Laufen ins Paradies

Publiziert am 26. April 2019 von Matthias Zehnder

Der wahre Sündenfall der Menschheit hat weder mit einer Schlange noch mit dem Naschen einer verbotenen Frucht zu tun. Der wahre Sündenfall der Menschheit war die Abkehr vom Leben als Jäger und Sammler – die Sesshaftigkeit. Darunter haben wir noch heute zu leiden: Unsere Körper sind schlicht nicht gemacht für den Acker – und erst recht nichts fürs Büro. Es gibt aber ein einfaches Rezept, das uns gesunden lässt: Laufen.

Etwa vor 150’000 Jahren ist in Ostafrika eine neue Gattung von Hominiden aufgetreten: die Homo sapiens – also: der Mensch. Fast 140’000 Jahre lang lebten diese Menschen als Jäger und Sammler. Sie ernährten sich also von Wild, von Beeren, Pilzen, Honig und von anderen Leckereien. Vor etwa 12’000 bis 15’000 Jahren änderte sich das vergleichsweise schlagartig: Die Menschen wurden sesshaft. Möglicherweise waren die Wildbestände überjagt oder der durch die kleine Eiszeit bedingte Klimawandel dezimierte die Gazellenbestände. Sicher ist, dass die Menschen nicht mehr umherstreiften, sondern sich niederliessen.

Der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel sehen darin den Sündenfall der Menschheit: In ihrem Buch «Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät»[1] vertreten sie die These, dass das Paradies, der Garten Eden, den die Bibel schildert, die lange Phase bezeichnet, in der die Menschen als Jäger und Sammler gelebt haben. Als die Menschen sich niederliessen, kam es plötzlich zu Gewalt unter den Menschen. Zudem litten sie Entbehrungen: Sie wurden kleiner, hungerten öfter, starben früher. Als die Menschen Tiere domestizierten, sprangen Krankheitserreger von den Haustieren auf die Menschen über. So entwickelten sich Pest und Pocken, Karies und Masern, Grippe und Cholera. Die sesshaften Menschen erfanden das Eigentum an Grund und Boden – daraufhin zogen Ungleichheit und Unterdrückung in die Gesellschaften ein. Kein Zweifel: Verglichen damit war das Leben als Jäger und Sammler ein Leben im Paradies.

Biologisch sind wir Jäger und Sammler geblieben

Das Sesshaftwerden brachte eine rasante Veränderung der Lebensweise mit sich. Die Änderungen liefen jedoch viel zu schnell ab, als dass die biologische Evolution darauf reagieren könnte. In den rund 10’000 Jahren, die seither vergangen sind, hat sich der Mensch evolutionsbiologisch kaum weiterentwickelt. Es ist deshalb zu einer Kluft zwischen dem biologischen Menschen und seiner Lebensweise gekommen. Van Schaik und Michel nennen dies einen Mismatch. Denn unsere Biologie und unser Sozialverhalten sind nach wie vor auf das Leben als Jäger und Sammler ausgerichtet. Unser Alltag jedoch sieht völlig anders aus.

Doch der Mensch hat gelernt, diesen Mismatch zwischen seiner Biologie und der tatsächlichen Lebensweise zu kompensieren. Van Schaik und Michel unterscheiden deshalb zwischen drei Naturen des Menschen. Die erste Natur, das sind die angeborenen Gefühle, Reaktionen und Vorlieben. Sie haben sich über die Jahrhunderttausende hinweg entwickelt und ihre Tauglichkeit im Alltag kleiner Jäger-und-Sammler-Gruppen bewiesen, schreiben van Schaik und Michel. Die erste Natur umfasst nicht nur unsere Biologie, sondern auch unser Sozialverhalten.

Die zweite und die dritte Natur

Als zweite Natur bezeichnen van Schaik und Michel unsere kulturelle Natur. In diesen Bereich gehören Sitten und Gebräuche, die Religion als kulturelles Produkt, aber auch Regeln des Anstands, der Höflichkeit und der guten Manieren. Kurz: Handlungsanweisungen vom Typ: «Das tut man nicht!», die es den Menschen erlauben, in einer Umgebung zu überleben, auf die sie biologisch nicht vorbereitet sind. Als dritte Natur bezeichnen van Schaik und Michel unsere Vernunftnatur. Immer dann, wenn wir nicht unserer Biologie und nicht Riten und Sitten folgen, sondern den Verstand einschalten, setzt diese dritte Natur ein.

