Nach Schweizerhalle – vor der Atomausstiegsabstimmung

Publiziert am 4. November 2016 von Matthias Zehnder

«Tschernobâle» titelte diese Woche die NZZ über einem Rückblick auf die Brandkatastrophe in Schweizerhalle vor 30 Jahren. Die Zeitung bringt damit den Chemieunfall unfreiwillig mit der Atomausstiegsfrage in Verbindung. Unfreiwillig, aber zu Recht. Ein Kommentar über den Aspekt der Verantwortung, 30 Jahre nach Schweizerhalle, drei Wochen vor der Abstimmung über die Atomausstiegsinitiative.

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Es war der grösste Chemieunfall, den die Schweiz je gesehen hatte und bis heute sind die Folgen nicht ganz beseitigt. In der Nacht auf den 1. November 1986 geriet die Lagerhalle 956 der damaligen Chemiefirma Sandoz in Brand. Ursache war vermutlich ein Schwelbrand, der durch das Schrumpfen von Plastik über einem Stoff namens Berliner Blau verursacht worden war. Rasch gerieten die in der Halle gelagerten Chemikalien in Brand: 1351 Tonnen Pestizide, Herbizide und Insektizide.

Die verbrannten Chemikalien führten zu unerträglichem Gestank in der Region Basel. Die Abgase des Brandes waren, abgesehen von Reizungen der Atemwege, nicht akut gefährlich. Doch am Brandplatz gelangten grosse Mengen Löschwasser in den Rhein und schwemmten rund 30 Tonnen hochgiftiger Chemikalien in den Fluss. Das Löschwasser färbte den Rhein rot. Sandoz liess verlauten, das sei bloss ein Markierstoff und ungefährlich. Doch die Chemikalien im Löschwasser vergifteten den Rhein auf einer Länge von 250 Kilometern. Der Fluss war in der Folge über viele Kilometer und für mehr als ein Jahr tot. Die Bilder des roten Rheins blieben den Baslern im Gedächtnis.

An der Katastrophe vorbeigeschrammt

Was die Menschen damals nicht wussten: Es hätte nicht viel gefehlt, und es wäre in Basel zu einer auch für Tausende von Menschen tödlichen Katastrophe gekommen. Unmittelbar neben der Halle 956 lagerte Sandoz nämlich grosse Mengen Phosgen, das sie für die Herstellung von Insektiziden verwendete. Phosgen ist extrem giftig: Das Gas wurde im ersten Weltkrieg als Kampfgas eingesetzt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn auch diese Halle in Brand geraten wäre.

Am Brandplatz blieben 8700 Kilogramm zum Teil hochgiftige Pestizide und 134 Kilogramm Quecksilber zurück. Die Schadstoffe stecken bis heute im Boden: Sandoz deckte den Boden mit einer grossen Betonplatte zu. Die Schadstoffe bedrohen deshalb heute noch die Trinkwasserfassung Obere Hard in Muttenz.

Sandoz wäre gewarnt gewesen

Der Chemiebrand von Schweizerhalle und der Nuklearunfall im Atomkraftwerk Tschernobyl, der sich im gleichen Jahr ereignete, haben 1986 dazu geführt, dass viele Menschen das grenzenlose Vertrauen in die Technik verloren haben. Das Vertrauen in die Technik und in die Manager, welche die Technik beaufsichtigen. Sandoz hatte zwar jede Schuld von sich gewiesen und den Eindruck erweckt, dass das Unglück überraschend und unvorhersehbar gewesen sei. Später kam jedoch aus, dass sich die Zürich Versicherung bereits 1981, also fünf Jahre vor dem Brand, geweigert hatte, die Halle 956 zu versichern, weil in der Halle Rauchmelder und Sprinkleranlagen fehlten. Im Gutachten schrieb die Versicherung, im Unglücksfall bestehe die Gefahr eines grossen Schadenausmasses durch Freisetzung von Chemikalien in Luft und Löschwasser und dadurch Gefährdung der Bevölkerung. Die Versicherung beschrieb also fünf Jahre vor dem Unfall etwa das, was 1986 dann eintrat. Was machte die Sandoz? Sie wechselte zu einer weniger kritischen Versicherung.

