Das löcherige Mäntelchen der Schweizer Mehrsprachigkeit

Publiziert am 5. Mai 2017 von Matthias Zehnder

Vier Sprachen, vier Kulturen, ein Bund gleichberechtigter Staaten – das ist die Schweiz. Vielmehr: Das ist das Bild, das wir von der Schweiz hegen und pflegen. In Tat und Wahrheit ist es längst Fiktion. Oder Erinnerung. Besonders deutlich zeigt das der Umgang mit dem Französischen. Denn Hand aufs Herz: Den meisten Deutschschweizern ist Französisch Hans was Heiri. Oder?

Dass die Schweiz auch Suisse, Svizzera und Svizra ist, das steht nicht nur auf jeder Banknote, sondern ist tief in unser kollektives Bewusstsein eingegraben. Bloss: Darüber hinaus geht die Mehrsprachigkeit immer seltener. Für die meisten Deutschschweizer ist das Französisch bloss eine lästige Pflicht wie der Nothelferkurs für den Lernfahrausweis. Hat man das Zertifikat erst in der Tasche, kann man GABI (die heute übrigens CABD heisst) getrost vergessen. Nehmen Sie zum Beispiel die Thurgauer. Sie wollen nichts mehr wissen von Frühfranzösisch: Der Thurgauer Grosse Rat hat diese Woche entschieden, dass die französische Sprache den Thurgauern Kindern erst in der Oberstufe zugemutet werden kann.

In der Oberstufe. Für viele Jugendliche sind das die letzten drei Schuljahre. Als ob man da noch eine Sprache lernen würde. Die Thurgauer zucken mit den Schultern. Eine Sprache, die man später im Alltag nie mehr brauchen wird. Davon sind die Thurgauer jedenfalls überzeugt. Anders lässt sich die Indifferenz gegenüber Frühfranzösisch kaum erklären.

Die Liebe ist abhanden gekommen

Der Entscheid des Thurgauer Grossen Rats ist nur eine kleine Episode. Aber sie passt ins Bild. Die Schweiz nennt sich viersprachig. Viele Schweizer sind stolz darauf, dass auf den Schweizer Milchpackungen Milch, Lait, Latte steht. Jedes Kind lernt diese drei Wörter schon beim Frühstück. Für viele bleibt es auch dabei. Die Sprachen in der Schweiz leben längst nicht mehr miteinander, sondern immer mehr nebeneinander.

Deutschschweizer und Romands sind wie ein Paar, dem die Liebe abhandengekommen ist. Es lebt noch unter dem gleichen Dach, hat sich aber nichts mehr zu sagen. Und trifft man bei Frühstück versehentlich aufeinander, ist man nicht ganz sicher, ob man ärgerlich oder gleichgültig sein soll. Bis ihr die Hypothek einfällt und ihm sein guter Ruf. Dann zucken sie die Schultern, er greift nach der Zeitung und sie nach dem Handy. Das sind Herr und Madame Schweizer.

Mehrsprachigkeit ist eine junge Erscheinung

Diese Gleichgültigkeit den anderen Landesteilen gegenüber steht in eigentümlichem Kontrast zum Selbstverständnis der Schweiz als mehrsprachiges Land. Zum Stolz, mit dem wir die SBB auch als CFF und FFS begreifen. Oder zur Selbstverständlichkeit, mit der wir einem Alain Berset oder einem Ignazio Cassis zuhören, wenn sie mit charmantem französischem oder italienischem Akzent Deutsch sprechen. Die Mehrsprachigkeit der Schweiz – das ist doch tief in den Genen der Eidgenossenschaft eingraviert.

Falsch. Die alte Eidgenossenschaft war bis 1798 einsprachig deutsch. Institutionell mehrsprachig ist die Schweiz erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Freiburg zum Beispiel wechselte im 15. Jahrhundert sogar die Amtssprache von Französisch zu Deutsch, als die Stadt die Annäherung zu den Alten Orten suchte. Auf individueller Ebene spielte Französisch eine Rolle als Sprache der Bildung und der Aristokratie. Wer etwas auf sich hielt, sprach und las Französisch. Politisch war die Schweiz in der Hand der Deutschsprachigen. Die Idee, dass die Schweiz auf einer Partnerschaft zwischen der deutschen Sprachmehrheit und den lateinischen Sprachminderheiten bestehe, entstand erst im 19. Jahrhundert und setzte sich erst im 20. Jahrhundert durch.

