Kafka lesen – eine Anleitung
Vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, starb Franz Kafka. Das ist nicht zu übersehen: Die Flut an Büchern, Filmen und Hörstücken über Franz Kafka ist gigantisch. Sein schmales Werk wird davon geradezu erdrückt. Bisheriger Höhepunkt im 100. Todesjahr: eine sechsteilige Fernsehserie von ARD und ORF, geschrieben vom Schriftsteller Daniel Kehlmann, mit dem Schweizer Schauspieler Joel Basman in der Titelrolle. Kafka gilt, wie Mozart, als Unvollendeter, als zu früh verstorbenes Genie. Kafka ist als Aussenseiter, als geheimnisvoller Autor der «Verwandlung», als Unverstandener zur Figur der Popwelt geworden. Kein Wunder, dass ihn Andy Warhol in leuchtendem Blau vor schwarzem Hintergrund portraitierte. Dem Autor Kafka bekommt die Verehrung nicht: Sein Werk droht hinter all den Biografien, Darstellungen und Devotionalien zum Klassiker zu verblassen, dem sich junge Leserinnen und Leser nur noch im Unterricht und mit Interpretationshilfen nähern. Dabei ist das gar nicht nötig. In meinem Wochenkommentar gebe ich Ihnen diese Woche deshalb eine kleine Anleitung für das Lesen von Kafka.
«Kafkas Schriften sind seltsam und dunkel, seine Persönlichkeit ist kompliziert», schreibt die ARD auf der Sendeseite der neuen Fernsehserie über Franz Kafka und versichert: «Das Genie Kafkas wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt.» Das mögen die richtigen Worte sein, um eine Fernsehserie zu bewerben – dem Werk von Kafka schmeicheln sie nicht gerade. Wer will schon Texte lesen, die «seltsam und dunkel» sind. Die Serie übrigens ist wirklich sehenswert. Joel Basman spielt Franz Kafka, David Kross dessen Freund Max Brod. Die Serie kreist um das Verhältnis der beiden Freunde. Max Brod ist arriviert als Schriftsteller, er hat bereits zwölf Bücher veröffentlicht. Kafka schreibt zwar wie ein Wilder, hat aber noch keinen einzigen Titel publiziert. Die Ansprüche, die er an sich selbst hat, sind zu hoch. In der Serie fragt Max, ob seine eigenen Romane etwa nicht gut seien. «Sie sind gut genug!», beruhigt ihn Franz – und lächelt leise. Es wird klar, dass er an sein eigens Werk andere Massstäbe anlegt.
Die Kritiker sind begeistert. So schreibt der «Spiegel», man habe «ein so fulminantes und vergnügliches Biopic wie dieses im deutschen Fernsehen noch nicht gesehen». «Kafka» setze «in diesem Genre neue Massstäbe». Geschrieben hat die Serie der Schriftsteller Daniel Kehlmann. Er sagt, Kafka sei für ihn einzigartig. Aber Kafka sei kein Schriftsteller, den er «irgendwie nachmachen oder imitieren» wollte. Er schreibe so speziell, dass man ihn sich nicht wirklich zum Vorbild nehmen könne. «Niemand kann Kafka ausser Kafka!», sagt Kehlmann. «Man kann Kafkas Sprache oder Denken nicht simulieren. Sie ist so überraschend und auch so im guten Sinn schräg und versponnen.» Wenn er Kafka in der Serie habe reden lassen, dann habe er sich immer aus den Briefen oder Tagebüchern bedient.
Kafka als Popikone
Eine Fernsehserie über einen Schriftsteller – eigentlich wunderbar. Bloss stellt die Serie einmal mehr Franz Kafka als rätselhaften Menschen in den Vordergrund und bedient damit ein Bild, das wir ohnehin vom Schriftsteller haben. Kafka ist zur melancholischen Popikone geworden. Es gibt die Kafka-Biografie als Comic, gezeichnet von Nicolas Mahler. «Komplett Kafka» heisst das Buch. Es illustriert kurze Texte von und über Kafka in ähnlich reduziertem Strich, wie Kafka selbst gezeichnet hatte. Es gibt Kafka-Tassen, Kafka-T-Shirts und Kafka-Mousepads. Übrigens meist mit demselben Foto von Kafka, einem Bild, das ihn kurz vor seinem Tod zeigt, mit schmalem Gesicht und melancholischem Blick.
Dabei konnte Kafka auch ganz anders. Er hatte, schreibt Biograf Reiner Stach, eine humorvolle, ja komische Seite. Das Komische spiele bei Kafka eine herausragende Rolle, denn «seine Komik ist keineswegs bloss abgründig, wie man angesichts der Unauslotbarkeit seiner Texte vielleicht annehmen würde; sie ist ebenso naiv, slapstickhaft, erfüllt von der Freude an Wortwitz und Pointe, am Hantieren mit Motiven, Perspektivwechseln und szenischen Einfällen.» Weil Kafka aber längst entrückt auf einem Sockel steht, entgeht uns diese Seite seines Werks.
