Roboter erobern den Journalismus – aber anders, als Sie denken
Über 2000 Meldungen hat die Nachrichtenagentur sda am Sonntag der Eidgenössischen Wahlen abgesetzt – geschrieben von einem Computer. «Robojournalismus» heisst dieses Genre. Es gibt Menschen, die deswegen um die Zukunft des Journalismus fürchten. Sie liegen falsch. Denn der grosse Einfluss von «Robotern», also von Computerprogrammen, liegt nicht in der Kreation von Medieninhalten, sondern in ihrer Verteilung. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern Gegenwart. Und ja: Davor sollten Sie sich fürchten.
Am 20. Oktober hat die Schweiz ein neues Parlament gewählt. 2’462’581 Wählerinnen und Wähler haben in genau 2212 Gemeinden ihre Wahlzettel abgegeben oder eingeschickt.[1] Die Schweizerische Depeschenagentur sda hat über das Resultat in jeder einzelnen Gemeinde eine Meldung produziert. Geschrieben hat die Meldungen Lena.[2] Das ist nicht eine besonders fleissige Mitarbeiterin, sondern der «Schreibroboter» der Depeschenagentur. In Anführungszeichen deshalb, weil es sich dabei nicht um einen Roboter aus Blech und Plastik handelt, sondern um ein Computerprogramm.
«Lena hat bei den Eidgenössischen Wahlen wie zuvor schon an Abstimmungssonntagen die Ergebnisse aller Schweizer Gemeinden abgedeckt», erklärt sda-Chefredaktor Winfried Kösters.[3] Zauberei ist das nicht, es funktioniert sogar recht simpel: «Wir haben vorgängig viele Masken erstellt. In diese Masken haben wir dann jeweils die Daten des Bundesamtes für Statistik eingefüllt.» Der Computer hat also vorbereitete Textbausteine und aktuelle Daten miteinander zu aussagekräftigen Texten verknüpft. Eine Resonanzanalyse habe die sda nicht erstellt, sagt Kösters. «Wir wissen aber aufgrund von Klickzahlen und von persönlichen Beobachtungen, dass unsere Kunden die Meldungen rege verwendet haben.» Die sda ist zufrieden mit dem Resultat: «Wir werden Lena weiterhin bei Volksabstimmungen einsetzen. Und natürlich werden wir das Konzept weiter verfeinern.»[4]
Bald jeder dritte Artikel computergeneriert?
Kein Zweifel: Roboter – oder besser: «Roboter» – werden im Journalismus eine immer grössere Rolle spielen. Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino geht davon aus, dass in zehn Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel der Artikel im «Tages-Anzeiger» von Robotern geschrieben werden.[5] Ist das ein realistisches Szenario? «Ich arbeite oft mit Computerlinguisten zusammen und weiss, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Algorithmen auch einen automatisieren Journalismus produzieren können, der über das simple Zusammenfassen von Wahlergebnissen hinausgeht», sagt Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik an der ZHAW in Winterthur.[6]
Radio-Journalist Oliver Washington relativiert: «Die Frage ist, was ist Journalismus.» Wenn es um die banale Verarbeitung von Resultaten gehe, sei das möglich. «Journalismus aber ist mehr und geht weit darüber hinaus – Journalismus ist Analysieren, Recherchieren, kritischem Hinterfragen, in den Kontext stellen – ich kann mir schwer vorstellen, dass das von Robotern gemacht werden kann.»[7] «Watson»-Chefredaktor Maurice Thiriet stösst in dasselbe Horn: «Alles, was guten Journalismus ausmacht – Dossierkenntnis, gesunder Menschenverstand, Humor, Neugier, Empathie, Narzissmus – können Maschinen nicht ersetzen.»[8]
Journalisten und Leser machen sich Sorgen
Nein, können sie nicht. Wobei Computer nicht humorvoll, neugierig und empathisch sein müssen, damit sie Humor, Neugier und Empathie simulieren können. Immer mehr Journalisten machen sich deshalb Sorgen über allfällige Roboterkollegen. Kulturjournalistin Susanna Petrin sagt über die Zukunftsprognose von Tamedia-VR-Präsident Pietro Supino: «Ich staune über die Verachtung für Journalisten, die aus dieser Einschätzung spricht.»[9] Andere Journalisten sehen den computergenerierten Journalismus nüchterner – und geben ihm auch mehr Zukunft. So sagt Barbara Gysi, die publizistische Leiterin von Radio SRF 2 Kultur: «Der Agentur-Journalismus wird dank KI früher oder später automatisch generiert.»[10] Dem ist wohl zuzustimmen: Computer sind schlicht schneller und effizienter, wenn es darum geht, Fakten, Zahlen und Daten zu verbreiten.
