Was wir in der Schweiz aus den US-Wahlen lernen können

Publiziert am 6. November 2020 von Matthias Zehnder

Wir schauen derzeit mit einer Mischung aus Entsetzen und Überheblichkeit in die USA: Die Supermacht ist in Sachen Wahlen nicht gerade super. Die Demoskopen haben einmal mehr versagt. Donald Trump erzielt ein viel besseres Ergebnis, als alle dachten und es drohen Klagen, Klamauk und Kleinkriege. Doch Überheblichkeit oder gar Schadenfreude sind fehl am Platz. Es fragt sich vielmehr, inwiefern wir aus den US-Wahlen für uns etwas lernen können. Ich sehe drei konkrete Punkte.

Nein, mir geht es nicht darum, wer jetzt Präsident wird in den USA. Das ist Sache der Amerikanerinnen und Amerikaner. Ich habe die Wahl natürlich mit grossem Interesse verfolgt und ich habe meine Präferenzen. Und ich finde es fürchterlich, wie Amtsinhaber Donald Trump die Institution Demokratie mit den Füssen tritt, indem er zum Abbruch des Stimmenzählens in jenen Staaten aufruft, in denen er gerade führt. Dass er als Amtsinhaber seit Wochen von Betrug redet, obwohl es dafür keinerlei Anzeichen gibt. Dass er seine Anhänger dazu auffordert, einzuschreiten. Man könnte wirklich meinen, er sei Diktator in einem Drittweltland und nicht der Anführer der freien Welt.

Es ist also mit anderen Worten derzeit einfach, höhnisch, herablassend oder mindestens kopfschüttelnd in die USA zu blicken. Aber das bringt nichts. Fruchtbarer ist es, sich zu überlegen, was wir aus den US-Wahlen für uns lernen können, für uns in Europa, in der Schweiz. Ich glaube, da gibt es ein paar Punkte, die wir mitnehmen können.

Das gefährliche Versagen der Demoskopen

Vor vier Jahren hatten die Meinungsumfragen, die «Polls», einen deutlichen Sieg von Hillary Clinton vorausgesagt. Und dann gewann Donald Trump. Hillary Clinton machte zwar mehr Stimmen, holte aber weniger Elektoren. Das ist, wie wenn in der Schweiz eine Volksinitiative zwar mehr Stimmen macht, aber am Ständemehr scheitert. Die «Pollster», also die Umfrageinstitute, hatten also versagt. Sie erklärten das Versagen damit, dass sie die ungebildeten Schichten zu wenig eingerechnet hätten und Trump sei halt vor allem von Unterschichten deutlich gewählt worden. Und sie gelobten, es 2020 besser zu machen.

Doch auch in diesem Jahr lagen die Pollster wieder falsch: Die prognostizierte «blaue Welle», also der überwältigende Sieg der Demokraten, blieb aus. Stattdessen entspannte sich in den letzten Tagen in vielen Staaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Trump und Biden. Florida und Texas, die im Vorfeld als Swing-States bezeichnet wurden, gingen klar an Trump. Die Umfrageinstitute hatten also wieder versagt. Was ist da los? Die überzeugendste Erklärung: Es gibt eine immer grössere Bevölkerungsgruppe, die durch Umfragen nicht mehr erreicht wird. Es sind Menschen, die am Telefon oder per Internet den Umfrageinstituten jede Auskunft verweigern. Zum Prognosefehler kam es, weil die meisten dieser Umfrageverweigerer Trump-Wähler sind.

Was bedeutet das für uns? Umfrageverweigerer gibt es auch bei uns. Klar: Es ist nicht jedermanns Sache, am Telefon oder per Internet Auskunft darüber zu geben, wen man wählt, was man von der Politik des Bundesrats hält und ob die Coronamassnahmen sinnvoll sind. Gefährlich wird es, wenn die Zahl der Menschen zunimmt, die den Institutionen so grundsätzlich misstrauen, dass sie keinerlei Auskunft mehr geben – auch über das Misstrauen nicht. Es würde sich auch bei uns eine Art Schatten auf der Lunge der Demokratie entwickeln. Und nicht nur in den Opern von Puccini endet das selten gut. Klar: In der Schweiz haben wir immer wieder Sachabstimmungen. Die Stimmbevölkerung hat immer wieder Gelegenheit, den Politikern die Meinung zu sagen. Deshalb haben Pollster bei uns nicht jene Bedeutung, die sie in den USA oder in Deutschland haben. Trotzdem sind Umfragen auch bei uns wichtig, weil sie es ermöglichen, das digitale Ja/Nein der Abstimmung zu begründen und besser zu verstehen. Wenn auch bei uns immer mehr Menschen keine Auskunft mehr geben sollten, wäre das auch bei uns schlecht für die Politik.

