Fünf Lebensbilder an Stelle eines Wochenkommentars

Publiziert am 12. Oktober 2018 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Herbstferien. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Biografien – also fünf höchst anregende Lebensbilder. Alle fünf handeln von Jahrhundertfiguren. Nun ja, zumindest die ersten vier. Das erste Buch hat mir eine alte Liebe neu erklärt, das vierte Buch eine alte Liebe von Helmut Schmidt neu erschlossen. Das fünfte schliesslich ist ganz einfach hervorragend geschrieben und wunderbar unterhaltsam.

Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:

Warum wir den Klimawandel nicht den Medien überlassen dürfen
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/warum-wir-den-klimawandel-nicht-den-medien-ueberlassen-duerfen/

Die Industrialisierung des Journalismus ist dessen Tod
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/die-industrialisierung-des-journalismus-ist-dessen-tod/

Wie christlich ist die Schweiz?
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/wie-christlich-ist-die-schweiz/

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Aber jetzt zu den fünf Lebensbilder-Lektüretipps.

Die erste Biografie handelt von einem Maler, der als Expressionist gilt, seinen Ausdruck aber nicht nur in Farben und Formen, sondern auch in der Sprache fand.

Oskar Kokoschka

Golden lodern die Feuer / Der Völker rings. / Über schwärzliche Klippen / Stürzt todestrunken / Die erglühende Windsbraut So beginnt das Gedicht «Die Nacht» von Georg Trakl. Geschrieben hat er es 1914 im Atelier von Oskar Kokoschka, als dieser «Die Windsbraut» malte, ein sturmwildes Selbstportrait mit seiner Geliebten Alma Mahler. Das Bild hängt heute im Kunstmuseum Basel und es ist da eines meiner Lieblingsbilder. Kokoschka gelingt es in dem Bild, sowohl den Sturm, wie auch die Geborgenheit der Liebe darzustellen. «Trakl und ich waren damals zwei Abtrünnige des bürgerlichen Lebens», erinnerte sich Kokoschka an die Zeit der Besuche von Trakl vor dem 1. Weltkrieg. Bis jetzt war der Maler Oskar Kokoschka für mich der Unergründlich-Stürmische hinter der «Windsbraut». Die Biographie von Rüdiger Görner hat das geändert. Holzschnitthaft, kantig, berserkerhaft gar, stellt Görner uns den Kokoschka jener Zeit vor, der Kunst sich ausliefernd, dabei geradezu masslos in das Leben verliebt, von Frauen umschwärmt und von der einen, der femme fatale Wiens geradezu verschlungen. Oder, wie das Gedicht von Trakl endet: Flammen, Flüche / Und die dunklen / Spiele der Wollust, / Stürmt den Himmel / Ein versteinertes Haupt. Kokoschka war ein Jahrhundertkünstler – und das nicht nur deshalb, weil sein Leben von 1886 bis 1980 fast ein ganzes Jahrhundert umspannte. Wie Görner schreibt, spiegeln sich das Werk im Leben und das Leben im Werk des Oskar Kokoschka auf exemplarische Weise. Weniger bekannt als seine Gemälde, Holzschnitte und Zeichnungen sind die Texte, die Kokoschka geschrieben hat: seine frühen Dramen und Gedichte, seine politischen Überlegungen und seine Autobiographie. Görner lässt Kokoschka selbst ausführlich zu Wort kommen und ermöglicht es dem Leser, Bilder und Worte des Jahrhundertkünstlers zu verschränken. Sprachlich ist die Kokoschka-Biografie zuweilen etwas sperrig ausgefallen, als habe sich der Biograf vom wortreichen Expressionismus seines Objektes anstecken lassen. Vielleicht ist aber gerade deshalb das Portrait von Oskar Kokoschka so stimmig ausgefallen, dass man dieses Buch nicht nur Liebhabern der «Windsbraut» zur Lektüre empfehlen kann.

