Klärende Worte zu Sexismus und sexuellen Übergriffen

Publiziert am 8. Dezember 2017 von Matthias Zehnder

Die Affäre rund um Nationalrat Yannick Buttet im Bundeshaus hat die #MeToo-Debatte in die Schweiz gebracht. Allerdings herrscht hierzulande Verwirrung rund um Sexismus und sexuelle Übergriffe. Männer wehren sich: Man wird doch noch ein Kompliment machen dürfen. Und: Das alles sei bloss ein Missverständnis empfindlicher Frauen. Sie merken nicht, dass sie genau damit bestätigen, wie nötig eine echte Sexismus-Debatte in der Schweiz wäre. Es ist deshalb Zeit, ein paar Begriffe zu klären.

Ist das Bundeshaus ein Lusttempel? Haben sich die Männer in Bern nicht im Griff? Oder sind die Anschuldigungen wegen Belästigung bloss lächerlich? Der Fall des Walliser CVP-Nationalrats Yannick Buttet, der mitten in der Nacht eine Ex-Geliebte gestalkt und im Suff mehrere Parlamentarierinnen belästigt haben soll, beschäftigt die politische Schweiz. Auffallend ist dabei, wie rasch auch seriöse Zeitungen für eine gute Schlagzeile den guten Geschmack über Bord werfen und wie vor allem Männer die Begrifflichkeiten wild durcheinandermischen.

Beispiel gefällig? Letzten Dienstag war ich im «Club» im Schweizer Fernsehen zu Gast.[1] Unter den Gästen befand sich neben der Nationalrätin Regula Rytz (Grüne, BE), der Publizistin Esther Girsberger, der Wirtschaftsjournalistin Karin Kofler und Nationalrat Christian Wasserfallen (FDP/BE) auch Roger Köppel, SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Verleger. Köppel brachte systematisch verschiedene Aspekte der Debatte durcheinander, um sie dann wegzulachen. Im Editorial seiner «Weltwoche»[2] hat er dieselbe Taktik noch einmal angewendet – Zeit, für eine systematische Replik.

Sexismus versus sexuelle Belästigung

Die erste, wichtige Unterscheidung: Sexuelle Belästigung mag oft auf Sexismus beruhen, es sind aber zwei verschiedene Dinge. Sexismus kommt vom englischen sex und das meint das biologische Geschlecht. Sexismus bezeichnet die Diskriminierung einer Person aufgrund ihres (biologischen) Geschlechts. In den meisten Fällen betrifft das Mädchen oder Frauen, es kann aber auch Männer treffen. Wenn ein junger Mann in seinem Umfeld nicht für voll genommen wird, weil er in einer Kita arbeitet, oder Eltern zögern, ihm ihr kleines Kind anzuvertrauen, weil er ein Mann ist, wie es das Regionaljournal Basel[3] diese Woche berichtet hat, dann ist das genauso sexistisch wie wenn eine junge Frau gefragt wird, ob sie wirklich fliegen könne, wenn sie auf dem Pilotenstuhl Platz nimmt.

Sexuelle Belästigung dagegen ist unerwünschtes Verhalten mit sexuellem Bezug. Sexuelle Belästigung könne mit Worten, Gesten oder Taten ausgeübt werden und von Einzelpersonen oder von Gruppen ausgehen, schreibt das Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann.[4] Das kann ein anzüglicher Witz oder eine schlüpfrige Bemerkung sein, ein unerwünschter Körperkontakt oder das Einfordern sexueller Handlungen als Gegenleistung zu versprochenen Vorteilen.

Flirten versus Belästigung

Köppel sagte im «Club» und schreibt in der «Weltwoche», das Bundeshaus sei ein Tempel der Missverständnisse. Im Durcheinander der Signale verliere man leicht den Überblick. Bis zum Schluss weiss der Mann nicht, ob sein Vortasten im Glück, in der Ablehnung oder neuerdings vor dem Polizisten endet. Die Frauen wiederum erwarten vom Mann – und bewundern ihn auch dafür –, dass er ihren Todesstreifen der Vieldeutigkeit immer wieder mutig und auch elegant durchschreitet, um sich auf dem Weg zum Erfolg stets aufs Neue zu blamieren.