Die Versicherung hatte 1981 das Risiko eines Unfalls mit «mittlerer Eintretenswahrscheinlichkeit» beziffert. Dass ein solcher Unfall ausgerechnet in der technisch hochentwickelten Schweiz passieren konnte, erschütterte die Menschen auf ähnliche Weise, wie das Atomunglück in Fukushima im hochentwickelten Japan. Das «Undenkbare» war geschehen.

Wer trägt die Verantwortung?

Die Frage ist: Wer trägt dafür die Verantwortung? Wer trägt die Verantwortung, wenn sich zum Beispiel Grundwasserspiegel verschieben und Gift, das immer noch im Boden steckt, ins Basler Trinkwasser gelangt? Das ist nach 30 Jahren ganz schwierig. Die Sandoz gibt es nicht mehr. Rechtsnachfolgerin von Sandoz ist zwar die Novartis, die Agrochemie und damit das betroffene Areal ging aber an Clariant. Wer hat nun die Verantwortung?

Wenn sich schon nach 30 Jahren die Verhältnisse so kompliziert haben – wie soll denn jemand die Verantwortung für ein AKW oder ein Atommülllager übernehmen können, wo die Umweltbelastungen nach einem Unfall Tausende, ja Millionen Jahre dauern können? Wie soll jemand die Verantwortung für Atommüll übernehmen können, wenn die Schweiz bis heute nicht weiss, wo sie den nuklearen Abfall lagern soll?

Der neue Imperativ

Die Frage der Verantwortung stellt sich neu, seit die Menschen mit menschgemachten Mitteln die Welt vernichten oder sie auf Generationen hinaus zerstören könnten. Der deutsche Philosoph Hans Jonas hat den Anspruch so formuliert: Der endgültig entfesselte Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gibt, ruft nach einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, den Menschen zum Unheil zu werden. Anders gesagt: Weil die Technik Mass und Möglichkeiten des Menschlichen übersteigen, muss der Mensch die Technik zügeln.

Aber wie und nach welchen Prinzipien muss der Mensch die Technik, sein Handeln begrenzen? Hans Jonas formuliert dafür das Prinzip der Verantwortung, ein neuer Imperativ: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden. Oder negativ formuliert: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens.

Es geht um die künftigen Generationen

Der Imperativ von Hans Jonas sagt, dass wir zwar unser eigenes Leben aufs Spiel setzen dürfen, aber nicht das Leben künftiger Generationen. Er schreibt wörtlich: dass wir nicht das Recht haben, das Nichtsein künftiger Generationen wegen des Seins der jetzigen zu wählen oder auch nur zu wagen. Hans Jonas hat diese Sätze 1979 geschrieben, sieben Jahre vor Schweizerhalle – und 37 Jahre vor der sich abzeichnenden Klimakatastrophe der Gegenwart.

Hans Jonas formuliert die Sätze seines Imperativs der Verantwortung nüchtern und zurückhaltend. Wir dürfen sie heute aber als schreiende Anklage gegen unseren Umgang mit Umweltrisiken lesen. Haben Sie die Diskussion um die Atomkraft in den letzten Wochen verfolgt? Sie lesen von einer möglichen Stromlücke, einem möglichen Blackout, Sie lesen vom Strompreis und der Stromversorgung – ob und wie unsere Nachfahren mit dem Atommüll umgehen, was sie mit den strahlenden Ruinen der AKWs anstellen sollen, davon steht kein Wort geschrieben. Ganz zu schweigen von einer Nuklearkatastrophe.