Das gefährliche Versagen der Medien

Die USA sind längst tief gespalten in eine rote und in eine blaue Welt, also in eine republikanische und in eine demokratische USA. Das liegt auch daran, dass die Medien nicht mehr neutral berichten, sondern hüben wie drüben Schlagseite haben. Fox News, der grössten Nachrichtensender in den USA, der zum Medienimperium von Rupert Murdoch gehört, hat sich zum Fanclub von Donald Trump entwickelt. Talk-Moderatoren wie Sean Hannity verhalten sich schon lange nicht mehr wie Journalisten, sondern eher wie Präsidenten-Groupies. Bei den Republikanern sind «the liberal media» verhasst. Sie meinen damit Sender wie CNN oder MSNBC und natürlich die «New York Times», eines der Lieblingsfeindbilder von Donald Trump. Die grossen Late-Night-Shows etwa von Jimmy Kimmel oder Stephen Colbert haben sich längst überdeutlich gegen Donald Trump positioniert. Kurz: Neutrale Medien gibt es in den USA kaum. Entsprechend ist es um das Vertrauen der Menschen in die Medien bestellt: Geglaubt wird, was zur eigenen Meinung passt. Der Rest wird ausgeblendet.

Was bedeutet das für uns? Die USA führen uns vor, wie wichtig Medien sind, die neutral und sachlich berichten. Das Problem ist: Parteiische Berichterstattung, das Überhöhen von Nachrichten zu emotional gefärbten Sensationen, das ist besser für die Quote. Und das haben auch Zeitungen und private Fernsehsender bei uns entdeckt. Ich denke da zum Beispiel an die NZZ, die in Deutschland mit Positionen rechts der FAZ ein Klick-Potenzial von den Rändern der AfD erschliessen will. Solange es nur die Meinungsartikel sind, die Position ergreifen, mag das einigermassen legitim sein. Wenn die Berichterstattung etwa über die Klimakrise oder die Pandemie beeinträchtigt ist, wird es gefährlich. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn und so lange die demokratische Auseinandersetzung auf dem Boden von Fakten stattfinden kann. Jede Politikerin, jeder Politiker hat das Recht auf eine eigene Meinung und sei sie noch so abstrus. Aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten.

Demokratie ist das Recht auf Verlieren

Vier Jahre lang hat Donald Trump klar gemacht, dass es für ihn nur Sieger gibt. Wer nicht gewinnt, ist ein «Loser» und hat fast schon seine Existenzberechtigung verloren. Bis jetzt spricht er davon, dass man Hillary Clinton einsperren müsse. Seine Anhänger quittieren es an seinen Rallyes mit «Lock her up»-Chören. Vor den Wahlen erklärte er, er werde das Resultat der Wahl anerkennen – wenn er gewinne. Entsprechend verhält er sich jetzt: Verlieren kommt für ihn nicht infrage. Für Trump gibt es nur ein Sieg und wenn es die Stimmen nicht hergeben, will er klagen und kämpfen.

Ich glaube, Donald Trump hat einen ganz wesentlichen Punkt der Demokratie nicht verstanden: Demokratie ist, wenn man sich auf Regeln für das Verlieren einigt. Jahrhundertelang haben Machthaber den Thron in der Regel nur einen Kopf kürzer verlassen. Machtwechsel waren blutig. Wer es schaffte, sich an die Macht zu putschen, sorgte dafür, dass seine Gegner von der Bildfläche verschwanden. In einer Demokratie ist das anders. Verlierer anerkennen den Sieger, umgekehrt respektieren Sieger die Verlierer. Wie demokratisch ein Land ist, misst sich deshalb nicht am Glanz der Sieger, sondern an ihrem Umgang mit den Verlierern.