Schauen wir uns ein Beispiel an: Biologisch sind wir als Jäger und Sammler auf Süsses programmiert. Schliesslich findet man in der Steppe nicht alle Tage süsse Beeren. Unserer ersten Natur entspricht es deshalb, verfügbares Süsses sofort zu essen. Kulturell sind wir aber möglicherweise so geprägt worden, dass wir am Abend wie ein Bettler essen sollten. Deshalb essen wir aufgrund unserer zweiten Natur abends nichts Süsses. Unser Verstand zählt Kalorien und bringt uns dazu, auch tagsüber weitgehend auf Süsses zu verzichten. Die zweite und die dritte Natur, Kultur und Verstand also, kompensieren bis zu einem gewissen Grad den Mismatch, indem sich unser biologisches Ich befindet.

Täglich zehn Kilometer

Damit ist auch einer der ganz grossen Mismatches beschrieben, in dem wir uns heute befinden: Unsere steinzeitlichen Körper können schlecht mit dem riesigen Nahrungsangebot umgehen, das in einem Supermarkt herrscht. Von den verheerenden Folgen berichtet die Statistik: In der Schweiz sind heute 42% der Bevölkerung übergewichtig oder adipös. Bei den Männern beträgt der Anteil 51%, bei den Frauen 33%.[2] Der Anteil der übergewichtigen Menschen hat sich in den letzten 25 Jahren etwa verdoppelt.

Der zweite grosse Mismatch: Wir bewegen uns viel zu wenig. Der frühe Mensch war ein Ausdauerjäger. Lange, bevor er Waffen entwickelte, war er in der Lage, Tiere zu jagen, weil die Menschen schlicht sehr viel länger laufen können als die meisten Tiere. Dafür verantwortlich ist ein spezielles Gen.[3] Es ermöglichte die Ausdauerjagd: Die Menschen hetzten ein Tier so lange, bis es erschöpft zusammenbrach. Im Schnitt soll ein Jäger und Sammler täglich über zehn Kilometer zurückgelegt haben. Bis er sesshaft wurde. Oder biblisch ausgedrückt: Bis Gott den Menschen aus dem Paradies (des Jagens und Sammelns) vertrieb und zum Mann sagte: «Im Schweisse deines Angesichts wirst du dein Brot essen».[4]

Das Paradies-Paradox

Endlich verstehe ich, warum mein steinzeitlicher Körper es so liebt, morgens um sechs durch die Landschaft zu joggen. Ich kann auf diese Weise das Mismatch aufheben, das zwischen meinem Jäger-und-Sammler-Körper und meinem Schreiber-Leben besteht. Zum täglichen Morgenlauf inspiriert hat mich vor ziemlich genau 20 Jahren übrigens der damalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer: In seinem Buch «Mein langer Lauf zu mir selbst»[5] schildert er, wie er begann, jeden Tag zu laufen – und dabei über 30 Kilogramm Körpergewicht verlor und sich selbst neu (er-)fand. Am schönsten ist der Morgenlauf, wenn es dunkel ist und schneit oder regnet. Da wird der steinzeitliche Jäger in einem wach: Man spürt den Körper, atmet sich frei und kann die Seele schweben lassen – zumal bei den garstigen Bedingungen meist keine anderen Menschen unterwegs sind.

Die zehn Kilometer (oder die berühmten 10’000 Schritte) pro Tag sind ohne morgendliches Jogging fast unmöglich zu erreichen, zumal wir uns mit Lift und Rolltreppen und allerlei neuen Geräten wie Elektroscootern das Leben unnötig leicht machen – vom Auto ganz zu schweigen. Das ist das Paradies-Paradox, in dem wir heute leben: Wir geniessen eine ganze Reihe von vermeintlichen Annehmlichkeiten – und entfernen uns mit ihnen nur immer weiter vom Paradies. Denn das Paradies, das war nicht ein Schlaraffenland, in dem die Menschen keinen Finger rühren müssten, es war ein Land, das ihnen alles zum Leben Notwendige zur Verfügung stellten – wenn sie sich dabei bewegten und jagten und sammelten.