Rüdiger Görner: Oskar Kokoschka, Jahrhundertkünstler. Zsolnay, 336 Seiten, 40.90 Franken; ISBN 978-3-552-05905-4

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Die zweite Biografie handelt von einem Schriftsteller, dessen Leben viel spannender war, als es uns die Deutschstunden im Gymnasium glauben machten.

Theodor Fontane

Theodor Fontane, das sind «Effie Briest» und «Die Poggenpuhls», das sind sich lange dehnende Deutschstunden über das 19. Jahrhundert im Gymnasium, das ist literarische Bedeutung ohne persönliche Beziehung. Wenigstens bei mir war das so – bis ich die neue Fontane-Biografie der Zürcher Germanistin Regina Dieterle zur Hand genommen habe. Dieterle versteht es meisterhaft, Fontanes Leben und Werk zu einer, wie sie schreibt, doppelten Perspektive zu verweben. Dabei zitiert sie keineswegs nur aus Fontanes bekannten Romanen, sondern lässt auch den Reiseschriftsteller und Journalisten Fontane ausführlich zu Wort kommen. Auf diese Weise ermöglicht sie es, dass wir gleichzeitig eine Beziehung zum preussischen Schnauzträger knüpfen und sein reiches Werk neu entdecken können. Dieterle erzählt dabei nicht einfach das Leben des Theodor Fontane, sie breitet es aus, malt in Pastelltönen detailreiche Bilder des brandenburgischen Neuruppins, wo Fontane aufwuchs, von Leipzig, Dresden und Berlin. Sie diskutiert kenntnisreich die Schicksale von Verwandten und Freunden und gibt dabei quasi hinter vorgehaltener Hand die letzte Causerie des 19. Jahrhunderts wieder. Dabei verwebt sie immer wieder Werk und Leben und ermöglicht es dem Leser, quasi über die Schultern Fontanes auf dessen Schreibtisch zu blicken. Sie zeigt, wie präzis Fontane recherchierte und zitiert aus Briefen und Entwürfen. Kurz: Die Biografie Fontanes liest sich zuweilen selbst wie ein Familienroman von Fontane.

Regina Dieterle: Theodor Fontane. Biografie. Hanser, 832 Seiten, 48.50 Franken; ISBN 978-3-446-26035-1

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Die dritte Biografie handelt von einer Frau, die nun wirklich eine Jahrhundertfigur war, trotzdem aber als Mensch kaum wahrgenommen wird.

