Warum es die politische Korrektheit doch braucht

Publiziert am 6. Januar 2017 von Matthias Zehnder

«Politische Korrektheit» ist das Schimpfwort der Stunde. In Amerika ist Donald Trump als eine Art Ritter Georg gegen den Drachen der political correctness angetreten. In der Schweiz stilisiert sich Roger Köppel als Befreier von Denkkorsetten. Doch ist das wirklich so? Ist es nicht im Gegenteil so, dass die selbsternannten Ritter eigentlich die Drachen sind, die Anstand und Rücksicht niederwalzen? Lesen Sie selbst, warum es die politische Korrektheit doch braucht.

Politische Korrektheit bedroht die freie Rede – so warnt die Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ. Donald Trump erklärte nach den Anschlägen in Orlando: The current politically correct response cripples our ability to talk and to think and act clearly. Also etwa: Die gegenwärtige politisch korrekte Antwort lähmt unsere Fähigkeit, klar zu denken und zu handeln. Und SVP-Nationalrat Roger Köppel bezeichnet in einem «Weltwoche»-Editorial die politische Korrektheit als Scheiterhaufen, auf dem die selbstberufenen Hüter des Wahren und Guten die Echtheit verbrennen.

Die politische Korrektheit – das grosse Problem unserer Zeit? Schliesslich redet sogar die Wochenzeitung «Die Zeit» von einem Furor politischer Korrektheit, der sich im Land verbreite. So werden im Namen der politischen Korrektheit zum Beispiel Kinderbücher redigiert: Pippi Langstrumpf will nicht mehr Negerprinzessin werden, sondern nur noch Südseeprinzessin und in Die kleine Hexe von Otfried Preussler sollen sich die Kinder nicht mehr als Neger und Türken verkleiden. Bloss Jim Knopf, der darf ein Neger bleiben. So hat es der Verlag von Michael Ende entschieden.

Übertriebene Korrektheit?

Wer Kinderbücher korrigiert, historische zumal, leidet wohl wirklich an einem Furor. Aber was ist mit den Vorwürfen von Donald Trump und Roger Köppel? Ist da etwas dran, dass wir zu denken aufhören, wenn wir befürchten, politisch unkorrekt zu werden? Ist es nicht tatsächlich ein Problem, dass gleich als homophob gilt, wer sich gegen die Homo-Ehe äussert, dass als Rassist verunglimpft wird, wer sich kritisch mit afrikanischen Migranten beschäftigt, dass als islamophob gilt, wer sich gegen das Frauenbild im Islam wehrt? Ist die politische Korrektheit nicht tatsächlich ein Problem?

Donald Trump und Roger Köppel jedenfalls sehen sich als Teil der Lösung dieses Problems. Trump hat, wohl sehr bewusst, in seinem Wahlkampf gegen jede Regel der political correctness verstossen und damit gezeigt: Seht her, ich bin gegen die da oben, ich bin nicht korrekt, ich bin wie Ihr. Und Roger Köppel setzt, zum Beispiel in einem Gastbeitrag für das deutsche Magazin «Focus», die politische Korrektheit gegen Klartext – und lässt keinen Zweifel daran, dass er es ist, der für den Klartext steht.

Haben sie vielleicht recht?

Haben sie vielleicht recht? Kinderbücher zensieren zu wollen, geht doch wirklich zu weit. Lähmt politische Korrektheit also unser Denken und eine kritische Auseinandersetzung mit den Ereignissen unserer Zeit? Sind Fragen wie die Auseinandersetzung darüber, welche Toiletten Transgendermenschen benutzen dürfen, wirklich so wichtig? Ist die politische Korrektheit also das Problem, der grosse Drache, gegen den Ritter Georg alias Donald Trump endlich antritt?