Seit ich das Buch von Carel van Schaik und Kai Michel gelesen habe, weiss ich, warum ich mich am Morgen nach dem Joggen immer paradiesisch fühle. Aber worin lag den der grosse Skandal, von dem die Geschichte mit Adam und Eva erzählt? Bevor der Mensch sesshaft wurde, kannte er kaum Besitz. Nahrung wurde gemeinsam gejagt oder gesammelt und dann geteilt. Mit dem Sesshaftwerden entwickelte der Mensch ein völlig neues Konzept: Besitz. Die neue Idee des Eigentums unterläuft die urmenschliche Solidarität. Plötzlich wird ein Allgemeingut – das Nahrungsangebot der Natur – monopolisiert, schreiben van Schaik und Michel. Ein interessanter Gedanke. Einen, den ich mitnehme, wenn ich morgen früh joggen gehe.[6]

Basel, 26. April 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

[1] Vgl. Carel van Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Rowohlt, 576 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-498-06216-3, erhältlich hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498062163

[2] Vgl. Bundesamt für Statistik, Übergewicht und Adipositas, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/determinanten/uebergewicht.html

[3] Siehe hier: https://www.tagblatt.ch/leben/wie-der-mensch-zum-langstreckenlaufer-wurde-ld.1057357

[4] 1. Mose 3,19: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/zuercher-bibel/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/1/30001/39999/

[5] Das Buch ist immer noch sehr zu empfehlen. Joschka Fischer: Mein langer Lauf zu mir selbst. Kiepenheuer & Witsch, 176 Seiten, 22.90 Franken; ISBN 978-3-462-40177-6; erhältlich hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462401776

[6] Was ich mir beim Joggen so denke, können Sie übrigens hier nachlesen: https://www.matthiaszehnder.ch/morgenstund/

4 Kommentare zu "Laufen ins Paradies"

  1. Meine 10 Kilometer und anfangs noch mehr mache ich seit gut 30 Jahren. Ich habe mir damit das Rauchen abgewöhnt und bin jetzt auf das Laufen süchtig: Ob es wohl wirklich gesünder ist? Wie auch immer: Ins Paradies will ich damit nicht kommen. Finde ich doch schon das Schlaraffenland scheusslich.

  2. Gute Perspektive – wofür sind wir (und wofür nicht) geschaffen. Joggen ist das eine, wandern das andere, aber wirklich zum Leben erwacht man auf langen Strecken. So auf dem Jakobsweg von Rothrist nach Santiago de Compostela, Fisterra und Muxia im Sommer 2014. Und darum geht’s bald wieder los: Von Rothrist nach Lausanne und dann auf dem Frankenweg nach Rom. Startdatum: 23. Mai, sofern nichts dazwischenkommt. http://www.pilgernfürkinder.ch

  3. Sollte der moderne Jäger und Sammler Knieprobleme haben und das Laufen deshalb zum Problem werden, so
    darf er sicher auch den Vierbeiner-Ersatz verwenden und sich auf den Drahtesel setzen. So richtig fest in die Pedale treten und so die aufgehende Sonne begrüssen, ist immerhin ein Versuch wert. Man schont die Knie, da die Schläge gering sind, tut was für Körper und Geist und bewegt sich spielend zwischen Paradies und Nirvana.

  4. Ziemlich eine neblige Sache auf dem Bild, welches Sie zum Text gesellten….
    Nebulöses, verzerrtes, uferloses gibt es auf der Welt schon genug, auf Beispiele verzichte ich gerne.
    Deshalb die Hoffnung auf weniger Nebel, damit man die übersichtlichen Gesamtschauen des Lebens erkennt. Hoffe dass Sie Durchblick, Weitblick und Klarheit auch im 2019 erlangen, um so die Richtigen Entscheidungen im Privaten, Gesellschaftlichen und in der Politik erfassen können, welche sich in weiteren Wochenkommentaren dartun dürfen. Zum Wohle, Vergnügen und Erhellung uns aller.

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