Schreiben wie Schwimmen im See
Der deutsche Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski hat dieser Tage eine Kafka-Biografie veröffentlicht: «Um sein Leben schreiben» heisst sie. Safranski hat Bücher über Goethe, Schiller, Hölderin und Nietzsche veröffentlicht. Bei keinem dieser Schriftsteller hat er das Schreiben so sehr ins Zentrum gestellt. Er schildert Kafkas Leben nicht anhand der biographischen Eckdaten, sondern als Bericht der Entstehung seiner Werke. Auch wenn Kafka kein recherchierender Autor ist, sondern beim Schreiben nur aus sich selber schöpft, ist Schreiben für Kafka mehr und anderes als nur Selbstbeobachtung. Safranski sagt: «Das Schreiben, so wie es Kafka anstrebt, ist nicht Beobachtung der Seele, sondern Seele in Aktion.»
Wahrhaftes Schreiben ist für Kafka nicht Lebens-Betrachtung, das Schreiben ist das Leben. Er wirft sich ins Schreiben einer Erzählung wie in ein Abenteuer und staunt darüber, wie sich die Geschichte auf dem Blatt vor ihm entwickelt. Safranski sagt, es gebe bei Kafka «kein Konzept, keine Gliederung, kein Exposé.» Kafka taucht in sein Schreiben ein wie ein Schwimmer in einen See. Er schreibt in einem Zug, vielleicht wie im Rausch. Auf seinen Manuskripten sind kaum Änderungen zu sehen, höchstens Korrekturen, die im Schreibfluss vorgenommen werden. Spätere Korrekturarbeiten an den Manuskripten finden sich kaum. Wenn ihn der Schreibfluss nicht mehr weiterträgt, bricht er ab. Das dürfte der Grund dafür sein, warum Kafka so viele Fragmente hinterlassen hat.
Impulsives, exzessives Schreiben
Es sei ein Schreiben wie ein Fallen, sagt Safranski, «eine Ankunft, eine Lösung, eine Erlösung ist nicht vorgesehen». In diesen Momenten des eruptiven, impulsiven und exzessiven Schreibens fühlt Kafka sich am lebendigsten. Er gibt sich ganz dem unvorhersehbaren und auch unkontrollierbaren Schreibprozess hin, lässt sich treiben in die labyrinthischen Welten der Kanzleien und Dachstuben im «Process» oder in die ausufernden Geschichten, Abzweigungen und Umleitungen bei der unendlichen Annäherung ans «Schloss». Er wirft sich in die Vorstellung, ein «ungeheures Ungeziefer» zu sein wie in der «Verwandlung».
Kafka überlässt sich beim Schreiben seinen Texten – und genau so sollten wir seine Texte lesen. Vergessen Sie die klugen Einführungen, die Interpretationshilfen und Erklärungen, die T-Shirts und Tassen, die Bilder und die Fernsehserien. Werfen Sie sich in die Texte, tauchen Sie in sie ein und überlassen Sie sich Kafkas Worten. So, wie man Mozart hören kann, indem man sich seiner Musik hingibt, kann man Kafka lesen, indem man sich seiner Sprache hingibt. Lesen Sie seine Romane und Erzählungen wie Gedichte. Freuen Sie sich am Klang. Tauchen Sie ein in die Bilder, die Kafka malt. Lesen Sie sich in einen Rausch.
Die poetische Kraft der Worte
Das geht bei Kafka deshalb besonders gut, weil schon die ersten Sätze seiner Erzählungen einen packen und hineinziehen in die Geschichte oder das erzählte Bild:
Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
So beginnt «Die Verwandlung», zweifellos Kafkas berühmteste Erzählung. Um diesen Text lesen zu können, müssen Sie nichts wissen. Sie können sich ganz dem Text hingeben. Zum Beispiel seinem Klang. Kafka lässt sich gut laut lesen. Aus dem ungeheueren Ungeziefer spricht die Ungeheuerlichkeit der Verwandlung. Beim panzerartig harten Rücken hören Sie die Härte an den harten Konsonanten und die Umlaute und Diphthonge des gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauchs bilden die kugelige Gestalt des Käfers poetisch ab. Kein Wunder, kann sich auf dem runden Bauch des Käfers die Bettdecke kaum noch halten, sie ist zum gänzlichen Niedergleiten bereit. Der Käfer zappelt auf dem Rücken, die kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen. Die Beinchen, die hilflos flimmern – ich denke da sofort an wimmern.