Vielleicht müssen wir uns zuallererst mal vergegenwärtigen, woher der Ausdruck political correctness eigentlich kommt. Moira Weigel, Historikerin an der Yale University, hat darüber unlängst im britischen Guardian einen längeren Text publiziert. Sie schreibt, der Ausdruck sei im Anklang an Mao in den 60er Jahren in linken Kreisen aufgekommen, als ironische Selbstwarnung: Achtung, jetzt wird’s ideologisch. Bis 1980 sei der Ausdruck ausschliesslich unter Linken als ironische Warnung vor Orthodoxie verwendet worden.

Die Rechte wendete den Begriff

Doch dann griff die Rechte den Begriff auf und wendete ihn von Aussen gegen liberale Akademiker und Linke. Und die Konservativen verstanden es, die political correctness umzudeuten. Im Mai 1991 bezeichnete Präsident George W. Bush political correctness sogar als Bedrohung für die Redefreiheit und damit als grosse Gefahr für Amerika. Moira Weigel spricht von einem eigentlichen Rebranding: Die Konservativen brandmarkten mit political correctness einen liberal fascism – eine verabsolutierte Linke, die (offenbar) absurde, abgehobene akademische Ideen verfolgte und (angeblich) jede noch so kleine Minderheit schützen wollte und dabei (offenkundig) die Mehrheit, den vernünftigen Amerikaner, verachtete.

Auch bei uns ist politische Korrektheit heute ein Schimpfwort. Schon sprachlich gesehen hat politisch korrekt Schlagseite. Wenn etwas technisch korrekt ist, dann ist es zwar technisch korrekt, aber eben nur technisch. Eigentlich ist es falsch. Genauso klingt heute auch politisch korrekt: Das mag korrekt sein in den Augen eines abgehobenen Mitglieds der classe politique, der Durchschnittsschweizer sieht sofort, dass es völliger Quatsch ist. Politisch korrekt ist auf diese Weise zur rhetorischen Hellebarde geworden, mit dem der vernünftige Bürger denen da oben, den lebensuntauglichen Akademikern und Funktionären, eins auf den faulen Pelz brennen kann.

Waffe gegen sich selbst

Und damit ist der Begriff politische Korrektheit zur Waffe gegen sich selbst geworden: zum Mittel im Kampf für das politisch Unkorrekte. In der vermeintlichen Diktatur des politisch Korrekten können sich Donald Trump und Roger Köppel als Erlöser stilisieren, als Befreier des vom Zwang zur Korrektheit geknechteten Volkes – und verhelfen im Namen von Ehrlichkeit und Echtheit der Rüpelhaftigkeit zum Durchbruch.

Verstehen Sie mich recht: Natürlich brauchen wir keine Sprachkorsette und keine Tabuzonen des Denkens im Namen einer falsch verstandenen Korrektheit. Aber es hat seinen Grund, wenn Afroamerikaner sich dagegen wehren, als Neger bezeichnet zu werden oder wenn Sinti und Roma keine Zigeuner mehr sein möchten. Es entfaltet eine subtile Wirkung, wenn in den Rechnungsaufgaben der Primarschule die Ärzte und die Ingenieure immer männlich sind und sie von Dienstmädchen bedient werden. Wenn Donald Trump die Mexikaner pauschal als Vergewaltiger bezeichnet, ist das nicht nur dumm und verletzend für die Mexikaner, es hat eine gefährliche Wirkung. Dagegen müssen wir uns weiter wehren. Bloss nicht mit Denkverboten und Schablonen.

Wie dann? Was wäre denn ein Ansatz?

Einerseits kann es nicht sein, dass Kritik im Namen einer falsch verstandenen Korrektheit quasi verboten wird. Andererseits darf Kritik nicht zerstörerisch wirken. Dabei ist es für mich nicht einmal in erster Linie entscheidend, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Es ist ein Unterschied, ob ein Satiriker den Präsidenten verhöhnt – oder der Präsident den Satiriker. Mit anderen Worten: Wenn ein Machtgefälle besteht, kommt es darauf an, in welcher Richtung des Gefälles Kritik geäussert wird: Von unten nach oben darf Kritik scharf sein – von oben nach unten muss sie sich im Zaum halten.

