Ohne Europa gibt es keine Schweiz
Fast wäre es diese Woche im Nationalrat wieder einmal zu einer Europadebatte gekommen. Der Anlass: Im Nationalrat ist eine Motion von SVP-Nationalrat Lukas Reimann traktandiert, der vom Bundesrat fordert, das Beitrittsgesuch vom 22. Mai 1992 zur damaligen EG zurückzuziehen. Formell ist es völlig egal, ob die Schweiz das Beitrittsgesuch zurückzieht oder bestehen lässt – es ist nämlich längst gegenstandslos geworden. Es ist, wie wenn Sie zu Hause noch eine Fahrkarte der Nordostbahn liegen hätten und darauf pochen, diese Fahrkarte zu vernichten, weil sie sonst verpflichtet sein könnten, die Reise anzutreten. Für die heutige EU mit 28 Mitgliedsländern ist ein 23 Jahre altes Beitrittsgesuch zur EG, die damals zwölf Mitglieder hatte, ebenso gegenstandslos wie eine Fahrkarte der Nordostbahn für die heutige SBB.
Dass die SVP das Beitrittsgesuch vom Tisch haben will, zeigt vor allem, wie gross die EU-Phobie der Partei ist. Und dass die anderen Parteien diesmal wohl mitmachen, wie stark ihnen die SVP damit auf den Geist geht. Vielleicht ist es aber ganz gut, wenn das Beitrittsgesuch aus den Schubladen und den Köpfen verschwindet. Die Schweiz täte gut daran, aus der Polarität EU-Beitritt oder Isolationismus herauszukommen. Denn ersteres ist nicht realistisch und letzteres eine Illusion.
«Als Schweiz haben wir die Möglichkeit, zu zeigen, dass es ohne EU besser geht und dass es Alternativen gibt», schreibt Lukas Reimann in seiner Motion. Reimann fasst damit in einem Satz die ganze Überheblichkeit der SVP zusammen. Dass die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, heisst nicht, dass sie ohne EU überleben könnte. Die Schweiz mag eine Nicht-EU-Insel in der EU sein – gerade deshalb kommt sie so wenig ohne EU aus, wie eine richtige Insel ohne Meer auskommt. Die Schweiz profitiert in hohem Mass von der EU.
Vielleicht ist es gut, wenn das EG-Beitrittsgesuch verschwindet, damit der Blick frei wird auf die Tatsache, dass die Schweiz ein Teil von Europa ist und schon immer war. Die ständige Abgrenzung der EU lässt uns vergessen, dass die Schweiz kulturell, wirtschaftlich und auch politisch nicht ohne das Europa darum herum denkbar wäre. Und zwar nicht nur, weil die Schweiz im Herzen von Europa liegt. Die Schweiz ist kulturell ein Kaleidoskop europäischer Strömungen. Was wäre die Deutschschweiz ohne die deutschsprachige Kultur in Deutschland und Österreich? Was die Romandie ohne Frankreich, das Tessin ohne Italien? Natürlich sind unsere Landesteile kulturell eigenständig, aber sie sind gleichzeitig nicht ohne die grossen Kulturräume in den sie umgebenden Ländern denkbar.
Auch politisch ist die Schweiz nicht ohne Europa denkbar, auch wenn der SVP beim Gedanken daran das Fondue im Hals stecken bleibt. Das zeigt schon die Schweizer Neutralität, denn Neutralität ist wie Schönheit abhängig davon, dass andere sie anerkennen. Ohne die Aufklärung, die Französische Revolution und Napoleon wäre die moderne, politische Schweiz nicht denkbar. Kurz: Die Schweiz ist Resultat und Schmelztiegel europäischer Geschichte. Gerade in Basel ist das keine Theorie, sondern jeden Tag erlebbar. Und essbar.