Fakten wie Wahlresultate, Börsenkurse, Sportresultate oder Wetterprognosen. Was nicht heisst, dass all diese Textsorten immer aus dem Computer stammen. Auch wenn etwa Wetterprognosen sich zuweilen lesen, als hätte ein Roboter an der Tastatur gesessen, sind die Textprognosen von MeteoSchweiz allesamt Handarbeit: «Bei MeteoSchweiz werden keine computergenerierten Elemente für die Erstellung der Textprognosen verwendet», erklärt Marc Illi von MeteoSchweiz auf Anfrage. «Ob dies in Zukunft so bleiben wird, lässt sich momentan aber nicht beantworten.» Gleichwohl spielt der Computer beim Erarbeiten der Prognosen eine wichtige Rolle, weil ein grosser Teil der Vorhersagen auf automatisierten Prognosemodellen beruht.
Laut der Nachrichtenagentur Reuters gehört die Zukunft dem «Cybernetic Newsroom». Darunter versteht Reuters eine Redaktion, in der sich Roboter und menschliche Journalisten gegenseitig ergänzen.[11] Laut einer Untersuchung der London School of Economics und der Google News Initiative sollen Journalisten in einem solchen kybernetischen Newsroom die einfachen und repetitiven Arbeiten der künstlichen Intelligenz überlassen und sich auf wichtigere Aufgaben konzentrieren können.[12] Das sind kreative Arbeiten – oder vielleicht auch nur noch das Kuratieren der Nachrichten aus dem Computer. Denn laut einer Studie der BBC werden im Jahr 2026 schon 90 Prozent aller Nachrichtentexte von Computern verfasst.[13]
Roboter in der Distribution von Inhalten
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass wir künftig mehr computergenerierte Artikel sehen werden. Sorgen müssen Sie sich deswegen nicht machen. Viel wichtiger als Robo-Journalisten sind nämlich «Robo-Verleger»: Die grosse Rolle des Computers ist nicht das Schreiben von journalistischen Texten, sondern ihre Verbreitung. Paradebeispiel Facebook: Da entscheidet ein undurchsichtiger Algorithmus (also ein Computerprogramm), welche Inhalte Sie in Ihrem News-Feed auf Facebook sehen. Mark Zuckerbergs Netzwerk zeigt Ihnen nämlich nicht möglichst wichtige Inhalte, sondern möglichst jene Inhalte, die Sie dazu verleiten, länger online zu bleiben.
Ähnlich ist es bei Google: Wenn Sie nach etwas suchen mit der Suchmaschine, erscheint eine Resultateliste, die nach einer gut gehüteten Formel zusammengestellt wird. Dieser Google-Algorithmus wird immer wieder angepasst, damit sich nicht findige Unternehmen mit ihrer Website an die Spitze der Resultateliste schmuggeln können. Deshalb bleibt der Google-Algorithmus ein gut gehütetes Geheimnis und es bleibt dabei: Google entscheidet darüber, was Sie zu sehen bekommen – und niemand weiss genau, nach welchen Regeln das funktioniert.
Computergesteuerte Filter zur Welt
Solche Entscheidungsmechanismen gibt es viele. Ihr Mailprogramm zum Beispiel entscheidet aufgrund von Regeln, welche Mails in den Spam-Ordner aussortiert werden und welche in Ihrer Inbox auftauchen. Besonders rabiat sortiert Google-Mail die elektronische Korrespondenz aus: Google verschiebt nicht nur Werbemails, sondern auch Nachrichten von sozialen Netzwerken und Benachrichtigungen anderer Art in je separate Fächer. Im eigentlichen Posteingang bleiben fast nur noch persönliche Nachrichten. Newsletter landen oft in anderen Fächern. Amazon (ja, das ist auf dem Bildschirm ebenfalls ein Medium) entscheidet aufgrund des bisherigen Kauf- und Surf-Verhaltens, welche Artikel als erstes auf Ihrer Amazon-Homepage erscheinen. Wer einen Artikel kauft, sieht zudem Empfehlungen vom Typ: «Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch …». Die Empfehlungen von Amazon sind so gut, dass mittlerweile 35% des Umsatzes auf solchen Empfehlungen beruhen.[14] Ähnliche Mechanismen könnten künftig auch bei Nachrichtenportalen zum Einsatz kommen.
