Raus aus der Schublade!
Viele Männer glauben, am Frauenstreiktag gehe es nur um Frauen. Doch es geht dabei genauso um uns Männer. Nicht dass es uns an Rechten, an Lohn oder an gesellschaftlichem Anteil fehlen würde. Aber so lange Frauen nicht zu ihrem Recht kommen, so lange die Welt nicht ausbalanciert ist, sind auch wir Männer nicht im Recht und nicht in der Balance. Deshalb geht es für Männer nicht darum, pseudogenerös Frauen endlich jene Rechte zu gewähren, die sie ihnen über Jahrhunderte verweigert haben. Es geht darum, dass wir gemeinsam aus unseren Schubladen herausklettern.
Haben Sie das Rekord-Fussballspiel USA-Thailand gesehen? 13:0 hiess es am Schluss – das war nicht nur ein Sieg, das war ein Schützenfest. Eine Demütigung. Wenn sie von einem Fussballspiel wie diesem lesen, denken die allermeisten Menschen wahrscheinlich automatisch an Männer, die Fussball spielen. Die Rede ist hier aber von der Fussball-WM der Frauen in Frankreich. Wenn vom Fussballspiel Schweiz-Italien oder Frankreich-Norwegen die Rede ist, ist ohne spezielle Erwähnung der Frauen immer der Männerfussball gemeint. Es ist ein kleines Beispiel für Schubladendenken – und das ist ein grosses Problem.
Denn in vielen, in zu vielen Bereichen haben wir zuallererst Männer im Kopf. Wissenschaftler, Manager, Nobelpreisträger, Erfinder – nicht nur die sprachliche Form ist männlich, auch das Bild dazu im Kopf. Stellen Sie sich ganz schnell einen Wissenschaftler vor – wen sehen Sie? Galileo Galilei? Charles Darwin? Albert Einstein? Einstein ist für viele Menschen der Prototyp des Wissenschaftlers. Und jetzt stellen Sie sich ganz schnell eine Wissenschaftlerin vor. Na? Ist Ihnen überhaupt eine Frau in den Sinn gekommen? Zu nennen wäre zum Beispiel Hildegard von Bingen, eine mittelalterliche Gelehrte, die heute (zu Unrecht) als Esoterikerin gilt. Oder Ada Lovelace, die wohl erste Programmiererin der Welt, die für den Mathematiker Charles Babbage gearbeitet hat – bis heute gilt nur Babbage als Computerpionier. Die österreichische Kernphysikerin Lise Meitner kennen Sie wahrscheinlich nicht. Das ist kein Wunder: Sie hat zwar zusammen mit Otto Hahn die Kernspaltung entdeckt – den Nobelpreis heimste Hahn aber alleine ein.[1]
In Schubladen denken
So ungerecht geht es (hoffentlich) heute nicht mehr zu – in Schubladen denken wir aber weiterhin. Und das nicht nur, wenn es um Wissenschaftlerinnen geht. Auch bei so banalen Dingen wie Toilettenartikeln. Genderdesign nennt sich das Phänomen, wenn Artikel für Frauen immer pink und Artikel für Männer immer metallic-blau sind. Wir Männer sehen meist die rosafarbenen Produkte für die Frauen, lächeln darüber – und merken nicht, wie wir selbst genauso in eine Schublade gesteckt werden. Die Rasierklingen, die ich benutze, sehen aus wie Accessoires von Robocop. Auch After Shave und Duschgel sehen aus, als kämen sie aus einer Waffenschmiede. Warum steckt die Industrie uns Männer in solche Schubladen? Ich will kein Robocop sein und auch kein Waffenschmied.
Simone de Beauvoir schrieb in «Das andere Geschlecht»: Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.[2] Das gilt nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. Auf Deutsch ist es manchmal schwierig, sich über diese gesellschaftliche Dimension des Geschlechts zu unterhalten. Auf Englisch ist es einfacher: Da gibt es zwei Wörter dafür. Sex meint die biologische Dimension des Gechlechts, gender die gesellschaftliche. Ein Ausdruck dieser gesellschaftlichen Geschlechterdimension ist das Genderdesign: hellblau für die Buben, rosa für die Mädchen. Zwar ist so häufig wie noch nie von Gleichberechtigung die Rede – gleichzeitig nimmt aber die Genderisierung von Design zu. Es gibt dazu interessante Untersuchungen.[3] Offenbar nimmt diese Zweiteilung gerade in der Kinderzimmerwelt zu. Der Grund ist ganz einfach: Die Hersteller von Baby- und Kinderartikeln versprechen sich mehr Umsatz, wenn sie die Gegenstände möglichst klar einem Geschlecht zuordnen. So müssen Eltern, die einen Jungen und ein Mädchen haben, alle Gegenstände für das zweite Kind noch einmal kaufen.
Genauso ein Problem für Männer
Mein Punkt ist: Das ist nicht nur ein Problem von Frauen, die nicht länger nur rosa gestempelt werden möchten. Es ist genauso ein Problem für uns Männer. Es ist nicht so, dass wir Männer frei wären und galant den Frauen aus der Gender-Schublade heraushelfen könnten. So lange die Frauen in Schubladen stecken, stecken auch wir Männer in Schubladen fest. Wir können uns nur gemeinsam helfen. Es braucht den gemeinsamen, münchhausischen Griff an den eigenen Kragen, um uns aus der Schublade herauszubefördern.