Welschlandjahr – das war einmal

Auf individueller Ebene spielte die Mehrsprachigkeit eine grössere Rolle. Das meint: Schweizerinnen und Schweizer beherrschten oft mehrere Sprachen: Die kulturellen und politischen Eliten im Ancien Régime waren bemerkenswert oft mehrsprachig, schreibt Georges Lüdi im Historischen Lexikon der Schweiz (HLS). Als Beispiele für mehrsprachige Prominente aus der Geschichte nennt Lüdi etwa den Zürcher Naturforscher Konrad Gessner, den Basler Mathematiker Leonhard Euler oder den Berner Arzt und Dichter Albrecht von Haller.

Erstaunlich ist, dass sich die Mehrsprachigkeit nicht nur auf die Elite beschränkte und im Volk nicht nur auf die Regionen an den Sprachgrenzen. Lüdi begründet das mit den Binnenwanderungen in der Schweiz: Früher war es üblich, eines Arbeitsplatzes wegen in einen anderen Landesteil zu ziehen. Deutschsprachige Uhrmacher zogen zum Beispiel in die Romandie. Längere Sprachaufenthalte, das Welschlandjahr, gehörten zum guten Ton. Tempi passati.

Kraftlose SBB, Post und Armee

Die individuelle Mehrsprachigkeit scheint trotz der heute grösseren Mobilität und trotz der Vervielfachung der Kontaktmöglichkeiten durch die neuen Medien (HLS) zurückzugehen. Trotz – oder vielleicht wegen Mobilität und neuer Medien. Ein Umzug in die Westschweiz ist nicht mehr nötig, man kann ja pendeln. Wer weiss, wo man in einem Jahr arbeitet. Und wer trotzdem in einen anderen Landesteil zügelt, kann mit seinen Freunden per Handy, Skype und Whatsapp Kontakt halten wie zu Hause – und muss sich deshalb nicht in die neue Umgebung integrieren.

Vor allem aber: Die Kraft integrierender Institutionen in der Schweiz geht zurück. Armee, SBB, Post und Swisscom haben kaum mehr Integrationskraft. Seit die Post die Kosten optimiert, hält sie das Land nicht mehr zusammen, sondern scheint es im Gegenteil zu spalten. Dass die Swisscom einen englischen Namen trägt, zeigt schon äusserlich, wie sehr sie der Landesintegration den Rücken gekehrt hat.

Zwei von fünf Schweizern sprechen mehrere Sprachen

Ist ja auch logisch. Die Zukunft liegt nun mal nicht in Milch, Lait, Latte, sondern in Computer, Handy, Internet. Mehr als 42,6% der Schweizer Bevölkerung über 15 Jahre sprechen zwar regelmässig mehr als eine Sprache – immer häufiger ist das aber Englisch. Wenn sie ehrlich sind, interessieren sich die meisten Deutschschweizer weder für das Französische noch für die Romandie oder die frankophone Kultur. Hand aufs Herz: Kennen Sie mehr als einen Schriftsteller aus der Westschweiz? Schauen Sie mehr ARD und ZDF oder mehr Radio Télévision Suisse?

Eben. Die Schweiz trägt ihre Mehrsprachigkeit längst nur noch wie einen löcherigen, alten Mantel, den sie zwar nostalgisch verklärt, aber längst peinlich berührt ist ob der vielen Löcher. Was den Mantel noch zusammenhält, das sind Verfassung und Institutionen des Bundes. Wer sich an eine Bundesbehörde wendet, kann dies in der Amtssprache eigener Wahl tun. Die Bundesbehörden sind verpflichtet, in der Amtssprache zu antworten, in der sie angegangen werden. Es ist gesetzlich festgeschrieben, dass keine Sprache dominieren darf.

Kulturkompetenz in Französisch

Das ist schön und nobel – aber wirkungslos, wenn die Deutschschweizer sich von der Westschweiz abwenden. Die Mehrsprachigkeit der Schweiz ist mehr als nur ein hübsches Detail auf Banknoten. Sie ist ein Wesensmerkmal der Schweiz das den inneren Zusammenhalt des Landes festigt. So steht es im Bundesgesetz über die Landessprachen. In Tat und Wahrheit ist die kulturelle Klammer um die Schweiz schwächer geworden. Wir alle sind heute kulturell stärker mit den gleichsprachigen Nachbarländern verbunden als mit den anderssprachigen Landesteilen. Was die Schweiz zusammenhält, sind ihre institutionellen Klammern, Regierung, Parlament und bundesstaatliche Institutionen. Und die SRG. Also genau jene Institutionen, welche die ach so vaterländische SVP schwächen will.