Roboter (oder eben: «Roboter», weil es ja eigentlich Programme sind) sortieren also unsere Post und unsere Posts in den sozialen Medien, unsere Einkäufe und unsere Nachrichten. Ich mache mir darüber mehr Sorgen als über Texte, die maschinell geschrieben werden. Wir verbringen immer mehr Zeit mit Medien. Wenn die Inhalte, die wir dabei sehen, immer häufiger von Computern und Robotern vorsortiert werden, geben wir einen Teil unseres Willens aus der Hand. Zum Glück gibt es dagegen ein einfaches Mittel: Computer abschalten – und die Welt ist ohne Filter.
Basel, 29. November 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
[1] Vgl. Abstimmungsstatistik des Bundesamtsfür Statistik: https://www.atlas.bfs.admin.ch/maps/12.335/map/mapIdOnly/23174_de.html
[2] Informationen über Lena finden sich hier: https://www.keystone-sda.ch/lena
[3] Per E-Mail am 28.11.2019
[4] Auch Tamedia hat am Wahlsonntag computerunterstützt berichtet. Die Mediensprecher haben aber auf meine Fragen nicht reagiert. Informationen dazu finden sich hier: https://www.tamedia.ch/de/gruppe/newsroom/medienmitteilungen/tamedia-redaktionen-technologie-unterstuetzt-vielfaeltige-wahlberichterstattung
[5] Vgl. SRF «Samstagsrundschau» vom 17. März 2018 mit Pietro Supino, Min. 20:21 https://www.srf.ch/sendungen/samstagsrundschau/tamedia-praesident-pietro-supino-im-rasanten-medienwandel
[6] In meinem Fragebogeninterview «Medien&Menschen» vom 18.9.2019: https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/vinzenz-wyss/
[7] In meinem Fragebogeninterview «Medien&Menschen» vom 4.9.2019: https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/oliver-washington/
[8] In meinem Fragebogeninterview «Medien&Menschen» vom 29.5.2019: https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/maurice-thiriet/
[9] In meinem Fragebogeninterview «Medien&Menschen» vom 16.10.2019: https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/susanna-petrin/
[10] In meinem Fragebogeninterview «Medien&Menschen» vom 8.5.2019: https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/barbara-gysi/
[11] Vgl. ‘Cybernetic news’: the automated newsroom is the future of journalism: https://innovationorigins.com/cybernetic-news-the-automated-newsroom-is-the-future-of-journalism/
[12] Die Studie heist «New powers, new responsibilities. A global survey of journalism and artificial intelligence». Das PDF der ganzen Studie gibt es hier: https://drive.google.com/file/d/1utmAMCmd4rfJHrUfLLfSJ-clpFTjyef1/view
[13] Der Standard: «Roboterjournalismus: Dieser Text ist (noch) KI-frei»; vgl. https://www.derstandard.at/story/2000110230471/roboter-journalismus-dieser-text-ist-noch-ki-frei
[14] Vgl. «Erfolgsfaktor: Produktempfehlungen auf Amazon»: https://www.intomarkets.com/erfolgsfaktor-produktempfehlungen-auf-amazon/
7 Kommentare zu "Roboter erobern den Journalismus – aber anders, als Sie denken"
Ich weiss, wie wichtig die digitalen Themen, die digitale Welt ist / Ihnen ist.
Doch gibt es nicht noch andere Themen, denn mit der Computertastatur wird keine Wand hochgezogen, kein Haus gebaut, kein Bad gefliest, kein Kehricht entsorgt, es wächst keine Kartoffel, kein Essen wird mit ihr zubereitet, keine Strasse gepflästert und keine Violine gestrichen….?
Was ich damit ausdrücken möchte: Der Kommentar erscheint mir in letzter Zeit sehr, sehr computer-digital-lastig….
Oder dann, er wird flugs umbenamst, z.B. in: „Zehnders wöchentliche Narrenkastl*-Post“.
…………………………………..
*Narrenkastl = Computer.
Lieber Herr Zweidler, da muss ich Ihnen widersprechen. Sie schreiben: «denn mit der Computertastatur wird keine Wand hochgezogen, kein Haus gebaut, kein Bad gefliest, kein Kehricht entsorgt, es wächst keine Kartoffel, kein Essen wird mit ihr zubereitet, keine Strasse gepflästert und keine Violine gestrichen» – auf dem Bau und auf dem Bauernhof greifen robotisierte Abläufe derzeit stark um sich. Stichwort: Selbstfahrender Mähdrescher, automatischeS Düngen per Drohne, Maurerroboter. Und was das Zubereiten von Essen angeht: Vielleicht sollten Sie sich einmal Flippy ansehen. Das ist ein Hamburgerbratroboter, der das besser und zuverlässiger hinkriegt als jeder Mensch. All diese Entwicklungen beschreibe ich in meinem neuen Buch. Mir geht es dabei nicht im Einzelnen um die Maschinen, sondern darum. ,was das für uns Menschen bedeutet. Denn, da haben Sie wieder recht: Es gibt eine Welt ausserhalb der Computer. Bloss zählt die, gerade in der Arbeitswelt, immer weniger.