Der Text steht für sich selbst
Dieser Text braucht keine Inszenierung. Keinen Film, keine Performance, keine Illustration. Er steht für sich selbst. Wir müssen als Leserinnen und Leser nur in den Text eintauchen und uns Kafkas Worten überlassen. Trotz (oder vielmehr wegen) aller Kafka-Huldigungen, Jubiläums-Talks, Film-Berichten und Theater-Adaptationen passiert genau das viel zu selten. Kafka hat Schreiben als Rausch gelebt – wir sollten Kafkas Texte entsprechend lesen. Geben Sie sich dem Text hin. Schalten Sie alles andere ab. Keine Musik, keine Getränke, keine Bilder. Haben Sie den Mut, sich den Worten zu überlassen. Theodor W. Adorno schreibt: «Alles wörtlich nehmen, nichts durch Begriffe von oben zudecken. Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zum Buchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmal helfen.»
Sie müssen dazu noch nicht einmal ein Buch kaufen. Die Texte von Kafka sind rechtsfrei online verfügbar im Projekt Gutenberg. Allerdings würde ich Ihnen empfehlen, zu einer gedruckten Ausgabe zu greifen, weil Bücher den Lesefluss selten durch Push-Nachrichten unterbrechen.
Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte, trat ein.
So beginnt «Der Process», die alptraumartige Schilderung der Verhaftung von Josef K. Wie viele seiner Werke hat Franz Kafka auch diesen Roman nicht beendet. Die Erzählung ist konsequent aus der Sicht von Josef K. geschrieben. Die Verhaftung ist für K. ein Rätsel. Als Leserinnen und Leser sind wir diesem Rätsel ebenso ausgesetzt. Es gibt keinen auktorialen Erzähler, der in einem beruhigenden Bariton durch die Szene führen würde. Auch hier können wir uns dem Text ohne Vorwissen überlassen und eintauchen in den Alptraum, den Kafka uns schildert.
Sich in den Text fallen lassen
Wenn Sie Erläuterungen dazu suchen, dann empfehle ich Ihnen die kommentierte Ausgabe des Romans, die Reiner Stach soeben bei Wallstein herausgegeben hat. In einem ausführlichen Anhang erklärt Stach ungewöhnliche Worte, Namen und Erzähltechnik. So erfahren wir, dass sich Josef K. Als Chiffre für Kafka lesen lässt – das Initial K. könnte für Kafka stehen, der Vorname Josef erinnert an Kaiser Franz Josef und damit käme auch Kafkas eigener Vorname ins Spiel. Das ist interessant, insbesondere für Lehrpersonen. Als Leserin, als Leser müssen Sie das alles nicht wissen. Es genügt, auf den Text zu vertrauen, loszulesen und sich in den Text fallen zu lassen.
Wenn Sie lieber hören als lesen, empfehle ich Ihnen die Hörbuchausgabe der Romane und Erzählungen von Franz Kafka, die Sven Regener jetzt gerade eingelesen hat. Sven Regener ist vor allem bekannt als Musiker von «Element of Crime» und als Autor der «Lehmann»-Romane. Er liest die Texte von Franz Kafka unprätentiös, manchmal auch etwas atemlos. Es ist kein Erstarren vor dem Klassiker Kafka zu hören, Regener liest dringlich, ja eindringlich und stellt so den Text ins Zentrum.
Der Text im Zentrum des Lebens. Das ist Kafka. Denken Sie daran, wenn Sie in den nächsten Tagen viel über Kafka hören und lesen, Filme über ihn sehen und Radiobeiträge über ihn hören. Kafkas Leben war das Schreiben. Schreiben ohne Netz und doppelten Boden, ohne Plot und Plan. Kafka hat sich dem Schreiben verschrieben. Dem Schreiben als Rausch. Ich glaube, so sollten wir ihn auch lesen. Lesen ohne Schwimmweste und Fallschirm. Dazu brauchen Sie keine Moderation, keine Anleitung und schon gar keine Bilder. Nur die fantastischen Texte von Kafka – und etwas Zeit. Zeit abzutauchen.
Basel, 31. Mai 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Dann erhalten Sie jeden Freitag meinen Newsletter mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, einen Sachbuchtipp, einen Tipp für einen guten Roman und das aktuelle Fragebogeninterview. Einfach hier klicken. Und wenn Sie den Wochenkommentar unterstützen möchten, finden Sie hier die entsprechenden Möglichkeiten – digital und analog.
