Meine Erst-August-Rede 2019

Publiziert am 2. August 2019 von Matthias Zehnder

Im Normalfall schreibe ich Reden für andere. Für einmal habe ich am 1. August auf Einladung der Gemeinde Bottmingen eine Rede selbst gehalten: meine Erst-August-Rede 2019. Mein Ausgangspunkt waren die vielen Schweizbilder, die wir haben und wie bequem es ist, wenn jeder sich selbst jenes Schweizbild zurechtzimmern kann, das ihm passt. Die Frage ist: Was ist es, das die Schweiz im Innersten zusammenhält wie das Naturejoghurt das Birchermüesli? Was braucht es, dass die Schweiz trotz unterschiedlichster Bilder nicht auseinanderfällt? Die Antwort finden Sie in meiner Erst-August-Rede 2019.

Verehrte Damen und Herren

Gerade jetzt, in dem Moment, stehen im ganzen Land Frauen und Männer vor Menschen, so wie ich hier vor Ihnen und halten Erst-August-Reden – so wie ich hier. In den letzten Jahren hat sich der Rahmen vielleicht etwas verändert. Da und dort gibt es nicht mehr nur Wurst, Wein und Bier, sondern auch Gemüse, Tee und Schorle. An manchen Orten darf das traditionelle Feuer nicht mehr angezündet werden, man verzichtet auf Feuerwerk wie hier in Bottmingen oder das Feuerwerk wird ersetzt durch eine Lasershow wie auf dem Bruderholz. Geblieben sind die Landeshymne und die Erstaugustreden.

Geblieben ist auch, dass sich ein rechter Teil dieser Reden am ersten August mit der Frage beschäftigt, was denn das eigentlich sei, diese Schweiz. Denn diese Frage ist, abgesehen von der Geographie, gar nicht so einfach zu beantworten.

Das ist bemerkenswert. Es gibt wohl kaum ein anderes Land, in dem die Menschen so häufig darüber nachdenken, was dieses Land denn nun sei – und in dem sie zu so widersprüchlichen Schlüssen kommen bei diesem Nachdenken.

 

Für die einen ist die Schweiz das Land der Bauern und der Älpler, geboren aus dem Widerstand der unabhängigen Bauern gegen die mächtigen Habsburger.

Für die anderen ist das blosser Mythos: Historisch ist die Schweiz viel eher ein Bund der mächtigen Städte, der sich lange noch zum Kaiser bekannte – der Reichsadler auf den Wappenscheiben etwa im Basler Rathaus zeugt bis heute davon.

Was jetzt – ist die Schweiz ein widerständiger Bund von Älplern oder ein kühl kalkulierender Städtebund?

 

Für die einen regieren in der Schweiz die vielen kleinen, ländlichen Kantone. Weil die Schweiz ein Ständemehr kennt, sind diese ländlichen Kantone in einer Machtposition. Ohne sie geht nichts – deshalb ist die Schweiz ein ländlich geprägtes Land.

Für die anderen haben in der Schweiz die Städte die Macht in der Hand. Wirtschaft und Wissen sind in Zürich, Basel und Genf konzentriert – entsprechend gross ist der Einfluss dieser Städte auf die Zukunft des Landes.

Was jetzt – ist die Schweiz ein ländliches Land oder von den Städten gesteuert?

 

Für die einen ist die Schweiz das Land der dicken Autos – in kaum einem anderen Land fahren so viele, schwere SUVs herum. Logisch, dass diese Schweiz die Autobahnen auf drei Spuren ausbaut und dem Auto den roten Teppich ausrollt.

Für die anderen ist die Schweiz das Land der Eisenbahn. Die Schweizerischen Bundesbahnen sind sprichwörtlich pünktlich und zuverlässig (mindestens waren sie es bis vor kurzem). Sie verwandeln die Schweiz in eine einzige Metropolitanregion.

Was jetzt – ist die Schweiz ein Autoparadies oder das Eisenbahnland?

 

Auch organisatorisch macht es uns die Schweiz nicht einfach. In Frankreich zum Beispiel führen alle Wege nach Paris: Da residiert die Regierung, da sind die wichtigen Schulen und Universitäten und natürlich haben die grossen Firmen ihren Sitz in Paris. Rom, Wien und Berlin sind ähnlich dominante Hauptstädte im wahrsten Sinn des Wortes in Italien, Österreich und Deutschland.