Das Bild des Mannes als Ritter von der Kokosnuss. Köppel merkt dabei nicht einmal, dass er die Beziehung zwischen Männern und Frauen auf eine geschlechtliche Beziehung reduziert. Sexuelle Belästigung liegt nun aber genau dann vor, wenn ein Mensch (in der Regel der Mann) sexuelle Absichten hegt, der andere (meist die Frau) davon aber nichts wissen will. Gerade diese Reduktion des anderen Geschlechts auf ein sexuelles Ziel ist sexistisch. Übrigens auch in die andere Richtung: Wer Männer auf ewig baggernde, brünftige Sexualwesen reduziert, denkt genauso sexistisch.

Sexismus –Übergriff durch Rollenzuweisung

Denn bei Sexismus geht es nicht um erotisch angehauchte Situationen, um das Werben des Mannes um die Frau, sondern um das Zuweisen von Rollen aufgrund des Geschlechts. Bestes Beispiel für mich ist eine Szene aus «Hidden Figures»,[5] einem wunderbaren Film über drei afroamerikanischen Mathematikerinnen, die massgeblich am Mondlandungs-Programm der NASA beteiligt waren, ohne je dafür anerkannt zu werden. Eine der Mathematikerinnen wird zur Space Task Group versetzt und soll da vektorgeometrische Berechnungen anstellen. Als sie den Saal (mit lauter weissen Männern) zum ersten Mal betritt, drückt ihr einer der Männer einen vollen Papierkorb in die Hand – der sei noch nicht geleert worden.

Das ist Sexismus (und Rassismus): Weil die Mathematikerin eine Frau ist, wird sie für eine Putzfrau gehalten. Das hat keinerlei sexuelle Konnotation. Der Mann, der jener Mathematikerin den Papierkorb in die Hand drückt, will nichts von ihr. Er weist ihr aufgrund ihres Geschlechts eine Rolle zu. Wenn im Spital ein weiss gekleideter Mann und eine weiss gekleidete Frau das Patientenzimmer betritt und der Patient automatisch annimmt, dass der Mann der Arzt ist und die Frau die Pflegerin, dann ist das Sexismus. Wenn auf der Geschäftsleitungsetage der Mann immer für den Chef gehalten wird und die Frau für die Assistentin, dann ist das Sexismus. Wenn Frauen zugetraut wird, dass sie kleine Kinder betreuen können, Männern aber nicht, dann ist das ebenso sexistisch, wie die Überraschung, dass eine Frau einen Bagger fahren kann.

Wo sich Sexismus und sexuelle Übergriffe treffen

Eine der Rollen, die Frauen in unserer Gesellschaft zugewiesen werden, ist die des Sexualobjekts: Werbung und Medien machen Frauen immer wieder zum Objekt sexueller Wünsche und Begierden. Das reicht von der nackten Frau auf dem Zeitschriftentitelbild über Diäten über die Werbung mit halbnackten Models für eine Modekette bis zu mehr oder weniger unverhohlener Pornografie. In vielen Filmen spielen die Männer die grossen Rollen, die Frauen sind erotische Staffage – und die Männer führen Regie. Bis heute hat mit Kathryn Bigelow erst eine einzige Frau (!) einen Oscar für die Beste Regie erhalten – aber rund 90 Männer.

Warum ich als Mann darüber schreibe? Weil es genauso sexistisch ist, die Männer in die Ecke der ständig brünftig Begehrenden zu stellen, wie die Frauen als Objekte dieser dumpfen Begierde zu diskreditieren. Indem Männer wie Köppel die Beziehung zwischen Mann und Frau auf den erotischen und mit Missverständnissen behafteten (Köppel) Flirt reduzieren, reduzieren sie sich selbst auf die Rolle des Bullen, der den einzigen Sinn des Daseins darin sieht, seinen Samen zu verteilen.

Der Ausweg aus der Debatte

Der Ausweg kann nur Gleichberechtigung sein. Die Grundlage dafür bietet der erste Artikel der UN-Menschenrechtsdeklaration: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.[1] In der Schweizer Bundesverfassung steht etwas ausführlicher im Artikel 8: Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.[2] Wir wissen alle, dass das zwar in der Verfassung steht, in der Praxis aber, etwa bezüglich Lohngleichheit, noch lange nicht erreicht ist. Umgekehrt machen mich meine Söhne gerne immer mal wieder darauf aufmerksam, dass ihre Kommilitoninnen im Vorteil sind, weil diese keinen Militärdienst leisten müssen.