Queen Victoria

Königin Victoria ist legendär: 63 Jahre lang war die gebürtige Alexandrina Victoria of Kent Königin des Vereinigten Königreichs von Grossbritannien und Irland, 25 Jahre davon auch noch Kaiserin von Indien. Sie regierte so lang und Grossbritannien erlebte in dieser Zeit einen so grossartigen Aufschwung, dass sie dem Viktorianischen Zeitalter ihren Namen aufdrückte. Hinter all dem Pomp und all den Daten geht Victoria als Mensch und Frau ganz verloren. Die australische Journalistin Julia Baird bläst den Staub von Krone und Damast, erzählt die aussergewöhnliche Geschichte dieser Frau und vermittelt dabei auch ihren Kontext: das 19. Jahrhundert in England, die unglaublichen, technischen Fortschritte, die von ebenso unglaublicher Armut begleitet waren, den gloriosen Aufstieg des Empires, der oft nur mit blutiger Unterdrückung zu erreichen war und die ersten Kämpfe der Frauen für ihre Rechte, die zu nichts führten, obwohl die Krone des Reiches auf dem Kopf einer Frau sass. Sie war erst 18 Jahre alt, als sie Königin wurde – und nur gerade 1,52 Meter gross. Als sie das erste Mal auf den Thron sass, berührten ihre Füsse den Boden nicht. Um die kleine Königin rankten rasch viele Legenden. Zuerst galt sie als Mädchen, nach dem frühen Tod ihres geliebten Mannes, Prinz Albert, wurde sie auf die in Trauer versunkene Witwe reduziert. All das ist falsch, schreibt Julia Baird: Königin Victoria war eine entschlossene Herrscherin, die zwar über die Last ihrer Verantwortung klagte, ihre Premierminister aber andauernd herumkommandierte. Unsere Zeit verstehe offenbar ebenso wenig wie die viktorianische, wie eine solche Frau kompetent und genussvoll Macht und Autorität ausüben konnte. Denn die echte Victoria ist unter Legenden, der wohlmeinenden Erinnerungsklitterung der Nachkommen und vielen Missverständnissen begraben, für die ganze Legionen von Beobachtern, Schmeichlern, Monarchisten und Republikanern gesorgt haben. Zu den Legenden gehört etwa, wie Baird schreibt, dass Victoria zu leben aufgehört habe, als Albert starb. Dass sie ihre Kinder verabscheute. Dass sie eine konsequent verfassungstreue, untadelige Königin gewesen sei. Dass sie Macht gehasst habe, keinen Ehrgeiz besessen und nur ihr Heimatland geliebt habe. Dass sie schlicht von Männern gelenkt und geformt worden sei. Und natürlich, dass ihr Diener John Brown lediglich ein guter Freund gewesen sei. All dies ist Unsinn, schreibt Julia Baird erfrischend deutlich. Die Australierin versteht es, radikal mit den Legenden aufzuräumen, die echte Victoria auszugraben und auf höchst vergnügliche Art und Weise zum Leben zu erwecken. Ihre Biografie der grossen kleinen Königin ist nicht nur profund, sie ist auch äusserst unterhaltsam und deshalb in jeder Beziehung empfehlenswert.

Julia Baird: Queen Victoria. Das kühne Leben einer aussergewöhnlichen Frau. WBG Theiss, 596 Seiten, 48.50 Franken; ISBN 978-3-8062-3784-9

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Die vierte Biografie handelt von einem Mann, dessen Buch Helmut Schmidt sogar im Sakko mit sich trug, als er als Soldat an die Ostfront geschickt wurde.

Marc Aurel

Marc Aurel gehört nicht zu den antiken Herrschern, die Weltgeschichte gemacht haben. Er war kein Eroberer wie Alexander, kein Staatengründer wie Augustus und kein Ungeheuer wie Nero. Marc Aurel war der Philosoph unter den Kaisern. Seine «Selbstbetrachtungen» sind, wie Alexander Demandt schreibt, ein Katechismus der Humanität, basierend auf der Philosophie der Stoa. Marc Aurels Gedanken sind zwar nicht umwälzend, als praktische Überlegungen eines Kaisers sind sie aber höchst bemerkenswert. Sie haben sich deshalb auch immer wieder auf dem Nachttisch späterer Herrscher und Politiker wiedergefunden, zum Beispiel auf dem von Helmut Schmidt. Dem deutschen Kanzler, der dieser Tage hundert Jahre alt geworden wäre, hat Demandt seine Biografie über Marc Aurel denn auch gewidmet. Historisch ist Marc Aurel der Kaiser der Wende. Ausser in Nordafrika waren plötzlich alle Grenzen des römischen Reiches umkämpft. Im Norden und im Osten kündigte sich mit Macht die Völkerwanderung an. Als Marc Aurel 161 nach Christus die Macht übernahm, endete eine lange Phase der Stabilität im römischen Reich. Alexander Demandt erzählt das Leben des Philosophenkaisers sachlich-kühl und mit grossem Sachverstand. Er erzählt nicht einfach, er erläutert, erklärt, führt ein und deutet die bekannten Fakten. Obwohl sein Portrait von Marc Aurel so sachlich-kühl ausfällt wie eine der bekannten Marmorbüsten, erwacht der Kaiser dank der vielen Fakten zum Leben. Ich bin sicher: Genau diese Mischung aus akkuraten, kühl erzählten Fakten und politisch-philosophischer Spannung hätte Helmut Schmidt gefallen. Prädikat: Äusserst lesenswert.

