Martin Luther King hatte einen Traum. Und Sie?

Publiziert am 6. April 2018 von Matthias Zehnder

50 Jahre nach der Ermordung von Martin Luther King tun sich die USA immer noch schwer mit der Umsetzung von Kings Traum: Das Land ist weit weg von einer gleichberechtigten Gesellschaft. Seit Donald Trump Präsident ist sowieso. Doch das ist kein Grund, sich in wohltuender Aufregung über die USA zu ergehen. Denn so viel besser sieht es bei uns nicht aus. Unsere «Schwarzen» sind derzeit die Muslime. Aber während die USA weiterhin den Traum des Martin Luther King träumen, sind vielen Menschen in der Schweiz die Träume abhanden gekommen. Hier wird in Franken und Rappen gerechnet und nicht geträumt. Es ist Zeit, das zu ändern.

Am Mittwoch, 4. April, um 18.01 Uhr Ortszeit war es genau 50 Jahre her, dass ein gezielter Schuss in Memphis, Tennessee, den schwarzen Bürgerrechtler und Pastor Martin Luther King niederstreckte. King war der wichtigste Sprecher des Civil Rights Movement, der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner. MLK, wie er in den USA oft abgekürzt wird, setzte sich für den gewaltfreien Kampf gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit ein. Dafür erhielt er 1964 den Friedensnobelpreis. Als er am 4. April 1968 erschossen wurde, war er gerade einmal 39 Jahre alt.

Die Hintergründe der Tat sind bis heute nicht ganz klar. Weil der Mord die bis dahin grössten Rassenunruhen in den USA auslöste, leitete das FBI die bis dato grösste Fahndungsaktion ein. Seltsamerweise hatte der Mörder die Tatwaffe sowie Unterwäsche in der Nähe des Tatorts zurückgelassen. Fingerabdrücke auf der Waffe und Einnäher einer Wäscherei in den Unterhosen brachten das FBI auf die Spur von James Earl Ray, eines mehrfach vorbestraften Kriminellen. Der war inzwischen über Toronto nach London geflüchtet, konnte da aber festgenommen werden. Ob Ray wirklich der Mörder von MLK war, ist bis heute nicht ganz geklärt.[1]

Der grosse Traum bleibt ein Traum

50 Jahre nach der Ermordung von MLK träumen die USA immer noch den grossen Traum von Martin Luther King – und viele Amerikaner träumen ihn immer noch vergeblich. In seiner berühmten Ansprache am 28. August 1963 in Washington, D.C. sagte Martin Luther King: Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.[2] Obwohl Amerika mittlerweile einen schwarzen Präsidenten hatte, ist das Land weit davon entfernt, den grossen Traum von Martin Luther King zu verwirklichen.

Ein Grund dafür ist der aktuelle Mann im Oval Office: Donald Trump hat sich immer wieder rassistisch geäussert oder sich nicht von White Supremacy, also der Ideologie der Überlegenheit der weissen Rasse, distanziert. An einem Gespräch zu Einwanderungsfragen fragte er: «Warum kommen immer noch Leute aus Drecksloch-Staaten zu uns?»[3] Er sähe lieber mehr Einwanderer aus Norwegen – also grosse, weisse, blonde Menschen. Über Nigerianer sagte er: Wenn die mal ihre Hütten verlassen hätten, würden sie nie mehr zurückkehren. Trump ist keinesfalls die Ursache für den Rassismus in den USA, sondern ein überdeutliches Symptom dafür.

Und wie stehen Sie dazu?

Es ist einfach, sich über Donald Trump zu empören. Es verschafft ein geradezu wohliges Gefühl, sich über den Wutbürger im Weissen Haus aufzuregen, über die rassistischen Übergriffe amerikanischer Polizisten zu schimpfen und sich über die schwache Präsenz von Schwarzen in Hollywood zu wundern. Das ist einfach – und deshalb billig. Wie steht es denn mit der Rassendiskriminierung bei uns? Sind bei uns in Europa, in der Schweiz die Träume von Martin Luther King Wirklichkeit geworden?

Ich schlage Ihnen ein paar simple Testfragen vor: Können Sie sich in der Schweiz eine schwarze Bundesrätin vorstellen? Wie reagieren Sie, wenn Ihr Sohn oder Ihre Tochter Ihnen als künftigen Ehepartner einen Schwarzen oder eine Schwarze vorstellt?[4] Wenn im Bus oder im Tram nur noch der Platz neben einem jungen, schwarzen Mann frei ist – setzen Sie sich neben ihn oder bleiben Sie stehen?[5] Was denken Sie, wenn Sie im Tram hören, wie ein Schwarzer in einem afrikanischen Dialekt mit dem Handy telefoniert? Vielleicht sagen Sie jetzt, dass das etwas anderes sei. Dass Afroamerikaner zur Geschichte Amerikas gehören – Afroschweizer aber immer noch die Ausnahme seien.