Mit der Digitalisierung und Robotern lassen sich Entscheid- und Handlungsgrundlagen produzieren, die auf ihre Art ausserordentlich faktenbasiert sind. Ultraschnell immer wieder aktualisiert und globalisiert vorauseilend können diese Fakten von Datenabhängigen und für Datengläubige genutzt werden, um Macht auszuüben und Reichtum zu erwirtschaften. Ohne Gewehre oder Kanonen. Unter anderem Mobilfunk, der zur Zeit weltweit immer noch mehr aufgerüstet wird. Die Erde wird damit an die Wand gefahren. Ohne Kopf, Herz, Hand und Fuss. Und zwar sowohl ökologisch als auch ökonomisch, und vor allem auch sozial. Die Lage scheint einigermassen hoffnungslos. Sie wird aber von der Gesellschaft sowie ihrer Politik und Wissenschaft mehrheitlich nicht ernst genommen. Und dann noch dies: Es sind nicht die Roboter, sondern Menschen, die es mit ihnen tun.
Lieber Ueli Keller, da haben Sie recht: «Es sind nicht die Roboter, sondern Menschen, die es mit ihnen tun». Es sind auch die Menschen, welche die Roboter bauen und die Computer programmieren. Wir sind nicht einfach Opfer der Technik, wir machen uns selbst dazu.
Matthias Zehnder bleibt an der Oberfläche, wenn er Agenturjournalismus als blosses Verbreiten von Fakten, Zahlen und Daten versteht. Schon die Selektion von Themen, Aspekten und Argumenten – idealerweise nach Relevanz, die man ebenfalls einschätzen können sollte – ist eine journalistische Leistung. Dazu kommen echte analytische Hintergrundtexte zB der SDA.
Mit dem Pochen auf die Distribution indes hat er leider Recht. Die Themenauswahl solchen Plattformen anzuvertrauen ist leichtsinnig.
Ironisch übrigens, dass das In Worte Fassen eines Kommentars auf MattZehns Seite im Minutentakt von einem Anti-Roboter-Bot unterbrochen wird…
Lieber Roger Lange Morf, Sie haben absolut recht, Agenturjournalismus ist keineswegs blosses Verbreiten von Fakten, Zahlen und Daten. Deshalb habe ich das auch nicht geschrieben. Ich habe mich auf drei Studien bezogen, die sich mit computergenerierten Texten in Nachrichtenagenturen beschäftigen. Es sind dies eine Studie von Reuters, eine Studie der London School of Economics und eine Studie von BBC. Siehe auch in den Quellen zuunterst. Ich nehme an, dass das Ganze wesentlich weniger spektakulär ist (und sein wird), als die Medien selbst darüber berichten. Viel Wesentlicher und dem Auge der meisten Betrachter verborgen ist die computergesteuerte Distribution der Inhalte. Wie auch immer: Ich glaube, am Ende sind wir uns in etwa einig, oder?
Tatsächlich ist die Zuordnung der Inhalte durch Plattform die riskante Blackbox, solange das Publikum die Mechanismen weder im Detail erfährt noch für sich steuern kann. Ich habe keine Ahnung, ob mir FB einen Eintrag wegen vieler Reaktionen, Likes oder eben der grössten Zahlung reinstellt – oder gar ihrer eigenen politischen Agenda. Das gilt auch für andere Platten Formen.
Was Texte von Lena & Co. betrifft, läuft das das für mich unter Komfortgewinn, ist also OK. Wer zu bequem ist, eine Abstimmungs- oder Matchresultat-Tabelle selber zu lesen, darf sich das von einem Bot in einen Satz giessen lassen. Ich persönlich lese Tabellen selber; mitunter zeigt sich ein interessantes Faktum durch den Kontext, quasi beim zufälligen Mitlesen – den bringt Lena dann eben nicht.
Eine Frage ist dann auch, wieviele Mittel von Redaktionslöhnen (Inhalte) zu IT-Löhnen (Komfort) wandern. Insbesondere wenn Erträge erodieren.