Müssen Künstler gute Menschen sein?

Publiziert am 20. April 2019 von Matthias Zehnder

Emil Nolde und Michael Jackson haben etwas gemeinsam: Ihre Werke wurden in den letzten Tagen und Wochen verbannt, weil die Öffentlichkeit die Männer hinter dem Werk ablehnt. Nolde entpuppte sich als Nazi, Michael Jackson hat womöglich Kinder missbraucht. Kanzlerin Merkel hat Noldes Bilder abgehängt, Radiostationen spielen Jacksons Musik nicht mehr. Ist das richtig? Müssen Künstler gute Menschen sein?

Emil Nolde ist der Lieblings-Expressionist der Deutschen. Sagt «Der Spiegel». Oder besser: Er war es. Denn das Museum Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart in Berlin zeigt derzeit eine Austellung, die aufräumt mit dem Nolde-Bild, das die Deutschen sich so angenehm schöngefärbt haben: Emil Nolde – Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus[1] Der Maler aus Seebüll war galt in Nazideutschland zwar als entarteter Künstler – aber er selbst war wohl dennoch ein Nazi. Er soll Hitler höchstselbst einen Entjudungsplan vorgelegt haben. Grund genug für die deutsche Kanzlerin, zwei Nolde-Bilder aus ihrem Büro abhängen zu lassen.[2]

Der «Fall Nolde», wie ihn der «Spiegel» nennt, wirft einige grundsätzliche Fragen auf. Etwa: Kann ein Nazi ein guter Künstler sein? Müssen wir Noldes wunderbar farbige Bilder anders anschauen, wenn wir wissen, dass sein Herz nicht rot, sondern braun war? Und wenn das so ist – was heisst das für Künstler heute? Malen gute Menschen bessere Bilder?

Michael Jackson und Kevin Spacey

Die Fragen sind keineswegs aus der Luft gegriffen. So, wie Noldes Bildern, ergeht es derzeit zum Beispiel der Musik von Michael Jackson. Im Dokumentarfilm «Leaving Neverland» erzählen zwei Männer, wie sie als Kind vom «King of Pop» sexuell missbraucht wurden. Auch das Schweizer Fernsehen SRF zeigte die Doku – und löste damit viel Entrüstung aus.[3] Eine Folge des Films: Eine ganze Reihe von Radiosendern hat angekündigt, keine Musik von Michael Jackson mehr abzuspielen, darunter etwa Radiosender in Norwegen und in Kanada.[4] Die Radiosender geben an, auf Proteste ihrer Hörerinnen und Hörer zu reagieren.

Das Ansehen von Emil Nolde und Michael Jackson wurde posthum revidiert. Anders erging es dem amerikanischen Schauspieler Kevin Spacey: Als um Zug der Weinstein-Affäre der Vorwurf der sexuellen Nötigung gegen ihn laut wurde, liess Hollywood den Schauspieler fallen.[5] Obwohl er die Titelrolle in der TV-Serie «House of Cards» hatte, wurde er aus der Serie entfernt. In der letzten Staffel ist Spacey nicht mehr zu sehen. Aus dem Film «All the Money in the World», der zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens der Vorwürfe bereits fertig abgedreht war, wurde Spacey gar herausgeschnitten und nur wenige Wochen vor der geplanten Premiere durch einen anderen Schauspieler ersetzt.

Caravaggio war ein Mörder

Reagiert Hollywood, weil zu befürchten ist, dass das Publikum Spacey heftig ablehnt? Oder können schlechte Menschen keine guten Schauspieler sein? Wenn das aber so wäre – müsste dann nicht jedem Film ein Leumundszeugnis der Schauspieler beiliegen, die daran beteiligt waren? Ist das mit anderen Worten alles bloss eine Frage des Marketings oder machen gute Menschen bessere Kunst? Im Einzelfall sind die Reaktionen alle verständlich. Klar, dass die deutsche Kanzlerin ihr Büro nicht mit den Bildern eines bekennenden Nazis schmücken will. Klar, wollen Radiosender keine Kinderschänder on air haben. Aber was heisst das grundsätzlich für unseren Umgang mit Kunst?