Unsere Schwarzen sind die Muslime

Gut möglich. Unsere «Schwarzen» waren in den 60er Jahren die Italiener: James Schwarzenbach richtete seine Überfremdungsinitiative gegen italienische Gastarbeiter. 46 Prozent der Schweizer Bevölkerung sprachen sich am 7. Juni 1970 für seine fremdenfeindliche Initiative aus.[6] Nach den Italienern kamen Spanier und Portugiesen, in den 80er Jahren folgen viele Menschen aus dem heutigen Ex-Jugoslawien, dann Menschen aus der Türkei, aus Sri Lanka und aus afrikanischen Staaten. Und dann, nach 2002 und der Personenfreizügigkeit mit der EU, kamen die Deutschen.

James Schwarzenbach mag mit seinen Überfremdungsinitiativen gescheitert sein – seine Saat ging auf. Die Idee der Überfremdung ist seither in den Köpfen vieler Schweizer verankert. Heute sind es (Pizza und Kebab sei dank) nicht mehr die Italiener oder die Türken, vor denen gewarnt wird, heute sind es «die Muslime» oder «die Araber». Diese Woche veröffentlichte die BaZ einen Text von Bassam Tibi mit dem Titel: Wenn Europa so weitermacht, wird es zu Eurabia.[7] Typisch für den Diskurs: Der Text beginnt mit der Frage, ob man frei ohne Zensur beziehungsweise Selbstzensur über die Folgen der islamischen Zuwanderung nach Europa sprechen könne.

James Schwarzenbach reloaded

Unter dem Artikel finden sich über 500 Kommentare. Die Rede ist von einer schleichenden Islamisierung der Schweiz. Von arabischen Grossfamilien, welche mit ihren vielen Kindern für eine Verdrängung der Schweizer sorgen. Schweizer seien bald eine Minderheit im eigenen Land. Schweizer würden bald aussterben. Und daran seien die ungebildeten Araber schuld, welche sich an den Honigtöpfen der Schweiz labten. Mit anderen Worten: Es sind die Argumente, die schon James Schwarzenbach angeführt hat, nur wurde «Italiener» mit «Araber» ersetzt und statt dass die protestantischen Orte der Schweiz vor katholischen Einwanderern warnen, warnen jetzt Schweizer vor Muslimen.

Jetzt sagen einzelne von Ihnen vielleicht: Halt! Der Islamismus! Der Terror! Die Unterdrückung der Frauen! Die naive Gutgläubigkeit der Linken wird uns das Genick brechen! Das ist genau die Argumentationslinie, die Donald Trump anwendet. Es gibt mexikanische Drogendealer. Aber sind deswegen alle Mexikaner Drogendealer? Es gibt arabische Terroristen. Aber sind deswegen alle Araber Terroristen? Viele muslimische Länder haben ein Problem mit Islamismus. Aber sind deswegen alle Muslime Islamisten?[8]

Martin Luther Kings Traum

Der zentrale Satz von Martin Luther Kings Rede in Washington lautete, er träume davon, dass seine Kinder nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden. Oder etwas allgemeiner formuliert: Menschen sollen nicht aufgrund von äusseren Merkmalen wie der Hautfarbe, der Herkunft oder der Religion beurteilt werden, sondern aufgrund ihres Charakters, also aufgrund ihres Wesens, ihrer Leistung, ihres Umgangs mit anderen Menschen. Davon sind wir, das zeigt die Muslim-Phobie, auch in der Schweiz weit entfernt.

Schlimmer noch: Ich habe den Eindruck, dass wir in der Schweiz nicht mehr von Träumen reden, sondern nur noch von Angst. Der Angst vor Fremden. Der Angst vor dem Islam. Der Angst vor der Masseneinwanderung. Der Angst vor dem Abstieg. Doch Angst ist auf Dauer ein schlechter Ratgeber. Angst lähmt. Deshalb ist es Zeit, dass wir wieder träumen.

