren, schreibt Maas. Es sei die Generation, «die am liebsten nur halbtags arbeitet, sodass das Pendel der Work-Life-Balance sehr stark Richtung Life ausschlägt.» Oliver Welke bezeichnet die Generation Z in der «Heute Show» deshalb schon mal als «Gen Zero Bock auf Arbeit».
Der dritte Punkt auf meinem Denkbild: Am letzten Wochenende berichtete die «NZZ am Sonntag» über eine Umfrage des Verbands Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz. 68 Prozent der Schulleitungen sind dafür, dass auf der Primarstufe Zeugnisnoten abgeschafft werden sollten. 47 Prozent finden, dass auch auf der Sekundarstufe, also vom siebten bis zum neunten Schuljahr, keine Noten verteilt werden sollten. 55 Prozent der Schulleitungen möchte keine Selektion mehr nach der Primarstufe. Die Schulleiter sind der Meinung, dass man in der Volksschule den Leistungs- und Notendruck abbauen müsse. Die Schulleitungen fordern also genau das, was Generationenforscher Maas befürchtet.
Lernen wird angesichts der KI sinnlos
Der vierte Punkt: Viele Schüler und Studenten zweifeln am Sinn dessen, was sie lernen. Es ist nichts Neues, dass Schüler der Meinung sind, ein Taschenrechner ersetze den Mathe-Unterricht und man könne Bio, Geschichte und Staatskunde doch auch im Internet nachschlagen. Heute sagen Sie: Selber schreiben? Französisch? Zeichnen? Das hol ich mir doch über die KI. Wozu soll ich lernen, wie man sich ausdrückt, Wörtchen büffeln und mir die Perspektive aneignen, wenn es die KI eh besser macht? Da chill ich lieber und lasse arbeiten. Chillen statt Büffeln dank KI.
Viele jüngere Menschen sind überzeugt, dass die KI ihr Leben nicht nur in der Schule, sondern auch im Beruf einfacher machen wird. Das ist das Resultat einer Studie des Beratungsunternehmens EY: 86 Prozent der angehenden Akademikerinnen und Akademiker nutzen KI-Anwendungen, die Mehrheit regelmässig. 65 Prozent der Studierenden erwartet, dass Künstliche Intelligenz positive Auswirkungen auf ihren Arbeitsalltag haben wird. Das Resultat der Studie deckt sich mit dem Eindruck, den ich aus Gesprächen mit Studierenden gewinne: Viele sind der Meinung, dass KI nicht nur das Studium, sondern auch das Berufsleben einfacher machen wird.
Rolltreppe statt Kletterpartie?
In meinen Vorträgen nutze ich dafür dieses Bild einer Rolltreppe: Viele Menschen erwarten, dass sie sich dank KI nicht mehr anstrengen müssen. Sie können sich ganz gechillt mit einem Coffee to go auf die Rolltreppe setzen und hochtragen lassen. Rolltreppe statt Kletterpartie – das scheint nicht nur der KI wegen ein Wunschszenario zu sein. Aber stimmt das Bild?
Ich fürchte, in der Realität wartet auf die Studienabgänger nicht eine Rolltreppe, sondern ein Klettergerüst – oder eine Kampfbahn, wenn Sie es etwas martialischer wollen. Die KI übernimmt tatsächlich viele Arbeiten. Schreiben, Übersetzen, Programmieren, Illustrieren – das alles wird einfacher. Das hat aber nicht zur Folge, dass auch die Jobs einfacher werden. Im Gegenteil: Sie werden anspruchsvoller. Von Programmierern, die mit Copilot arbeiten, wird deutlich mehr Output erwartet. Texter, die auf ChatGPT zugreifen können, dürfen sich nicht entspannen, sondern müssen mehr und bessere Texte abliefern. Die Arbeit wird nicht leichter, sondern anspruchsvoller, weil die einfachen Routineaufgaben von der KI übernommen werden. Dem Menschen bleiben die schwierigen Aufgaben.