Paris, Rom, Wien und Berlin sind nicht nur Hauptstädte, weil da die Regierungen der jeweiligen Länder ihren Sitz haben, sondern auch, was die Grösse betrifft: Paris zum Beispiel hat fast siebenmal mehr Einwohner als die nächst grössere Stadt, Marseille. Wien ist sechseinhalb Mal grösser als Graz, die Nummer zwei in Österreich, Berlin ist immerhin zweieinhalb Mal so gross wie Hamburg.

In der Schweiz ist das ganz anders. Die Schweiz hat nicht nur keine Hauptstadt, sie hat gar keine dominierende Stadt. Bern ist lediglich die Bundesstadt – so hat es die Bundesversammlung 1848 festgelegt. Zur Wahl stand auch Zürich – schon damals eine wichtige Stadt. Und gerade deshalb entschied sich die Bundesversammlung gegen Zürich. So residiert die Schweizer Regierung bis heute nicht in der grössten Stadt der Schweiz: Bern ist nur die Nummer vier – Zürich ist fast dreimal grösser.

Dazu kommt, dass die wichtigen Zentren und Kompetenzen in der Schweiz nicht wie in anderen Ländern in einer einzigen Stadt konzentriert sind, sie sind im ganzen Land verteilt. Bern erhielt die Bundesregierung und das Bundesparlament, Zürich die ETH, das Landesmuseum und den Sitz des Direktoriums der Schweizerischen Nationalbank, Luzern das Eidgenössische Versicherungsgericht, Bellinzona das Bundesstrafgericht, St. Gallen das Bundesverwaltungsgericht und Genf erhielt die internationalen Organisationen. Nur eine Stadt ging leer aus – Basel. Oder fast: Es gibt eine einzige eidgenössische Institution in Basel: Das Schweizerische Seeschifffahrtsamt.

Auch wirtschaftlich hat die Schweiz kein Zentrum. Zürich ist zwar stark, Zürich ist aber vor allem die Stadt der Banken und, in letzter Zeit immer mehr, der Medien. Die Stadt der Rohstoffe ist Genf, in Zug ist die Krypto-Branche angesiedelt, in Biel die Uhrenbranche und Basel, immerhin, ist die Pharma-Hauptstadt der Schweiz.

Die Schweiz also hat keine Hauptstadt. Die Schweiz ist ein Land ohne Zentrum.

Wie kommt es, dass die Schweiz ohne Zentrum funktioniert?

Im Kern sind dafür zwei Prinzipien verantwortlich: der Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip. Beide Prinzipien sind tief in der DNA unseres Landes verankert. Sie sorgen dafür, dass die Gliedstaaten, also die Kantone, viele Kompetenzen haben. Das ist der Föderalismus. Und das Subsidiaritätsprinzip sorgt dafür, dass keine höhere Ebene im Staat Aufgaben übernimmt, die auch eine tiefere Ebene erledigen kann.

Dieser beiden Prinzipien wegen ist die Schweiz zu einem Land ohne Zentrum geworden, einem Land mit vier verschiedene Landessprachen und ganz vielen verschiedenen Gesichtern, die alle von sich behaupten können: Wir sind die Schweiz!

Der Künstler Ben Vautier hat deshalb an der Weltausstellung in Sevilla 1992 mit einem Schild Aufsehen erregt, auf dem stand: «La Suisse n’existe pas». In der Schweiz führte das zu grosser Aufregung – Ben Vautier sagte aber nur, was man auch den vielen verschiedenen Schweiz-Bildern ablesen kann, die heute, am ersten August, zelebriert werden: Die eine Schweiz, die gibt es nicht. «La Suisse n’existe pas» – es gibt viele Schweizen.

Das ist doch schön, sagen Sie jetzt vielleicht, das ist eben die Vielfalt unseres Landes.

Vielfalt mag in der Tourismuswerbung von Vorteil sein – aber wie ist das, wenn es um Politik, um die Identität des Landes geht? Sollten wir nicht wissen, wer wir sind?

Wenn sich jeder sein eigenes Bild der Schweiz zurechtzimmern kann, ist das auch sehr bequem. Für die einen ist die Schweiz ein offenes Land, das mit der ganzen Welt Handel treibt, für die anderen ein abgeschottetes Alpenland, das wenig mit Europa zu tun hat. Und beide Seiten haben recht. Man kann genauso behaupten, die Schweiz sei innovativ, wie dass sie konservativ sei. Jeder kann sich seine eigene Schweiz zurechtlegen, die Schweiz, die zu ihm passt, die Schweiz, die ihm passt.