Ich träume…

Ich träume von einer Gesellschaft, in der Frauen und Männer wirklich gleichberechtigt sind. In der die Frauen die gleichen Chancen haben wie die Männer – und die Männer nicht zu Beginn ihres Berufslebens vom Staat ins Militär gezwungen werden. Ich träume von einer Gesellschaft, in der nicht der Lohnausweis entscheidend ist, sondern die nächste Idee, die nächste Vision, das nächste Bild. In der Musiker, Maler und Schriftsteller gleich wichtig sind wie Wirtschaftsführer und Politiker. Ich träume von einer Welt, in der nicht die Herkunft oder die Religion eines Menschen entscheidend ist, sondern sein Wesen – sein Charakter.

Alles unrealistisch, sagen Sie? Deshalb sind es ja Träume. Nur Träume. Und doch vielleicht ein Anfang.

Basel, 6. April 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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[1] Vgl. https://www.zdf.de/dokumentation/zdf-history/amerika-jagt-einen-moerder-wer-erschoss-martin-luther-king-100.html

[2] Vgl. https://usa.usembassy.de/etexts/soc/traum.htm

[3] Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/us-politik-ist-trump-ein-rassist-1.3824211

[4] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=QerOPic11Tk

[5] Vgl. http://www.spiegel.de/einestages/buergerrechtlerin-rosa-parks-a-951024.html

[6] Vgl. https://www.nzz.ch/schweiz/schweizer-geschichte/als-james-schwarzenbach-die-auslaenderpolitik-entdeckte-1.18430680

[7] Vgl. https://bazonline.ch/ausland/europa/wenn-europa-so-weitermacht-wird-es-zu-eurabia/story/20258524

[8] Vgl. https://www.cicero.de/elham-manea-islam-islamismus-koran-kopftuch-nikab-frauenrechte-feministinnen

4 Kommentare zu "Martin Luther King hatte einen Traum. Und Sie?"

  1. Bei aller Liebe zu Zehnders Kommentaren:
    – Hier zeigt der Autor, dass er von Islam nicht die geringste Ahnung hat! So kritisiert er unterschwellig Bassam Tibi, weil dieser in der BaZ einen Beitrag geschrieben hatte, ohne zu erwähnen, dass Bassam Tibi selber Muslim ist und als europäischer Wissenschafter seit bald Jahrzehnten vor extremem Islamismus warnt.
    Merke:
    – Nicht alles ist falsch, nur weil es in SVP-Blättern geschrieben wird!

  2. Ja, auch ich täume von Zeit zu Zeit, das gibt mir Antrieb, nicht meine ganze politische Umwelt pessimistisch zu betrachten. Allerdings, die Realität holt mich jeweils schnell wie der ein.
    Sorge bereitet mir, dass sich nach wie vor die Sozialdemokratie des Themas nicht ernsthaft annimmt. Sie scheut die vertiefte Auseinandersetzung mit unserer Fremdenfeindlichkeit wie der Teufel das Weihwasser. Dass die immer stärkeren weltweiten Vernetzungen, des Handels, des Tourismus, der Medien etc., die Bilder unseres Lebens, unseres Überflusses und Reichtums in die hintersten Ecken ärmster Länder ausstahlt, bewirkt etwas in den dortigen Menschen. Umgekehrt bewirken die Bilder von diesen Ländern mit ihren unmenschlich chaotischen Zuständen bei uns Verunsicherung und Angst. Wenn der IS (Sprachregelung SRG: der sogenannte Islamische Staat) vor laufender Kamera das Kopfabschneiden zelebriert, muss man verstehen, dass dies Ängste schürt, welche ernst genommen werden wollen. Die SP beklagt primär die politische Ausnutzung dieser Ängste durch die SVP. Besser wäre, sie würde sich verstärkt gegen die industrielle Kolonisierung Afrikas und Südamerikas wenden, welche nicht zuletzt durch unser Land durch hier ansässige, globale Konzerne gestützt und betrieben wird. Ja, da müsste man z.B. den kantonalen Steuerwettbewerb massiv bekämpfen und das hiesse, zugunsten Afrikas auf gewisse Vorteile zu verzichten. Wenn eine soziologische Studie über junge Flüchtlinge im Aargau, zum Schluss kommt, dass diese mehrheitlich an ihrem Glauben und ihrer Kultur festhalten wollen und wenn ein BaZ-Redaktor sich darüber entrüstet, sollte dieses Thema aufgegriffen werden, von der SP z.B.. Fremde Kulturen können als Reichtum begriffen werden, wenn wir Integration als Einfügung und nicht als Anpassung verstehen würden.

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