Was bedeutet das für uns? In der Schweiz binden die Sieger nach Volksabstimmungen oft die Verlierer mit ein, wenn es um die Gesetzgebung geht. Wenigstens machen sie das, wenn sie klug sind. Die zunehmende Emotionalisierung der politischen Berichterstattung macht es aber auch bei uns schwerer, dass die Kontrahenten nach geschlagener Abstimmungs- oder Wahlschlacht aufeinander zugehen. Die Pole in der Politik sind stärker geworden, weil die Medien sich von der Berichterstattung über die Extreme mehr Aufmerksamkeit erhoffen. Die politische Mitte und der Kompromiss sind in der Aufmerksamkeitsgesellschaft verpönt. Doch die Mitte ist das Rückgrat der Demokratie. Denken Sie daran, wen sie die nächste aufregende Geschichte über einen politischen Flügelkämpfer lesen: Die politischen Extreme sind nur für die Medien wichtig.

Verlässliche Demoskopen, vertrauenswürdige Medien und Respekt mit Verlierern – in den USA können wir gerade beobachte, was passiert, wenn das alles einer Demokratie abhandenkommt. Sorgen wir also dafür, dass es bei uns nicht so weit kommt.

Basel, 6. November 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©ungvar – stock.adobe.com

 

4 Kommentare zu "Was wir in der Schweiz aus den US-Wahlen lernen können"

  1. Wenn man bei einem derart engen Rennen Umfragen macht mit einem Vertrauensbereich um die 5 Prozent, läuft man automatisch Gefahr, falsch zu liegen. Berücksichtigt man diesen Umstand, sind die meisten Zahlen gar nicht falsch. Aber offenbar kann niemand mehr den Vertrauensbereich interpretieren und sagen, dass es nicht eindeutig sei, wer vorne liegt.

  2. Die Demoskopen versagten, weil Ihnen, wie Sie erwähnten, keine oder eine falsche Auskunft erteilt wurde.
    Wie ist das möglich? Sauber und politisch Korrekt ist man in den USA, wenn man den links-liberalen Joe Biden gut findet; für ihn schwärmt, in der Öffentlichkeit seine Positionen vertritt. Gegenpositionen ergeben Sanktionen. Im Job, in den Unis, auf dem Markt, im Verein…. Oft – und leider.
    Wieso soll man einem wildfremden Anrufer, der meist aus dem weit entfernten Washington anruft, angeben dass man in den Weiten Montanas Trump wählt? Wieso? Da sagt man lieber nichts – man kennt dies von unseren Schweizern Umfrage-Telefon(stör)anrufen, oder man säuselt mit der Mehrheit sanft „Biden“ ins Phone. Dies ist das Verhängnis der Umfragen in unserer Angst-Politik-Welt (ob links oder rechts).
    So = Demoskopie-Desaster geklärt; Demoskopie-Umfragen kann man auf diese Weise in unserer modernen (neuen und alten) Welt vergessen.
    Doch da setze ich an: Wenn man in einem Land nicht mehr sagen kann, für was man steht (z.B. Trump) ist dies himmeltraurig. Wenn in den US-Unis die Professoren die jetzige USA proaktiv mit dem 3. Reich vergleichen und die Studenten effektiv meinen, die USA seien mit dem 3. Reich vergleichbar, wenn die Demokraten so weit nach links gerutscht sind wie noch nie – ergeben sich solche Auswüchse, solche Spannungen, solche Fehler, solche Angst „zu sich zu stehen“ – Zeiten, welche es so in den USA noch nie gab.
    Dr. Markus Somm (Journalisten-Profi) empfand dies brutal am eigenen Leib, in dem er letztes Jahr in seinem „Sabbatical-Jahr“, in welchem er sich im „Shorenstein-Center“ der Harvard-Uni in Sachen Journalismus weiterbildete.
    ER war im Gespräch mit den Studis der Verteidiger der USA – die Elite-Studis verglichen die Zustände in ihrem Land mit jenen des nahen Ostens und lobten und priesen Putin als güldnes Vorbild!!
    Nur ganz im Verborgenen sagte einer – er müsse in dieses „Horn posaunen“, müsse diese Einstellung nach aussen tragen, sonst wäre er in den Unis und Eliteeinrichtungen untendurch, obwohl er ganz anders denke. (!!)
    Und dass (gerade die deutschen) Politiker und Medien bei uns das ganze noch befeuern mit „Dauertrommelfeuer-USA-Bashing“, mit Niedermachen der Hälfte der US-Bürger = den Trump-Stimmenden, dies seien alles Minderbemittelte und Unterbelichtete – was natürlich nicht stimmt – gerade Afro- und Hispanics stimmten vermehrt Trump, weil sich bei ihnen die Arbeitslosigkeit halbierte, auch die Zahl der Mehrfachjobber ging markant zurück und den meisten Amis geht es heute besser als vor 4 Jahren – doch all dies wird mit Meinungsideologie gnadenlos ignoriert.
    Welch eine Entwicklung. Welch eine (einseitige) Medien-Hexenjagd.
    Die Welt merkt nicht, das KOMPETENT nicht gleichzusetzen ist mit vernünftig Reden und klug Schreiben. KOPETENTZ in der Politik konnte Trump; was niemand sah, da alle (vor allem die „Edelfedern“) zu sehr auf sein Rüpelgebahren achteten.
    Vernünftig und klug Reden ist einfach – dahinter muss (im Umkehrschluss) jedoch nicht immer KOMPETENZ stecken.
    Dr. Matthias Ackeret (Medien-Profi) störte sich auch sehr an dieser Medienberichterstattung der Deutschen Medien, welche er in seiner Morgenkolummne bei „Radio 1“ als „herablassend“ bezeichnet. – Dieser Klardenker fand wirklich das richtige Wort dafür.
    DIES ALLES (Hetze, Einseitigkeit, Meinungsjournalismus usw…)und noch mehr führt zu dieser Radikalisierung.
    WIR hier in der Schweiz müssen achten, dass die Radikalisierung nicht weiter um sich greift. Die Medien und (vor allem) die Mitte-Parteien wollen z.B. die SVP in die radikale Ecke drängen. Das wäre schade.
    Auch die SP muss mit dem neuen Präsi-Führungs-Duo (jung + extrem links) schauen, dass sie nicht ganz extrem wird. Extrempositionen einnimmt, nur weil es abgrenzt und „Trend“ ist. Denn der Trend ist nicht immer der Friend…. Sondern schauen, dass sie ebenfalls „auf dem Boden der Tatsachen“ bleiben können!
    Dies kann man heute nur allen Wünschen – den Politikern, den Medien, den Wählern
    – und – Trump.