Vielleicht ist deshalb das Birchermüesli unser Nationalgericht: Es bildet die Schweiz perfekt ab, weil es für jeden etwas drin hat.

Aber was ist es, was die Schweiz zusammenhält wie das Naturejoghurt das Birchermüsli? Was braucht es, dass diese vielen Schweizen zusammenhalten und zusammenbleiben und nicht mit einem grossen Krach auseinanderfliegen?

Die Vielfalt der Schweiz lässt sich nur leben, wenn wir die Bedingung einhalten, die in der Präambel der Bundesverfassung so formuliert ist:

im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,

Gegenseitige Rücksichtnahme und Achtung – das sind die Bedingungen dafür, dass die Schweiz ihre Vielgestalt behalten kann.

Vielfalt funktioniert nur, wenn jede und jeder die anderen in ihrer Art respektiert und achtet. Auch im Zeitalter von schnellen Schlagzeilen und Sozialen Medien und einem Internet, das die Medien mit Aufmerksamkeit belohnt, wenn sie mit einer skandalisierten Schlagzeile die Empörung des Publikums bewirtschaften.

Rücksichtnahme und Achtung – etwa gegenüber den Schwachen und Schwächsten der Gesellschaft. Denn, so steht es in der Präambel unserer Verfassung: die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen. Die Stärke des Volkes misst sich also daran, wie es den Armen, den Kranken, den Flüchtlingen, aber auch den Kindern und den alten Menschen geht.

Rücksichtnahme und Achtung – etwa gegenüber der Natur. Auch davon ist in der Präambel der Bundesverfassung die Rede: dass wir in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung stehen.

Und von noch einer Verantwortung ist in der Bundesverfassung die Rede: von der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen. Das kann man wirtschaftlich verstehen und auf die AHV beziehen, aber eben auch als Verantwortung, künftigen Generationen eine intakte Natur und Umwelt zu hinterlassen.

Rücksichtnahme und Achtung – das ist für mich das Naturejoghurt im «Birchermüesli Schweiz», das, was die vielgestaltige Schweiz im Innersten zusammenhält.

 

Die vielgestaltige Schweiz existiert bis heute, weil wir es bisher verstanden haben, genügend Rücksicht aufinander genommen haben und genügend Achtung voreinander hatten. Rücksichtnahme und Achtung – bleiben wir dabei.

Politisch heisst das: den Kompromiss zu suchen, das Land nicht den politischen Rändern überlassen, sondern möglichst alle Seiten an einem Entscheid beteiligen.

Gesellschaftlich bedeutet es, Verantwortung zu übernehmen für die Schwachen, für die Natur, für die kommenden Generationen.

Für die Medien heisst es, nicht mit Sensationen und Emotionen die schnelle Aufmerksamkeit zu suchen, sondern zu erklären und Verständnis zu schaffen – Verständnis für die anderen und vor allem für jene, die anders sind.

 

Rücksichtnahme und Achtung – das ist für mich das Rückenmark der Schweiz. Halten wir ihm Sorge.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen einen schönen 1. August.

 

Basel, 2. August 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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3 Kommentare zu "Meine Erst-August-Rede 2019"

  1. Weil ich mit dem Team von «Allschwil bewegt» dafür engagiert war, nahm ich erstmals nach etwa 40 Jahren wieder einmal an einer Erst-August-Feier teil. Die Rede habe ich als Beitrag zur Verdrängung der Realität erlebt. Das positivistische Geschwurbel um die Chancengesellschaft hat mir so abgelöscht, dass ich die Veranstaltung verlassen habe. Auch wenn ich «La Suisse n’existe pas» nicht als ein verkapptes Loblied auf „die vielen Schweizen“, sondern eher als eine Provokation verstehe, die Schweiz nicht immer und immer wieder zu idealisieren: nach der Rede von Matthias Zehnder wäre ich wahrscheinlich noch sitzen geblieben.