Ich liebe die Bilder von Caravaggio. Wie er mit Licht und Dunkelheit umgeht, ist schlicht atemberaubend. Ein guter Mensch war Caravaggio vermutlich nicht. Wegen eines Totschlags wurde er aus Rom verbannt. Er flüchtete nach Neapel und später nach Malta. Aber auch da suchte er Händel und musste nach einer tätlichen Auseinandersetzung fliehen. Caravaggio war wohl ein ungestümer Mensch, vielleicht ein unangenehmer Charakter – aber seine Bilder sind phantastisch. Dürfen wir die Bilder von Caravaggio anschauen, ohne darüber nachzudenken, was für ein Leben der Maler geführt hat?

Picasso und Bertolt Brecht

Die Fondation Beyeler zeigt mit «Der junge Picasso – blaue und rosa Periode» derzeit eine wunderbare Ausstellung mit gegenständlichen Bildern von Picasso.[6] Dürfen wir uns heute diese Bilder anschauen ohne uns Gedanken zu machen darüber, wie Picasso mit den Frauen in seinem Leben umgegangen ist? Pablo Picasso brauchte Frauen für sein Schaffen wie Farbe und Pinsel. Keine liebte er auf Dauer, schreibt die «NZZ am Sonntag».[7] Der Picasso, der uns aus solchen Berichten entgegentritt, ist ein selbstverliebter Egomane. Bloss: Was ändert das an seinen Bildern?

Ein anderer Künstler, der Frauen brauchte, war Bertolt Brecht: diese Arbeits- und Liebesbeziehungen waren nicht im Gleichgewicht: die Werke wurden gemeinsam produziert, aber sie erschienen unter Brechts Namen.[8] Brecht hat seine jeweiligen Gefährtinnen benutzt oder gar ausgenutzt und sie nach Belieben fallen gelassen. Sie haben ihm zugearbeitet, manchmal sogar gedient – er hat es kaum verdankt. Brecht muss zuweilen ein richtiges Ekel gewesen sein. Bloss: Was ändert das an seinen Texten? Wären seine Texte besser, wenn Brecht ein besserer Mensch gewesen wäre?

Chaplin und Richard Strauss

Problematische Künstlerbiographien gibt es viele. Chaplin fällt mir ein. Er hatte einen Hang zu sehr jungen Mädchen, der ihn heute wohl hinter Schloss und Riegel bringen würde. Damals heiratete er seine jungen Geliebten. Problematisch bleibt sein Verhältnis zu Frauen. Aber was ändert das an seinen Filmen? Richard Strauss fällt mir ein. Ich liebe seine Hornkonzerte. Doch Richard Strauss stand auf Adolf Hitlers Liste der «Gottbegnadeten Künstler» ganz zuoberst auf der Sonderliste mit den drei wichtigsten Musikern des Dritten Reiches.[9] Auch Strauss hatte wohl ein braunes Herz. Darf ich deshalb seine Hornkonzerte nicht mehr spielen?

Die Ablehnung von Nolde, von Jackson, von Spacey – sie ist verständlich. Aber ich glaube nicht, dass sich dadurch etwas an ihrem Werk ändert. Es ist vielmehr ein Ausdruck unserer Zeit, dass der Künstler wichtiger ist als die Kunst. Unseren Medien geht es nicht um die Auseinandersetzung mit Werken – es geht ihnen um Stars. Und Stars dürfen keine Flecken haben, ganz egal, ob sie nun Nolde, Jackson oder Spacey heissen. Künstler aber haben viele Flecken. Vielleicht sind es gerade die Abgründe in den Menschen, die zu Kunst befähigen, wer weiss. Blank polierte Menschen ohne Fehl und Tadel sind zu Kunst nicht in der Lage. Stars zieren Titelbilder und Kühler von Limousinen. Mit Kunst hat das nichts zu tun. Wer die Künstlerin oder den Künstler aufgrund seiner Vita ablehnt, drückt sich oft nur davor, sich mit einem Werk auseinanderzusetzen.