  3. Von den USA können wir lernen, dass es so nicht mehr geht. Demoskopie, Medien und die parlamentarische Parteiendemokratie mit ihrem Links-Mitte-Rechts-Macht-Schach … Gewinnen oder Verlieren: Alles wie gewohnt. Nützt aber nichts. Weil uns die Welt über den Kopf gewachsen ist. Der Gang der Dinge wird längst von Grosskonzernen und der Hochfinanz bestimmt. Mit ihrem Spiel mit den gezinkten Karten der Manipulation. In ihrem Schlepptau Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie stecken den Kopf in den Sand von Hoffnungen, die gestorben sind. Mein Herz weigert sich, die Trommel der Apokalypse zu schlagen. Es ist stärker!

  4. Umfragen: Ich werde zu oft mit Telefonanrufen bombardiert, weil mir jemand etwas verkaufen will, ich zu meiner Meinung befragt oder um eine Spende bzw. eine Kampagnenunterstützung gebeten werde. Von derlei Anrufen gibt es leider viel zu viele. Sie sind es, die mich verstärkt zu einem Umfrageverweigerer machen, nicht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Institutionen.
    Medien: Mir ist eine sachliche Berichterstattung wichtig. Neutral ist mir jedoch zu hoch gegriffen, ich bevorzuge Ausgewogenheit. Was Fakt ist und was nicht, das ist oft nicht eindeutig, so dass auch darüber öffentlich unbedingt debattiert werden muss. Eine ausgewogene Berichterstattung berücksichtigt vorhandene faktische Widersprüchlichkeiten und Ungewissheiten. Ich freue mich darüber, wenn bei kontroversen Themen in den Kommentaren eines Mediums die Kontrahenten zu Worte kommen.
    Gegenseitiger Respekt: Sie haben Recht, die Demokratie ist nicht vereinbar mit politischen Auseinandersetzungen, die dem Grundsatz „The winner takes it all“ huldigen. Es braucht den Kompromiss. Damit ist die politische Mitte allein allerdings überfordert, dazu müssen auch die politischen Pole beitragen. Was aber geschieht, wenn einem oder beiden Polen die Kompromissfähigkeit abhanden kommt?

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