Natürlich gehört dazu, dass Frauen in der Schweiz in allen Belangen jene 50,4 Prozent der Positionen erhalten, die ihnen zustehen.[4] Insbesondere da, wo es um eine Repräsentation der Bevölkerung geht, also in den Parlamenten vom Gemeinderat und der Schulpflege über den Grossen Rat bis zu National- und Ständerat, aber auch in den Regierungen und Verwaltungsräten. Es ist mir ein Rätsel, wie es sein kann, dass diese Gleichstellung im Jahr 2019 noch immer nicht erreicht ist. Auch da: Es geht nicht darum, dass die Männer generös den Frauen ein paar Stühle freiräumen. Es geht darum, dass Frauen und Männer aus ihren Schubladen herausklettern und die Aufgaben in der Gesellschaft gemeinsam anpacken. Dass wir zusammen funktionieren.
Das Problem der deutschen Sprache
In einem Punkt jedoch ist es nach wie vor schwierig, die Schublade zu verlassen: Die deutsche Sprache macht es sich mit Gleichberechtigung sehr schwer. Seit ich Ende der 80er Jahre zum ersten Mal der feministischen Linguistik von Frauen wie Luise F. Pusch[5] begegnet bin, sind wir kaum weitergekommen. Zwar sind heute Varianten[6] wie das Binnen-I (wie bei LehrerInnen) oder die Schreibweise mit Sternchen (Lehrer*innen) stärker verbreitet als damals, als ich Germanistik studierte, die Probleme sind aber dieselben geblieben. Es gibt (anders als im Englischen) auf Deutsch nach wie vor kaum Möglichkeiten, eine Stelle oder einen Beruf neutral zu bezeichnen. Pusch hat dafür schon in den 80er Jahren die neutrale Bezeichnung (gesucht ist ein Professor, das Ethnologie unterrichtet) und das umfassende Femininum (Die Firma hat 50 Mitarbeiterinnen, die Hälfte davon männlich) in die Diskussion eingebracht. Beides hat sich nicht durchgesetzt.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade im deutschen Sprachraum nach wie vor an Männer gedacht wird, wenn von Wissenschaftlern die Rede ist, oder von Managern, ganz zu schweigen vom Fussball. Wobei sich ausgerechnet beim Macho-Sport Fussball einiges getan hat in letzter Zeit. So überträgt das Fernsehen SRF einige Spiele der Fussball-WM der Frauen im Fernsehen und alle Spiele als Live-Stream im Internet. Für die Winterthurer Fussballerin und Frauenaktivistin Sarah Akanji ist das ein erster, wichtiger Schritt.[7] Die Fernsehsender argumentieren, dass sie Frauenfussball selten zeigen, weil das Interesse nicht vorhanden ist. Sarah Akanji kehrt das Argument um. Sie sagt, nur wenn Frauenfussball so selbstverständlich gezeigt wird wie der Fussball von Männern, wird auch das Interesse geweckt, werden Frauen gleichberechtigt wahrgenommen. Das gilt nicht nur für Fussball. Man kann nicht erst aus der Schublade klettern, wenn die Gleichstellung hergestellt ist. Die Gleichstellung wird sich erst einstellen, wenn alle aus ihren Schubladen geklettert sind. Auch die Männer.
Basel, 14. Juni 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
[1] Vgl. Kathrin Bernard: «Vergessene Koryphäen. Frauen in der Wissenschaft gestern und heute.» Magazin Scinexx, 7.12.2012; https://www.scinexx.de/service/dossier_print_all.php?dossierID=91351
[2] Vgl. Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1959
[3] Zum Beispiel Uta Brandes: Gender Design – Streifzüge zwischen Theorie und Empirie. Basel: Birkhäuser Verlag 2017. http://genderdesign.org/neues-buch-von-uta-brandes-gender-design-streifzuege-zwischen-theorie-und-empirie/
[4] Bevölkerungsstatistiuk der Schweiz: Frauen machen 50,4 Prozent der Bevölkerung aus. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/bevoelkerung.html
[5] Luise F. Pusch: Das Deutsche als Männersprache. Aufsätze und Glossen zur feministischen Linguistik. Frankfurt/M. Suhrkamp 1984 (als edition suhrkamp 1217).
[6] Eine Übersicht über mögliche Schreibweisen gibt es hier: https://geschicktgendern.de/vor-und-nachteile-gaengiger-schreibweisen/
2 Kommentare zu "Raus aus der Schublade!"
Erste Zeile, erste Enttäuschung:
Frauenstreik (-tag) = leider unrichtig;
konsequent feministisch-absolut gilt da:
Frauen*streik (-tag).
Also bitte sehr, wo sind wir denn da….
Gleichstellung: okay! Frage: gleich gut oder gleich schlecht? Bei vielen Männern erlebe ich, dass sie, wenn sie ausziehen, um das Fürchten der Karriere zu lernen oder zu lehren, ihre Balance in Richtung Gier und Rücksichtslosigkeit verlieren. Ist das nun gut oder schlecht, wenn auch noch immer mehr Frauen auf Achtsamkeit und Sorgfalt pfeifen?