Künstliche Intelligenz in den Medien: Was geht?

Publiziert am 12. August 2022 von Matthias Zehnder

Das ist wohl der Traum vieler Verleger: Aufmüpfige Journalist:innen werden durch klaglos arbeitende Computer ersetzt. Bald sollen künstlich intelligente Systeme ein Drittel der Inhalte einer Zeitung generieren. Sie halten das für unrealistische Zukunftsmusik? Irrtum: Der Computer hat auf vielen Redaktionen schon mehr zu sagen, als den meisten Menschen bewusst ist. Die grossen Reportagen schreibt Kollege Computer zwar noch nicht. So wie in der Gastronomie still und leise Vor- und Fertigprodukte Einzug gehalten haben, durchdringen aber computergenerierte Inhalte die Medien immer mehr. Vor allem im Internet. Wie in der Gastronomie ist das convenient. Vor allem für die Arbeitgeber. Denn wie in Restaurants ist das grösste Problem von Redaktionen bald der Fachkräftemangel. Ich zeige Ihnen diese Woche, wo in einem Medium heute schon überall der Computer das Sagen hat. Und warum. 

«KI schreibt Texte», wirbt die Anzeige: «Neue Werbetexte in Sekunden» verspricht die Firma Neuroflash aus Hamburg. «Weil deine Zeit kostbar ist. Lehne dich zurück und lasse Neuroflash deine Texte schreiben.» So habe ich mir das schon lange vorgestellt: Ich gebe dem Computer einige Anweisungen, den Rest macht die Maschine. Die intelligente Schreibmaschine von Neuroflash kann man ausprobieren. Online lassen sich verschiedene Textsorten und Schreibarten auswählen. Ein Beispiel: Man skizziert den Text in einigen Stichpunkten und gibt die Tonalität vor: Soll der Text positiv, aufgeregt oder dringend, kraftvoll, witzig oder lieber ruhig tönen? Ein Klick auf «erstellen» und einige Sekunden später erscheint auf dem Bildschirm wie von Zauberhand ein Text. 

Der Text ist nicht perfekt. Es hat einige Wortwiederholungen drin, mir fehlt der Drive in der Sprache. Aber es ist ein Text. Ich würde mal sagen, er ist besser, als so manches Elaborat, das auf der Zeitungsredaktion über mein Pult gegangen ist. Ist das die Zukunft des Journalismus? Gut möglich. Künstlich intelligente Computersysteme sind definitiv in der Lage, Texte so zu generieren, dass wenigstens dem eiligen Leser kaum etwas auffallen dürfte. Die KI schreibt sicher nicht besser als der Mensch, aber schneller. Und im Internet ist in vielen Fällen Tempo heute alles. 

Wetterprognosen und Staumeldungen von der Maschine

Noch beschränken sich computergenerierte Texte in den meisten Redaktionen auf normierte Spezialfälle: Wetterprognosen, Staumeldungen, Sportberichte und individualisierte Wahl- und Abstimmungsresultate sind typische Anwendungsbereiche. Diese Meldungen bestehen im Kern aus einigen Zahlen und Daten, die mit den immer gleichen Wörtern in normierte Sprache gekleidet werden. Entsprechende Meldungen lassen sich problemlos automatisiert auf Twitter oder auch auf einer Website ausgeben. Dazu ist noch nicht einmal künstliche Intelligenz nötig, eine Bibliothek von Textbausteinen reicht aus. Viele Medienschaffende sehen in der automatisierten Produktion von solchen Meldungen keine Bedrohung, sondern eher eine Entlastung. Ein Automat, der aus ein paar Daten Wetterberichte und Staumeldungen generiert, das ist auf einer Redaktion, was die tiefgefrorenen Pommes in der Küche: convenient. 

Sie zucken jetzt vielleicht mit den Schultern: Ist doch gut, wenn auf den Redaktionen die Menschen um die langweiligen Arbeiten entlastet werden. Mit Wettermeldungen und Verkehrsprognosen holt man eh keine Pulitzerpreise. Durchschnittliche Angestellte und Arbeiter essen in der Mittagspause auch nicht im Gault-Millau-Restaurant, sondern greifen zum Convenience Food. Allerdings haben sich in den Restaurants Fertiggerichte weit über den schnellen Lunch hinaus durchgesetzt. Experten schätzen, dass heute über 80 Prozent der Restaurants Fertigprodukte einsetzen, von der Salatsauce aus der Flasche bis zum Kaiserschmarrn aus dem Tetrapak. 