Bei Präsident und Satiriker ist die Rollenverteilung klar. In unserem Alltag ist es dagegen nicht so einfach. Derselbe Mensch kann mal oben, mal unten stehen. Gegenüber einem Roma oder einem Flüchtenden sind wir oben, gegenüber einem CEO oder einem Politiker sind wir unten. Deshalb lässt sich die politische Korrektheit auch nicht bloss über die Sprache regeln: es ist nicht einfach eine Frage der Wörter, es ist eine Frage ihrer Verwendung. Deshalb braucht es auch eigentlich die sperrige Bezeichnung politische Korrektheit nicht. Eigentlich haben wir dafür längst ein viel einfacheres Wort: Anstand.

Bloss: Im Zeitalter von Twitter und TV-Talkshows ist Anstand viel zu langweilig. Auf anständige Art und Weise wäre Trump nie Präsident geworden. Denn Anstand holt viel zu wenig Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zum Erfolg in der Mediengesellschaft. Trump vermittelt uns allen: die Anständigen, das sind die Verlierer. Deshalb sind nur Verlierer anständig. In Wirklichkeit ist es natürlich genau umgekehrt – aber das macht keine Schlagzeilen.

Kurz: Wir brauchen politische Korrektheit im Sinne von Anstand. Gerade in einer Demokratie wie der unseren ist der gegenseitige Respekt in der Auseinandersetzung entscheidend. Wir alle müssen ritterliche Georg sein – da draussen gibt es Drachen genug.

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4 Kommentare zu "Warum es die politische Korrektheit doch braucht"

  1. Manchmal beissen sich bei mir der «Anstand» und die «Politische Korrektheit». Ich möchte nicht ganz immer zur kleinen Minderheit gehören, die nicht wahrgenommen wird. Wenn ich Tatbestände wahrnehme, die ich fachlich und menschlich nicht korrekt finde, und kein Schwein hingucken will, werde ich manchmal provokativ und gar unanständig. Und dann brauche ich mitunter den Blocher, Köppel oder Trump in mir. Ich bin nicht der Typ, der nur an der Fasnacht die Wahrheit sagt. Wut- und Mutbürger stehen manchmal bei mir nahe beieinander. Manchmal ist es für mich nicht einfach,
    anständig zu bleiben. Und bei allem Anstand und Respekt: Auch der Ritter Georg kann den Drachen nur töten, wenn er ihn sticht und trifft.

  2. Viel hat sich in den letzten 5 Jahrzehnten geändert. Die Schwachen haben sich Bahn gebrochen – seien es nun die Einwohner der ehemaligen Kolonien, die Frauen, Homosexuelle, die Kinder, Behinderte und die Nicht-Gläubigen.
    Natürlich hatte und hat dies alles einen Einfluss auf die Sprache: Man sucht nach geschlechtsneutralen Begriffen, vermeidet diskriminierend empfundene Bezeichnungen und unterlässt Pauschalisierungen. Soweit so gut, soweit korrekt.
    Gerade aus dem Anti-Pauschalisierenden sind aber neue Formen der Pauschalisierung in umgekehrter Form entstanden: aus „dem“ angsteinflössenden Ausländer sind „die“ netten“ Fremden geworden, aus der „Hexe“ die fehlerfreie Frau, aus den frechen Schülern autonome Persönlichkeiten.
    Wie wir aber wissen, gibt es auch unter den Fremden islamistische Faschisten, unter den Frauen machthungrige Chefinnen, unter den Kindern Bengel ohne Anstand, also all das, was selbst nicht viel von politischer Korrektheit hält, nein sogar Errungenschaften unserer Emanzipation selbst in Frage stellt. Und hier gehört es eben zur politischen Korrektheit, diese Umstände nicht unter den Teppich zu wischen. Wer dies macht, erleichtert es den reaktionären Kräften, sich als Vorreiter der Wahrheit zu präsentieren.
    Es geht also darum, den Ansatz des positiven Menschenbildes in jedem Falle zu priorisieren, immer aber auch einzugestehen, dass ein Scheitern möglich und das Vorschussvertrauen nicht in jedem Fall gerechtfertigt ist.
    Luka Takoa