  2. Neutrale, ausgewogene 1.August-Reden zu halten, ist eine Kunst. Ihnen ist es gelungen. Chapeau.
    Ich könnte das nicht.
    Ich könnte nicht nicht davor warnen, dass zuviel Fremdbestimmung durch die EU schlecht für unser Land ist.
    Ich könnte es nicht lassen, zu warnen, dies was unsere Väter aufbauten, mit Knebelverträgen, mit einseitigen Eingeständnissen und weiterer, ungesteuerter Migration (von Reich und Arm) einfach so innert Jahren zu zerstören.
    Ich könnte es nicht lassen, an Eigenständigkeit zu appelieren, an Masshalten, an Dosieren, an Begrenzen; in jedem Bereich – Angefangen von der Horrorvision einer 11-Millionen-Schweiz bis hin zur ungebremsten Zulassung von Motorfahrzeugen, welche alles verstopfen und verstinken (wobei das Eine mit dem Andern eigentlich sonnenklar zusammenhängt…)
    Was mir aber noch auffällt:
    Der Multikulti-Befürworter und Betreiber dieses Wochenkommentars schwingt oft reden: Aber stets vor erlesenem, erhabenen und gutsituierten Publikum.
    Einmal redete er zur Abschlussfeier in einem Gymnasium vor Maturanden, mehrheitlich Weiss, Schweizer, aus gutem Hause….
    Warum nicht mal bei den EBA (nicht EFZ) – Reifenpraktiker-Stiften-Abschlussfeier….
    Dort erlebte er sein gelobtes Multikulti live.
    Weil dort 90% der EBA-Abgänger Migrationshintergrund haben. Weil die Eltern der Stifte nicht andächtig lauschen, sondern palavern, die Tanten und Nonnas verstehen eh nichts weil sie nach 30 Jahren in der Schweiz immer noch kein Deutsch können und die mitgebrachten Babys schreien im Zuschauerraum.
    Das wäre Ehrlich.
    Auch jetzt wieder: Warum nicht die 1.August-Rede in Pratteln halten, im Problemvieter in Muttenz, in der „Längi“ / BL…..
    Nein, man nippt am gekühlten Rose-Wein, schreitet auf dem Roten Teppich zum edlen Pult und hält vor den Bottminger-Wohlstands-Speckgürtel-Bevölkerung, welche andächtig lauscht und überlegt an der richtigen Stelle klatscht eine Rede, übertragen von einem Audio-System bester Herkunft, so ruhig, das man eine Stecknadel fallen hören könnte.
    Alles läuft gesittet, gesichert ab, bevor die dortigen ökologischen Bürger sich zurück in ihre Villen verziehen, wo sie im Mega-Pool (in Bottmingen sagt man dazu auch altertümlich „mein Bassin“) mit einem kühlen Nachtschwumm im beleuchteten Gartenpark den Feiertag beenden.
    Weshalb immer bei den Edeln kritische Gedanken über die Schweiz abhalten….
    Darüber könnte man sich auch mal Gedanken machen.
    NOCHMALS: Ich habe nichts gegen Bottminger Bürger, ich habe nichts gegen „Reiche“, und ich habe schon gar nichts gegen „Reifenpraktiker EBA“, die ich sehr schätze und sogar einige kenne.
    Es geht mir einzig und allein darum, der „Meccano“ von „immer Reden vor erlesenen, erhabenem, erlauchtem Publikum und nie vor einfachen Assistenzabgängern, von Gemeinden mit hohen (Migrations-)Problemen usw zu halten“ zu ergründen….
    Ist es wohl einfacher, angenehmer, sicherer oder wollen gewisse Redenschwinger (und davon gibt es viele) allgemein der Wahrheit nicht ins Gesicht schauen?
    Wer es weiss, werfe den ersten Stein.

    1. Ach, Herr Zweidler, warum so klassenkämpferisch? Die Sache liegt ganz einfach: Ich rede da, wo ich eingeladen werde. Weil ich in Basel lebe, liegen Riehen (2018) und Bottmingen (2019) für eine Erst-Augustrede ziemlich nahe. Und warum ich eine Maturrede halte und nicht bei einer Lehrabschlussfeier, das liegt auch auf der Hand: Weil ich aus eigener Erfahrung die Situation der Matura kenne, nicht aber die Situation einer Lehrabschlussprüfung. Von der Feier in Bottmingen machen Sie sich übrigens etwas falsche Vorstellungen – und von den Menschen in Bottmingen wohl auch.

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