Fertiggerichte statt Fachpersonal

Natürlich vertreiben Firmen wie die Coop-Tochter TransGourmet auch viele Zutaten und Vorprodukte, aus denen versierte Köche phantasievolle Gerichte zaubern können. Doch in immer mehr Restaurants fehlt genau dieses Personal. Die Lösung sind Fertiggerichte aus dem Kühlregal. Die sind mittlerweile so gut, dass nur Gourmets es merken, wenn der Gratin aus dem Beutel kommt. Und das Personal muss nur mit einer Schere und dem Steamer umgehen können, um ein Menü auf den Tisch zu bringen. In vielen Wirtschaften stellt das Essen aus dem Kühlregal nicht mehr nur die Klassiker auf der Speisekarte sicher, sondern den ganzen Betrieb. In der Schweiz und in Deutschland fehlen der Gastro-Branche Tausende von Mitarbeitern. Nur in Gourmetrestaurants stehen sicher noch Köche am Herd und arbeiten ausschliesslich mit frischen Zutaten.

Der Medienbranche könnte es bald ähnlich gehen. Auch hier wird die Personalnot zum grossen Game Changer. Bis vor ein paar Jahren war Journalismus ein Traumberuf. Egon Erwin Kisch, Kurt Tucholsky und Erich Kästner waren noch für meine Generation die grossen Vorbilder. Die Arbeit in einer modernen Redaktion hat mit Schreiben à la Kästner aber nur noch sehr wenig zu tun. 

Die Industrialisierung der Inhalte

Medienhäuser waren früher zweigeteilt in eine kreative Manufaktur, welche die Inhalte produzierte, und einen industriell organisierten Druckbetrieb, der die Inhalte druckte und vertrieb. Das Internet hat dafür gesorgt, dass auch die Inhaltsproduktion industrialisiert wurde. Online geht es um Masse und um Tempo. Die grossen Portale müssen sieben Tage die Woche rund um die Uhr neue Inhalte publizieren, damit das Publikum immer wieder neue Gründe hat, die Seite aufzurufen. Entscheidend dabei ist keine Kästnersche Formulierung und kein Tucholskyscher Kommentar, sondern biedere Beständigkeit. Wie bei den Pommes im Restaurant merkt da keiner, dass der Inhalt immer häufiger aus der Maschine kommt.

Angefangen hat es schon vor ein paar Jahren mit der automatisieren Bildbearbeitung. Statt dass ein Bildredaktor jedes Bild von Hand zuschneidet und bearbeitet, macht das in den grossen Redaktionen längst der Automat: Computerprogramme prüfen Parameter wie Schärfe, Helligkeit, Kontrast oder Farbbalance und optimieren die Bilder automatisch. Wie beim Convenience-Food im Restaurant sorgt der Automat für gleichbleibende, normierte Qualität. Kein Bild zu hell, keines zu dunkel. Onlinemedien erhalten auf diese Weise den anonymen Charme eines Versandhauskatalogs. Die Produzenten der Programme betonen, dass die Bildredaktion von Hand jederzeit eingreifen könne. Ein Doppelklick genügt und die Fachfrau oder der Fachmann kann das Bild im Photoshop bearbeiten. Bloss: Diese Fachleute gibt es auf den Redaktionen kaum mehr und schon gar nicht rund um die Uhr. Und der Redaktor am Dienstpult hat weder die Zeit noch das Know-how, jedes Bild auszureizen. So hievt der Computer normiert bearbeitete Bilderkost ins System. 

Von der Textkorrektur zum assistierten Schreiben

Mittlerweile haben viele Medien auch die Textkorrektur abgeschafft. Erstens dauert das viel zu lange, bis ein Mensch all die Texte gelesen hat, zweitens sind Korrektoren teuer und drittens findet der Computer viele Fehler auch ohne menschliches Zutun. Entsprechend sehen viele Zeitungen heute aus. Verstehen Sie mich recht: Lieber eine maschinelle Korrektur als gar keine. Ich arbeite selbst mit Duden Mentor und bin froh darüber, dass mir wenigstens die Maschine auf die Finger schaut. Das Programm spürt nicht nur Tippfehler auf, es meldet auch Wortwiederholungen, zu lange Sätze und Füllwörter. Aber ich nutze das Computerprogramm aus dem Hause Duden nur als Hinweisgeber. In vielen Medienhäusern ist das anders: Da korrigiert die Maschine selbstständig. Wie bei der Bildoptimierung geht das da gut, wo Texte einigermassen normiert sind und keine extravaganten Wörter oder Satzkonstruktionen enthalten. In der Schweiz heisst das zum Beispiel: keine Dialektwörter oder Helvetismen. 

Anders als ein menschlicher Korrektor muss die Textkorrektur durch den Computer nicht warten, bis ein Text fertig ist. Der Computer kann den Text schon beim Schreiben korrigieren. Die Funktion heisst Autokorrektur: Sie behebt Tippfehler schon bei der Entstehung. Auch die Autokorrektur hat einen beschränkten Wortschatz. Eigennamen, Fremdwörter und Exotisches werden oft zu einem deutschen Wort geradegebogen. Einen Schritt weiter geht es beim Schreiben auf dem Mobiltelefon: Wenn Sie auf dem Handy eine Nachricht schreiben, schlägt das Mobiltelefon nach dem Tippen der ersten Buchstaben Wörter vor, die Sie wahrscheinlich meinen. Sie müssen nicht mehr das ganze Wort schreiben, sondern können das Wort antippen, wenn es in der Leiste erscheint. «Assistiertes Schreiben» nennt sich das. Bald wird das auch in herkömmlichen Textverarbeitungsprogrammen verfügbar werden. Im Hintergrund arbeitet dabei ein KI-Programm, das zu erraten versucht, wie ein Satz weitergeht.