Was können wir, was können Sie tun? Es war noch nie so einfach, kulturell ennet des Röstigrabens zu naschen und Zeitungen aus der Romandie zu lesen, Radiosendungen zu hören oder Fernsehsendungen zu sehen. Youtube bietet nicht nur amerikanische Comedy, sondern auch welsche Angebote. iTunes ist dreisprachig und bietet guten Zugriff auf französischsprachige Filme. Ganz zu schweigen von Radio Télévision Suisse. Es liegt an Ihnen, ob Sie die Mehrsprachigkeit der Schweiz leben wollen, oder nicht. Ach ja: helfen würde natürlich, wenn die Kinder früh und umfassend mit der französischen Kultur in Berührung kämen. Dabei geht es nicht einfach um Wörter und Grammatik, sondern um das Bewusstsein, dass das Französische ein wichtiger Teil ist der Schweiz. Also nicht eigentlich um Sprachkompetenz, sondern um Kulturkompetenz. Man könnte es Frühfranzösisch nennen…

8 Kommentare zu "Das löcherige Mäntelchen der Schweizer Mehrsprachigkeit"

  1. Wieder den Nagel auf den Kopf getroffen wie („eigentlich“) jeden Freitag. Noch gibt es z.B. Deutsche, die ehrfurchtsvoll sagen: „Ja ihr, ihr sprecht ja vier Sprachen!“ Ich antworte stets „weit gefehlt!“ Ein paar Schulbrocken französisch, vielleicht noch ein „buon giorno“ oder gar ein „bun di“ – ja aber englisch, das können wir doch (auch wenn es eher amerikanisch ist). Ich finde es zutiefst traurig, wenn sich helvetische Gremien aller Art darauf einigen, ihre Verhandlungen auf Englisch zu führen; ich bin deswegen schon einmal aus einem Schweizer Vorstand ausgetreten – und bewundere immer wieder die Tessiner, von denen manche sehr gut deutsch sprechen.

  2. La vache die Kuh – fermer la porte, die Türe zu.
    Kennen Sie den noch? Früher gängiger Alltagsumgangssprache-Spruch.
    Heute auf den Schulhöfen gänzlich unbekannt.
    Dort herrscht Multikulti, aber nicht in Deutsch-Francais….
    ganz andere Slangs gewannen schon lange die Oberhand….
    unter denen nicht nur die einheimischen Schüler, sondern auch unsere gewachsene Kultur leidet…
    Aber eben, nur weiter so – dieser Entwicklung wird in der CH, so zeichnet es sich ab, ja Tür und Tor geöffnet. (siehe praktisch alle Parteien, Medien, Wirtschafts-CEO´s, Blogs….)
    Nur lamentieren über nostalgischen Welsch-Ticino-Deutschschweizer-Zusammenhalt ist mit diesen Gesinnungseinstellungen und in diesem Zusammenhang dann somit gänzlich unangebracht und sozusagen „von Vorgestern“, wie das Thema selbst, welches sich je länger je mehr, je kultiger je multiger, erübrigt.

  3. Das Getue um das Fremdsprachenlernen hat für mich nur wenig mit Kultur zu tun. Es sei denn, Chauvinimus und nationale Abschottung würden als Leitkultur gelten. Bereits in den 1970er Jahren war ich als Lehrer an einem Schulversuch mit Frühfranzösisch beteiligt. Nebenbei konnte sich damit bei mir eine Blockierung auflösen. Sie hatte sich während 8 Jahren mit akademischem Schulfranzösisch als Selektionsfach aufgebaut. Trotz Noten von 4 (genügend) bis 6 (sehr gut) konnte ich mich damit nicht verständigen. Kaum begonnen, wurde der tolle Frühfranzösisch-Versuch wieder abgebrochen. Weil zu wenig selektionstauglich. Und darum geht es bei der Schule hauptsächlich. Und nicht vor allem um Bildung. Fremdsprachenlernen im nationalen Kontext ist eines der vielen Themen, mit denen sich die Politik seit Jahrzehnten end- und wirkungslos herumschlägt: Ein kollektiv organisiertes Ablenkungsmanöver. Wirklich ergebnisreich wäre beispielsweise Inklusion: Was ist das? Worum geht es dabei? Wie machen wir das? Vor allem im Hinblick auf die individuell bestmögliche Entfaltung aller Talente, auf prosperierende Kooperationen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dies in einer globalisierten Welt, die mehr als Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sprechende Schweizer*innen umfasst. Für eine anspruchsvolle Kultur, die Vielfalt als Chance sieht und das Potenzial nutzbar macht, das darin steckt.