Anspruchsvollere Arbeit
Nehmen wir die Arbeit von Übersetzern. Bis vor Kurzem bestand ihre Arbeit aus viel Routine, dem Entwurf der Übersetzung. In einem zweiten oder dritten Schritt galt es dann, die Übersetzung zu kontrollieren, für eine kulturelle Übertragung zu sorgen und den Text zu veredeln. Der anspruchsvolle Teil der Arbeit machte vielleicht 20 oder 30 Prozent der Einsatzzeit aus. Heute erledigt die KI die ersten Schritte. Übersetzer können sich auf die Veredelung der maschinellen Übersetzung konzentrieren. Man erwartet von ihnen aber einen deutlich höheren Output. Der anspruchsvolle Teil der Arbeit, der früher nur 20 oder 30 Prozent der Einsatzzeit ausmachte, hat sich auf 80 oder 90 Prozent ausgedehnt. Ihre Arbeit ist also im Schnitt anspruchsvoller geworden.
Wenn wir im Bild der Rolltreppe bleiben möchten: Wir können uns auf der Rolltreppe nicht ausruhen, sondern müssen die Stufen genauso schnell hochgehen. Weil sich die Treppe zusätzlich unter uns bewegt, sind wir zwar viel schneller oben. Die Anstrengung bleibt dabei aber mindestens dieselbe. Warum das so ist? Die meisten Angestellten werden nicht für das Resultat ihrer Arbeit bezahlt, sondern für jenen Unterschied, den sie mit ihrer Arbeit ausmachen. Und das ist vor allem jungen Menschen oft nicht klar.
Arbeit ist gleich Energieunterschied
In der Physik ist Arbeit gleich Kraft mal Weg. Wenn ich zum Beispiel ein Buch vom Boden aufhebe und auf den Tisch lege, dann habe ich Arbeit verrichtet. Physikalisch ausgedrückt: Ich habe Energie in das Buch investiert. Die Folge ist, dass das Buch auf dem Tisch über mehr potenzielle Energie verfügt als vorher. Diese potenzielle Energie wird freigesetzt, wenn das Buch vom Tisch herunterfällt. Wenn man in der Physik von Arbeit spricht, ist immer ein Energieunterschied gemeint. Physiker sagen, Arbeit sei die Veränderung der Energiemenge in einem System. Das gilt auch im Arbeitsleben: Die Arbeit eines Menschen ist der Unterschied, für den der Mensch mit seinem Einsatz sorgt. Die KI verändert diesen Arbeitseinsatz, weil sie Arbeiten übernehmen kann. Für den Menschen dürfte bleiben, was in der Physik gilt: Arbeit ist gleich Energieunterschied. Bloss wird es viel anstrengender, einen Unterschied zu erzielen.
Das sind die fünf Punkte auf meinem Zahlenbild:
- Die grosse Frage: Wie sollen Schule und Universität auf die KI reagieren?
- Junge Menschen machen sich offenbar nicht mehr viel aus Leistung.
- Schulleitungen möchten Druck und Selektion abbauen und Noten abschaffen.
- Studierende nutzen KI intensiv und erwarten, dass KI ihr Arbeitsleben leichter macht.
- Das Gegenteil ist der Fall: Die Arbeit wird anspruchsvoller.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich für Schule und Universität daraus ziehen?
Die erste Folgerung: Es kann nicht sein, dass wir unseren Kindern beibringen, dass man sich nicht mehr anstrengen muss. Arbeit ist gleich Energieunterschied und wird auch in Zukunft anstrengend bleiben. Das heisst nicht, dass wir die Kinder möglichst früh unter Leistungsdruck setzen sollen. Das ist kontraproduktiv. Entscheidend ist, dass unsere Kinder und Jugendlichen auch künftig arbeiten wollen. Und das bedeutet, dass sie Erfolgserlebnisse brauchen.