Inhaltliche Optimierung am Computer

Redaktionssysteme gehen noch weiter. Sie korrigieren Texte nicht nur orthografisch, sondern stellen auch sicher, dass sie suchmaschinentauglich und nutzerfreundlich formuliert sind. «Search Engine Optimization» heisst das. Dieses SEO soll nicht nur die Auffindbarkeit eines Textes in Suchmaschinen verbessern, sondern ganz generell die Lesbarkeit. Der Schreibende muss die wichtigsten Schlüsselwörter für seinen Text festlegen und dafür sorgen, dass sie auch in den Überschriften vorkommen. Der Text wird in kurze Abschnitte gegliedert, die regelmässig durch Zwischentitel eingeleitet werden. Lange, verschachtelte Sätze werden vermieden, auf Fach- und Fremdwörter wird möglichst verzichtet. Solche Texte gefallen nicht nur Suchmaschinen, sie sind auch für die Leserinnen und Leser schneller lesbar. Sie sind mit anderen Worten convenient.

Wie soll man das nun bewerten? Ist das gut, wenn Computer den Menschen die Arbeit auf den Redaktionen erleichtern? Ist es schlecht, weil sie dabei die Texte normieren und stromlinienförmig machen? 

Informationstransport oder Leseerlebnis?

Mit einem Text sind immer zwei Aspekte verbunden. Zum einen transportieren Texte Informationen, zum anderen vermitteln sie ein Leseerlebnis. Die beiden Funktionen sind unterschiedlich wichtig. Bei der Verkehrsmeldung steht die Information im Zentrum. Das Leseerlebnis ist völlig unwichtig. Die Information liesse sich wie bei Wetterprognosen auch in Form von Grafiken transportieren. Ganz anders ist das bei einer literarischen Reportage: Hier steht das Leseerlebnis im Vordergrund. Die Informationen sind sekundär. Deshalb lesen wir heute noch die Reportagen von Egon Erwin Kisch und lesen die Gedichte von Erich Kästner. 

Verkehrsmeldungen und Texte von Tucholsky sind die beiden Extreme. Die grosse Mehrheit der Inhalte einer Zeitung liegt dazwischen. Der Computer erobert die Redaktionen von den Verkehrsmeldungen her. So, wie die Fertigprodukte die Restaurants von den Pommes und den Salatsaucen her erobern. Texte à la Tucholsky sind deswegen nicht in Gefahr. Bloss: Die Pommes auf den Redaktionen lassen sich so einfach produzieren und auch konsumieren, dass für die Tucholsky-Texte kaum mehr Platz und Zeit bleibt. Vom Geld ganz zu schweigen. Und ist die Redaktion erst ruiniert, produziert der Computer die Inhalte ganz ungeniert.

Der stärkste Treiber für diese Entwicklung ist derzeit, wie in der Gastronomie, der Fachkräftemangel. Motto: Lieber eine künstliche Intelligenz als gar keine. Dazu kommt der kaum stillbare Hunger der Userinnen und User nach immer neuen Inhalten. Wenigstens darauf haben wir alle einen Einfluss. Meine Empfehlung: Lesen Sie mal wieder einen richtigen Text, warum nicht von Tucholsky. Und belohnen Sie den Autor mit einem Like, einer Empfehlung oder auch einer Spende. Genau wie in einem Restaurant.

Basel, 12. August 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Duden Mentor: Textprüfung auf Rechtschreibung, Grammatik und Stil: https://mentor.duden.de/ 

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Quellen

Bild: © KEYSTONE/Alessandro Crinari

 

2 Kommentare zu "Künstliche Intelligenz in den Medien: Was geht?"

  1. Dieser Wochenkommentar freut mich insbesondere auch als begeisterter Leser der gesammelten Werke beispielsweise von Brecht, Freud, Kästner und Tucholsky sehr! – Während es bereits natürlicher Intelligenz am Bewusstsein des Herzens mangeln kann, fehlt seine Wahrheit künstlicher Intelligenz ganz: perfekt ist defekt. Roboter entsprechen der «Immer-noch-mehr-bis-zum-Geht-nicht-mehr-Welt». Losgelöst von der Kreativität und der Stärke des Herzens können von Robotern produzierte Texte knackig und unterhaltsam dem Blockiert- und Gefangensein von Menschen entsprechen, die nicht auf die Wahrheit ihrer Herzen hören (mundartlich: losen) können oder wollen: sie sind verwahrlost. Verwahrloste machen unsere Welt kaputt: und dies nicht nur mit dem was sie perfekt inszenieren, sondern vor allem auch mit dem was sie herz- und mutlos nicht tun.

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