Risiko ist nicht gleich Wahrscheinlichkeit

Experten sagen, die «Eintretenswahrscheinlichkeit» eines Super-GAUs in der Schweiz sei sehr klein. Einmal ganz abgesehen davon, dass vergleichbare Experten das auch vor Schweizerhalle, vor Tschernobyl und vor Fukushima behaupteten, leiten Politiker daraus fälschlicherweise ab, dass das Risiko, das sie mit der Nutzung der Atomkraft eingehen, klein sei. Das ist falsch. Denn Risiko ist definiert als das Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmass. Die Wahrscheinlichkeit eines Atomunfalls mag klein sein – weil das potenzielle Schadensausmass riesig ist, schaut als Produkt der beiden Faktoren ein grosses Risiko heraus.

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Ob wir dieses Risiko eingehen dürfen, lässt sich, so Hans Jonas, nicht nur am Nutzen messen, den wir aus der Atomkraft ziehen. Wir müssen auch künftige Generationen miteinbeziehen. Und wenn die Permanenz echten menschlichen Lebens in der Schweiz gefährdet ist, müssen wir von der Atomkraft absehen, und sei der Nutzen in der Gegenwart noch so gross. Denken Sie daran, wenn Sie in den nächsten Wochen vom Nutzen der Schweizer AKW hören, von Preisen und Profiten. Das sind die falschen Massstäbe. Auf die Lebensmöglichkeit unserer Kinder und Kindeskinder kommt es an.

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6 Kommentare zu "Nach Schweizerhalle – vor der Atomausstiegsabstimmung"

  1. Obwohl nicht alle so fruchtbar sind wie Matthias Zehnder und ich, rede ich auch der immer grösser werdenden Schaar von Kinderlosen und den Horden von Singles, kurz dem neuen Trend in der Schweiz, mit dem wichtigen und richtigen Schlusssatz ins Gewissen und hoffe auf deren Solidarität: „Auf die Lebensmöglichkeit unserer Kinder und Kindeskinder kommt es an!“
    PS: Was in der Regio Basel immer wieder vergessen wird: Wer hat uns vor dem nahen geplanten AKW in Kaiseraugst (bei Basel) bewahrt? Es war Christoph Blocher, der wie immer die Stimmung im Volk spürte und mit der Atom-Lobby den Ausschlag zur Aufgabe des AKW-Projektes gab. So können wir ihm gerade in unserer Regio drei mal danken: 1.) Wir sind nicht in der EU, der grösste Vorteil der CH und Treiber unseres Wohlstandes, 2.) Er beschert uns echte Medienvielfalt mit 3 Zeitungen. Unsere Stadt darf die Auswahl haben zwischen BZ, Tageswoche und der BaZ, und 3.) Wir haben dank seinem Abblasen des Kaiseraugst-AKW-Projekt ein (wenigstens) näheres, atomfreies Umland.

  2. Ha ha ha, Blocher hat uns vor Kaiseraugst bewahrt. Es waren wir, unbescholtene Horden von „unpolitischen“ Bürgern aus der Region, die aus der AKW Bewegung über alle gesellschaftlichen Grenzen und Jahrgänge hinweg eine Volksbewegung machten und eines schönen Tages mit Kind und Kegel zu Fuss nach Kaiseraugst zogen. Ich war auch dabei, und meine Frau, und unser neuer Kinderwagen, extra gekauft, damals in den Siebzigern, die man uns seither um die Ohren haut. Und auch in der Chemienacht war ich dabei, eingeschlossen in meiner Altstadtwohnung und ahnend dass etwas schief gehen könnte und diese Nacht vielleicht meine letzte ist.
    Darum und wegen dem fruchtbaren Meinungsmacher Matthias Zehnder habe ich – Auslandschweizer in Übersee – das Abstimmungskuvert soeben aus dem Papierkorb gezogen und umgehend auf die Post gebracht.