Alexander Demandt: Marc Aurel. Der Kaiser und seine Welt. Beck, 592 Seiten, 45.50 Franken; ISBN 978-3-406-71874-8

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Die fünfte Biografie schliesslich ist keine, sondern eine bunte Sammlung von Texten, die in ihrer Summe aber ein ebenso präzises, wie unterhaltsames Lebensbild eines höchst erfolgreichen Autors abgeben.

Terry Pratchett

Allen, die Terry Pratchett nicht kennen, könnte man ihn vielleicht als nach Joanne K. Rowling erfolgreichsten Autor Grossbritanniens vorstellen. Sie würden sich dann aber wohl ein falsches Bild von ihm machen. Denn Terry Pratchett war kein Grossautor, sondern ein Meister der britischen Ironie, ein kenntnisreicher Fabulierer, dessen Genre nur unzureichend mit «Fantasy» apostrophiert wird. Weltweit bekannt wurde Prachett vor allem mit seinen Scheibenwelt-Romanen. Es sind Geschichten, die auf einer Welt spielen, die flach ist wie eine Scheibe und von vier Elefanten getragen wird. Die Elefanten wiederum stehen auf dem Rücken einer riesigen Schildkröte. Fantasy schreibt sich bei Pratchett oft mit «ph»… Der vorliegende Band bringt uns den Autor mit einer bunten Mischung von Texten, Betrachtungen, Tagebuchnotizen und Essays näher. Die Texte decken Pratchetts gesamtes schriftstellerisches Leben ab, vom Schuljungen bis zum Professor am Trinity College. Trotzdem tragen sie unverkennbar alle dieselbe, leichte, selbstironische Handschrift. Zornig wird Pratchett nur, wenn er über die Benachteiligung von anderen schreibt, zum Beispiel über seine geliebten Orang Utans. Sich selbst scheint er nie so ernst genommen zu haben, dass es sich gelohnt hätte, über die Welt wütend zu werden. Besonders spannend sind die Texte, in denen Pratchett vom Schreiben schreibt. Dabei geht es nicht um irgendwelche wolkigen, kreativen Prozesse, sondern um so Handfestes wie den Arbeitsspeicher seines Olivetti Quaderno, die miese Tastatur der frühen Sinclair-Rechner oder die Tücken der Spracherkennung, auf die er im Alter angewiesen war, weil ihm das Tippen immer schwerer fiel. Es funktioniert nicht perfekt, merkt er lakonisch an, denn Pratchetts Erstes Gesetz der digitalen Systeme besagt, dass sie, kaum haben sie eine gewisse Komplexität erreicht, sofort anfangen, sich wie analoge Systeme zu verhalten und eigene Gedanken zu entwickeln. Terry Pratchett selbst sah sich übrigens nicht als Fantasy-Autor. Er schreibt, als Autor werde er immer in die Fantasy-Schublade gesteckt, da kann ich noch so oft protestieren. Ich selbst sehe mich als einen populären Romanschriftsteller, der das schreibt, was die Leute lesen wollen. Sein Rat an angehende Fantasy-Autoren: Immer schön realistisch bleiben! Der vorliegende Textband ist keine Biografie, gibt aber ein gutes Bild ab von Terry Pratchett und er ist so unterhaltsam geschrieben, dass sich das Buch nicht nur für Scheibenwelt-Fans eignet.

Terry Pratchett: Aus der Tastatur gefallen. Gedanken über das Leben, den Tod und schwarze Hüte. Goldmann, 400 Seiten, 21.50 Franken; ISBN 978-3-442-48729-5

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Das waren sie, meine herbstlichen Lebensbilder-Lesetipps. Weitere Buchtipps finden Sie jederzeit hier: https://www.matthiaszehnder.ch/category/buchtipp/

Es bleibt, Ihnen weiterhin schöne Herbsttage zu wünschen – lesen Sie gut.

Basel, 12. Oktober 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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