Denn das umgekehrte ist nicht wahr: Bloss weil ein Mensch gut ist, macht er keine gute Kunst: Gut gemeint ist meist nicht gut genug. Ein wahrer Satz bleibt wahr, und wenn ihn auch der Teufel spricht. Das ist anstrengend. Es heisst nämlich, dass wir nicht aufgrund eines Lebenswandels ein Pauschalurteil über die Werke eines Künstlers abgegeben können. Wir müssen uns mit jedem Werk einzeln beschäftigen. Es ist aber auch eine Erleichterung: Picasso, Brecht, Chaplin, Caravaggio– das waren grosse Künstler, aber keine perfekten Menschen. Sie stehen nicht unangreifbar auf einem hohen Sockel, sondern mitten unter uns. Gerade deshalb sollten ihre Werke uns zu denken geben.

Basel, 19. April 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

[1] Siehe https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/emil-nolde-eine-deutsche-legende-der-kuenstler-im-nationalsozialismus.html

[2] Vgl. «Der Spiegel», 12. April 2019: https://www.spiegel.de/plus/emil-nolde-und-die-nazis-was-tun-mit-den-bildern-eines-judenhassers-a-00000000-0002-0001-0000-000163403905

[3] Vgl. https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/wochenende-gesellschaft/alte-vorwuerfe-neu-aufgerollt-leaving-neverland-der-dokumentarfilm

[4] Vgl. «FaZ», 6.3.2019: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/kanadas-radiosender-spielen-keine-songs-von-michael-jackson-16074188.html

[5] Vgl. «Der Spiegel», 10. August 2018: https://www.spiegel.de/plus/a-00000000-0002-0001-0000-000158843533/

[6] Vgl. https://www.fondationbeyeler.ch/picasso/

[7] «NZZ am Sonntag», 4.11.2017: https://nzzas.nzz.ch/gesellschaft/pablo-picasso-goettinnen-und-fussmatten-ld.1326287

[8] Vgl. Deutschlandfunk. 7.10.2002: https://www.deutschlandfunk.de/brechts-frauen.700.de.html?dram:article_id=80667

[9] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gottbegnadeten-Liste

6 Kommentare zu "Müssen Künstler gute Menschen sein?"

  1. Wagner wurde noch vergessen. Ihm wird ebenfalls eine braune Tendenz vorgeworfen. Aber sei es Wagner, Strauss, Jackson oder wer auch immer, was die Künstler an Kunst geliefert haben, bleibt Kunst. Und ich werde sie unabhängig davon, was den Künstlern vorgeworfen wird, als Kunst geniessen. Ich möchte keinen Menschen auf einen Sachverhalt reduzieren, wenn ich alles andere von ihm mag oder gar grossartig finde.
    Darum werde ich weiterhin Wagner, Strauss und Jackson hören und mir Bilder ansehen dir mir gefallen.

  2. Moral ist etwas für die, die daran glauben wollen oder müssen. In Tat und Wahrheit herrscht grundsätzlich das System einer kollektiv unbewusst organisierten Werte- und Verantwortungslosigkeit. Vor allem wer Geld und/oder Macht hat, kann tun oder oder lassen, was und wie er*sie es will. Hauptsache: Es bringt Profit und/oder macht Spass. Das gilt nicht nur für die Politik und die Wirtschaft, sondern auch für die Kunst und die Wissenschaft.

  3. Auf der intellektuellen Ebene stimme ich dir zu. Aber du lässt die gefühlsmässige ausser Acht. «Leaving Neverland» ändert nichts an Jacksons Musik, aber an meiner Wahrnehmung. Ich höre jetzt einen Mann, den ich nicht mehr hören will. Das kann man nicht allgemeingültig erklären, sondern nur von Fall zu Fall. Genauso, wie man manchen Freunden nach einem Misstritt verzeiht und anderen die Freundschaft aufkündet. Jacksons Betrug ist unverzeihlich, und darum finde ich es richtig, dass seine Musik nicht mehr gespielt wird

    Nebenbei: Brecht und Chaplin kann man weitestgehend meiden, während man von Jackson im Dudelfunk überfallen wird.

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