Vor allem aber müssen wir für Gleichstellung in unseren Köpfen sorgen. Das ist keine Geschlechterfrage, das ist eine Charakterfrage.

Basel, 8. Dezember 2017, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

[1] Vgl. http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf

[2] Vgl. https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html – a8

[1] Vgl. https://www.srf.ch/sendungen/club/metoo-im-bundeshaus

[2] Vgl. http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2017-49/artikel/duschen-mit-doris-die-weltwoche-ausgabe-492017.html

[3] Vgl. https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/basler-kitas-immer-mehr-buschi-betreuer-mit-migrationshintergrund

[4] Vgl. https://www.ebg.admin.ch/dam/ebg/de/dokumente/sexuelle_belaestigung/themen/definition_sexuellebelaestigung.pdf.download.pdf/definition_sexuellebelaestigung.pdf

[5] Vgl. https://www.foxmovies.com/movies/hidden-figures

3 Kommentare zu "Klärende Worte zu Sexismus und sexuellen Übergriffen"

  1. Zu den „Klärende Worten zu Sexismus und sexuellen Übergriffen“ kann nur darauf hingewiesen werden, dass es über diesem Themenkreis auch eine aufschlussreiche, konstruktive und sehr „Klärende Sendung“ dazu gibt:
    https://www.srf.ch/sendungen/club/metoo-im-bundeshaus
    Mit einer bewanderten Regula Rytz, Nationalrätin Grüne/BE, einer fundierten
    Esther Girsberger, Publizistin, Dozentin, Unternehmerin, einer sachverständigen
    Karin Kofler, Wirtschaftsjournalistin Sonntagszeitung, Autorin, einem erfreulichen
    Christian Wasserfallen, Nationalrat FDP/BE, einem hervorragenden
    Matthias Zehnder, Philosoph, Publizist, Medienwissenschaftler und einem ausgezeichneten Roger Köppel, Nationalrat SVP/ZH, Verleger, Journalist Weltwoche. Danke. Und dies alles in einer versiert geleiteten Diskussionsrunde. Wirklich sehenswert.

  2. Lieber Matthias Zehnder

    Deine klärenden Worte in Sachen Sexismus und sexuelle Übergriffe sind sehr sinnvoll und nützlich.
    Nur eine Fussnote dazu: dass diese Debatte mittlerweile in den USA geradezu absurde Folgen hat, zeigt die Geschichte von Garrison Keillor, einem an sich sehr respektablen Autor und Radiomann, hierzulande am ehesten bekannt durch Robert Altmans letzten Film „Prairie Home Companion“ (so hiess seine langjährige Radiosendung). Darauf gestossen bin ich überhaupt erst durch Peter Winklers Beitrag in der NZZ vom 6. Dezember – er erwähnt den Fall, allerdings ohne den Namen Keillors auch nur zu nennen. Was Keillor vorgeworfen wird, wirkt verglichen mit Weinstein & Co. recht harmlos. Dass er dafür von seinem alten Medium „Minnesota Public Radio“ und auch von der „Washington Post“ (wo er eine Kolumne hatte) ausgegrenzt, bestraft und in Zukunft totgeschwiegen wird, erinnert an die Hysterie der antikommunistischen Hexenjagden der McCarthy-Zeit. Ein unpassender Vergleich? Vielleicht; Sexismus und sexuelle Übergriffe sind sicher nicht zu verharmlosen. Und trotzdem, wenn wir bedenken, was für ein Mann im Weissen Haus sitzt, nimmt sich der Furor gegen Keillor geradezu verhältnisblödsinnig aus. Zu fragen wäre vielleicht: cui bono?

  3. Wenn Gier das Denken und Handeln bestimmt, kann es zu Verfehlungen kommen, die zwar moralisch verpönt sein mögen, aber in der Tat tolerierter Courant normal sind. Dies vor allem auch in Bereichen wie „Macht“, „Religion“ und „Sex“, die sich zudem oft kumulativ überschneiden. Politisch mehrheitsfähig ist nach meiner Erfahrung auch hier in der Regel das Stammhirn und nicht das Denkhirn.

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