Die zweite Folgerung: Es braucht weiterhin einfache, analoge Aufgaben an der Schule. Nur die KI anwenden, ist nicht befriedigend – und den Schülerinnen und Schülern nur jene Aufgaben zu überlassen, welche die KI nicht erledigen kann, ist viel zu anspruchsvoll. Es bleibt dabei: Wörter büffeln, Grammatik lernen, die Funktionsweise einer Zelle verstehen. Allenfalls kann die KI zu Hause als geduldiger Tutor nützlich sein.
Die dritte Folgerung: Wir brauchen weiterhin Lehrerinnen und Lehrer, die sich mit Leib und Seele ihren Schülern widmen. Je nach Altersstufe dürfen dabei ab und zu auch digitale Werkzeuge zum Einsatz kommen. Das ändert aber nichts daran, dass es weiterhin auf die Beziehung, die Hinwendung zum Kind und die Begeisterung und Leidenschaft für den Stoff ankommt. Das ist denn auch die Hauptbotschaft meiner Vorträge: Es wird weiterhin auf den Menschen ankommen. Auch und gerade in der Schule.
Basel, 3. Mai 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
Bild: KEYSTONE/Gaetan Bally
Französischunterricht an der Kantonsschule Glarus: Wörtchen büffeln trotz KI?
Donzé, René (2024): Schule ohne Noten und Stress: Schulleitungen wollen Selektion abschaffen. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/schweiz/fertig-stress-in-der-sechsten-klasse-schulleiter-wollen-langgymnasien-und-sekundar-niveaus-abschaffen-ld.1828231; 3.5.2024].
Maas, Rüdiger (2024): Generation arbeitsunfähig. München: Goldmann.
Pressemitteilung, EY (2024): Mehrheit der Studierenden nutzt KI – und glaubt an positive Auswirkungen der Technologie auf das eigene Arbeitsleben. In: EY. [https://www.ey.com/de_de/news/2024/03/ey-studierendenstudie-2024-kuenstliche-intelligenz; 3.5.2024].
Schuppisser, Raffael (2024): Generationen-Forscher fällt vernichtendes Urteil über die Jungen: «Arbeitsunfähig». In: Aargauer Zeitung. [https://www.aargauerzeitung.ch/leben/interview-generationen-forscher-faellt-vernichtendes-urteil-ueber-die-jungen-arbeitsunfaehig-ld.2607165?reduced=true; 3.5.2024].
2 Kommentare zu "KI und die Schule – Rolltreppe statt Kletterpartie?"
Treffend auf den Punkt gebracht: „Es wird weiterhin auf den Menschen ankommen. Auch und gerade in der Schule.“
Erinnert mich an diesen Merksatz: „Be-ziehung kommt vor Er-ziehung.“
Beziehungen pflegen bleibt eine menschliche Domäne 🙂
Dem Vernehmen nach will aktuell die Weltgesundheitsorganisation WHO der Welt ein Gesundheitssystem aufzwingen, das in Tat und Wahrheit abhängig und krank machen kann. Ein solches Zwangssystem besteht in vielen Ländern schon lange mit der obligatorischen Schule. – Um etwas gut zu können, braucht es viel Übung. Das wissen Kinder von klein auf und tun es auch. Das Lernen ohne Begeisterung ist wie ein Brotteig ohne Hefe: er geht nicht richtig auf. Der Schulbesuchszwang ist würdelos und vieler Übel Anfang (unter anderem auch sogenannter Verhaltensstörungen). Weil und wenn Schule das Lernen mit Konkurrenz verbindet. In Jahrgangsklassen mit Rennbahnpädagogik lernen Schülerinnen und Schüler, um zu gewinnen und nicht für die Bildung. Die Annahme, dass Menschen jeden Alters sich in Freiheit nicht selbstverständlich entwickeln und etwas bestmöglich lernen und können wollen, ist unmenschlich. Mit KI hat das alles eigentlich und an sich so viel zu tun, wie beispielsweise die Umweltkrise mit dem CO2.