  3. Sehr geehrter Herr Zehnder
    Ich danke Ihnen für diesen hervorragend geschriebenen Artikel. Er umschreibt weitestgehend korrekt Ursachen und Ablauf dieses Unglücks. Ihre Schlussfolgerungen kann ich gut nachvollziehen. Als einer der damals verantwortlichen Personen (Chemikaliendivision) war ich während der ganzen Brandnacht vor Ort und kenne die ganze Geschichte. Was mich stört, ist die – seit dreissig Jahren kolportierte – Meldung, wegen des unmittelbar neben der Brandstelle gelagerten Phosgens sei die Region knapp einer Katastrophe vorbeigekommen. Der Brand von Schweizerhalle war bedeutend genug, ihn nicht noch durch zusätzliche Unwahrheit anzureichern. Das Lagerregal für Phosgen befand sich nicht „unmittelbar neben der Halle 956“, sondern auf der vom Brand abgewandten Seite des riesigen Produktionsgebäudes 939 in mehr als 250 m Distanz. Eine Beschädigung dieses Bereichs hätte durch Brandeinfluss niemals stattfinden können. Korrekt ist, dass Novartis Rechtsnachfolgerin in von Sandoz. Falsch ist, dass die Agrochemie an Clariant ging. Die Agrochemie ging in einem Spin-Off von Sandoz und wurde , zusammen mit anderen, zur Syngenta.

  4. Man kann Matthias Zehnder nicht genug danken für die glasklare Darlegung des Zusammenhangs zwischen dem Risiko und der Eintretenswahrscheinlichkeit eines Risikos.
    Für die Nutzung der Atomkraft sind wir ein Risiko für unsere Gegenwart und für unabsehbare Zeiträume in der Zukunft bereits eingegangen, da es für die wirkliche Entsorgung des Atommülls bisher keine Lösung gibt.

    Für Schweizerhalle wurde 1981 die Wahrscheinlichkeit eines GAUs mit „mittlerer Eintretenswahrscheinlichkeit“ definiert und dauerte gerade mal fünf Jahre. Wie gross die Eintretenswahrscheinlichkeiten für Tschernobyl und Fukushima definiert waren, entzieht sich meiner Kenntnis aber ich vermute, auch dort wurden sie als „gering“ eingeschätzt.

    Zurecht stellt Matthias Zehner aber die Verantwortlichkeit als den zentralen Punkt aller Diskussion heraus. Die aber liegt bei uns. Und der Ausstieg ist überfällig – und möglich!

    Mit grossem Interesse lese ich jeden der wöchentlichen Artikel Herrn Zehnders, was ich von den romanhaften Ergüssen Herrn Zweidlers nicht behaupten kann. Erstaunlich, dass er hier einmal nicht mit einer kaum endenen Wörterflut widersprechen muss. Was er sonst Erhellendes über die „Horden von Singles“ und die „grösser werdende Schar von Kinderlosen“ schwadroniert, ist so entlarvend, wie sein Bekenntnis zum in Herrliberg residierenden „Schweizer Volk“. Ich jedenfalls fühle ich mich in keinem der drei genannten Punkte Herrn Blocher zu Dank verpflichtet schon eher Leuten, wie Herrn Haisch, die zur richtigen Zeit auf die Strassen gegangen sind.

    Ich danke auch Herrn Pierre Meyer, der seine Verantwortlichkeit in jenen Tagen nicht versteckt für seine kenntnisreiche Präzisierung einiger Details.

  5. Bereits 1986 habe ich von «Tschernobâle» und von der «Schweizerhölle» geschrieben, und – jung und dumm wie ich damals war – dass wir daraus für die Zukunft etwas lernen sollten. Das haben wir: Hochgiftige Produktionen sind in Länder mit niedrigen Schwellen exportiert und in der Schweiz haben wir die Grenzwerte für Schadstoffe von Altlasten angepasst.

    1. Auf meinem Morgenlauf habe ich mir empfohlen, den zweiten Teil umzuformulieren und zu ergänzen. Also: Die partiell hochintelligente «Immer-noch-mehr-Wirtschaft» hat gelernt, hochgiftige Produktionen zu exportieren und die Grenzwerte für Schadstoffe heraufzusetzen. Im Kleinen zeigt der Kanton Basel-Stadt, wie das geht: Als auf der Schweizer Seite verantwortlicher Betreiber profitiert er vom EuroAirport, ohne dass er dafür Überflüge – und damit den Lärm und Dreck – in Kauf nehmen muss.

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