  4. Seit X Jahren fordere ich immer wieder den Schüleraustausch. Unsere Mehrsprachige Nation hätte es doch so einfach. Basel, das zudem noch Frankreich direkt vor den Toren hätte, schafft nicht einmal das. Hätte man von früh an Freunde im andern Sprachgebiet, wäre das ein Geschenk für das ganze Leben.

  5. Mit Sprachunterricht soll eine reichhaltige Ausdrucksweise und Kommunikation gefördert und damit eine differenzierte Denkweise erst ermöglicht werden. Die SMS-Manie und Kürzelsprache nimmt durch die elektronischen Medien immer mehr zu, was einen gewichtigen Sprachunterricht als Gegenpol unbedingt erfordert. Die Mehrsprachigkeit fördert zudem das Verständnis über die Herkunft einzelner Begriffe und ermöglicht ein subtileres Empfinden unserer Welt. Wenn allerdings in Pisa-Studien festgestellt wird, dass eine grosse Zahl Primarschulabgänger unfähig ist, einen längeren Satz inhaltlich zu verstehen, geschweige selbst zu schreiben, und dies in der „Muttersprache“ Deutsch, die wir Schweizer eben auch als Fremdsprache erlernen müssen, scheint mir die derzeitige Diskussion nicht vollumfänglich geführt zu werden. Das Sprachmedium Radio pflegt Sprache primär in den Kultursendern wie srf 2 in drei Sprachen, leider sind diese Kultursender aber in den jeweils anderen Sprachgebieten nicht zu empfangen, auch mit neuster DAB-plus-Technologie nicht! Nicht einmal der „Europäer“ Roger de Weck hat dies geändert. Dass wir uns und unsere Unterschiede im eigenen Land gegenseitig verstehen, beginnt mit der Sprache. Allerdings dürfen wir die Kinder vor lauter Nationalkultur nicht aus dem Auge verlieren und überfordern. Wir haben den Bund befähigt, die Schulkoordination in die eigenen Hände zu nehmen, falls die Kantone es nicht hinkriegen. Ich hoffe sehr, dass Bundesrat Alain Berset dies nicht vergisst. Ich wünsche ihm Mut dazu.

  6. Ich bin in den 50/60er Jahren in Basel französisch-sprachiger Eltern aufgewachsen. Zu Hause sprach ich also anders als auf der Strasse mit meinen Gspänli oder in der Schule. In meinen Ferien war ich meist bei meinen Cousins in Genf, dort kam ich mit der welschen Mentalität und Kultur in Kontakt. Ich wurde also seit Kindesbein auf zwei Sprachen und Lebensweisen konditioniert und musste damit zurechtkommen, ich kannte nichts anderes und empfand das auch normal. Die Neugier andere Sprachen zu verstehen ist mir dadurch mein ganzes Leben nie abhanden gekommen. Es war für mich wie Musik in den Ohren, die jeder verstehen kann, wenn er sich darauf einlässt. Und dann gab es ja auch die non-verbale Ausdrucksweise. Mein Fazit: man kann nicht früh genug mit Sprachen lernen anfangen! Als Kind macht man das noch locker mit Spiel und Gesang. Die Mehrsprachigkeit in unserem Land habe ich immer als grosse Chance und Glück empfunden.

  7. … und übrigens: Bei mehr als einem Drittel der Menschen, die in der Schweiz leben, ist weder Deutsch, Französisch, Italienisch oder Rätoromanisch die sogenannte Muttersprache. Wie fühlen sie sich wohl, wenn sie den nationalen Sprachenstreit mitbekommen, bei dem es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt gehen soll?

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