  3. Vorsatz 2017: Kürzer fassen. Doch die „Zehnderschen Kommentare“ schreien oft geradezu nach einem Replikt, wie auch diese Woche……
    Der im Text erwähnte Nationalrat U. Köppel geht nicht „zum-Freunde-finden“ nach Bern. Er geht auch nicht zum „Weisswein-Anstossen“ nach Bern („Weisswein-Fraktion“). Er will kein möglichst grosses „Liebkind-Netzwerk“ aufbauen. Er vergibt seinen Zutritts-Batch auch nicht an Lobbyisten. Er geht nach Bern, wie unsere Vorväter zum Kämpfen, zum Austragen, zum Überzeugen. Manchmal mit markigen Worten. In Bern laufen manchmal Bundesräte und Parteien aus dem Saal (Sommaruga). Andere heben Schilder hoch, wenn wie bei der MEI-Initiative erstmals bewusst der Volkswille nicht umgesetzt wurde nach dem Motto „Das Volk kann uns mal“, auf denen provokant (aber stimmig und auf den Punkt gebracht!) „Volksverräter – Massenzuwanderung geht weiter“ (SVP) steht. Politik ist Missstände der anderen aufzudecken, zum Wohle des Ganzen, zum Wohle des Landes – auch wenn dann halt mal das eine oder andere Parlamentarier-„Gspänli“ im Zug nach Basel demonstrativ in ein anderes SBB-1.-Klass-Abteil hockt. Dieses Unkorrekte ist auszuhalten – sonst bezieht man umsonst die Riesen-Parlaments-Vergütung. Unsere Vorväter machten es uns vor – und die haben die Schweiz wahrlich zu etwas gebracht.
    Heute fehlen immer wie mehr (durch moderne Kuschel-„Korrektheit“) herausragenden Figuren. Die Leuchttürme. Die Provokateure. Die Unkonventionellen. Die Streitbaren. Die Querdenker. Darum mangelt es an fruchtbaren Auseinandersetzungen. Wer solches sucht, verdurstet in unserer Politiklandschaft. Die krankhafte Harmoniesucht lähmt Bern. Statt zu disputieren, gilt nur noch das vornehme konferieren.
    Mehr Streitlust, mehr Mut zum Unbequemen, mehr Selbstkritik, weniger Selbstgefälligkeit, weniger Selbstgenügsamkeit: Es würde uns guttun, wir haben es nötig.
    Zu SP-Helmut Hubachers Zeiten hing die SP in Zürich Plakate auf, auf denen stand: „Aagriffig u Zäch!“.
    Heute verschicken sie mir Bettelbriefe mit „dem Aufruf zum Anstand/Korrektheit“. So haben sich die Zeiten gewandelt.
    Politik ist Aktivdienst am Volk und am Land. Mit allem drum und dran. Viele Parteien machen Politik im Schlafwagen. Doch die Schlafwagen sind/werden (SBB/DB) abgeschafft und verschwinden. Mit samt den Politikern drin.
    Dies ist aber auch „*Total-Voll-KORREKT!“ /*Jugendslang für: „Dies ist auch gut so!“

    1. Leider schreit auch Ihr Troll-Kommentar nach einem Replik (nicht Replikt).
      Ihr Schönreden von diesem aggressiven rechtsnationalistischen Getue macht mir Angst und ist darüber hinaus noch vollständig falsch:
      Politik ist eben gerade nicht „Missstände der anderen aufzudecken“, sondern Lösungen vorzuschlagen.
      Auch würde uns „mehr Streitlust“ nicht „guttun“, wie Sie meinen, sondern vernichtet genau das, was die Schweiz so erfolgreich gemacht hat: Respekt vor dem Gegner und das Ringen um gemeinsame Lösungen.
      Luka Takoa

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