PPS: Wenn Sie den Wochenkommentar nur hören möchten, gibt es auch eine Audioversion. Hier der Link auf die Apple-Podcast Seite oder direkt auf die Episode:
Quellen
Bild: KEYSTONE/EPA/Martin Divisek
Eine Frau liest an der Buchmesse Book World Prague 2024 in einem Buch über Franz Kafka. Prag, 24. Mai 2024
«Kafka» – Serie (NDR):
ARD Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL25kci5kZS80OTg3XzIwMjQtMDMtMjYtMjEtNDU
SRF Mediathek: https://www.srf.ch/play/tv/sendung/kafka?id=8a921228-c311-4390-9c8f-72cd22579bf8
Franz Kafka im Projekt Gutenberg: https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/kafka.html
Adorno, Theodor W. (1953): Aufzeichnungen zu Kafka. In: Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Gesammelte Schriften, Herausgegeben von Rolf Tiedemann, Band 10.1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2003 (S. 254-287).
Batlle, Patricia (2024): Daniel Kehlmann über Kafka: «Wirkungsreichster Schriftsteller des 20. Jahrhunderts». In: NDR. [https://www.ndr.de/kultur/film/Daniel-Kehlmann-ueber-Kafka-Wirkungsreichster-Schriftsteller-des-20-Jahrhunderts,kehlmannkafka100.html; 31.5.2024].
Frank, Arno (2024): Mit Franz Kafka in wilden Sprüngen durch Zeit und Stil. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/kultur/tv/ard-serie-kafka-ueber-franz-kafka-in-wilden-spruengen-durch-zeit-und-stil-a-bcdc6d9c-04fb-4c1a-af8c-40035fd740a5; 31.5.2024].
Haas, Daniel (2024): Es spricht Franz Kafka. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/feuilleton/franz-kafka-wird-im-kino-und-in-einer-tv-serie-zu-neuem-leben-erweckt-ld.1824411; 31.5.2024].
Kafka, Franz (2024): Der Process. Roman. Kommentierte Ausgabe, herausgegeben von Reiner Stach. Göttingen: Wallstein Verlag 2024
Kafka, Franz (2024): Sven Regener liest Franz Kafka. Die Romane und die zu Lebzeiten veröffentlichten Erzählungen. Hörbuch. Bochum: Verlag tacheles!/Roof Music 2024
Mahler, Nicolas (2023): Komplett Kafka. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2023
Stach, Reiner (2012). Ist das Kafka? 99 Fundstücke. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2012
Safranski, Rüdiger (2024): Kafka. Um sein Leben schreiben. München, Hanser Verlag 2024
4 Kommentare zu "Kafka lesen – eine Anleitung"
Bin völlig anderer Meinung. Ja nicht in den Text fallen lassen. Kafkas Texte entstanden aus Situationen in seiner Biographie. Diese Anlässe zu kennen erschließt erst die Texte. Das heisst überhaupt nicht, dass man Kafka „nur biographisch“ verstehen kann oder interpretieren soll. Aber seine Texte sind verarbeitetes Leben – und zwar seines. Nur so werden sie konkret. Träume zu verstehen heisst auch, ihnen einen Hintergrund im und/oder aus dem Leben zu geben. Träume sind nicht beliebig. Und Kafkas Texte nicht reines Schreiben. Natürlich schöpft er aus dem Eigenen. Aber dieses Eigene ist nicht das Sein oder das Absolute oder sowas. Sondern sein Erlebtes. Man muss nicht so weit gehen wie Canetti (Der andere Prozess). Aber „Der Process“ wird verfehlt, wenn man die Szene im Askanischen Hof, wo Felice Bauer und Grete Bloch den armen Kafka niedermachen, ausblendet.
Lieber Christoph Bopp
Vielen Dank für die Rückmeldung. Ja, so habe ich an der Universität Kafka auch gelesen (und lese Kafka sicher auch bis heute). Mir scheint aber, gerade im Jubiläumsjahr verschwinden die Texte hinter all den Filmen und zum Teil an Banalität nicht zu unterbietenden Texten über Kafkas Leben, deshalb der Aufruf: Wirf Dich in die Texte und lass sie als Text auf Dich wirken. Wie ein Gedicht oder ein Stück Musik. Klar, versteht man die Jupiter-Sinfonie besser, wenn man die Partitur im Regal stehen hat. Man kann sich der Musik aber auch hingeben. Ich bin überzeugt, dass das bei Texten wie der «Verwandlung» genauso möglich ist.
So oder so: Kafka lesen. Herzlich, m.
Lieber Matthias
Das ist genau das Problem. Wenn ich mich werfe, gucken mich überall die Gespenster von FK an. Darum ist Sichhineinwerfen eine falsche Strategie. Es ist nicht dasselbe wie bei Mozart und der Jupiter-Symphonie. Da ist Wirkung + Kunst. Bei Kafka ist informiertes Lesen + Kunst. MaW: Du kannst die Qualität des Textes erst würdigen, wenn Du den Rest hinter Dir hast. Musterbeispiel ist der Jäger-Gracchus-Komplex. Der ist offen. Der Process ist Verhaftung + Ende und ein Haufen Dazwischengeschobenes. Beim Schloss sieht man gut, warum abgebrochen werden muss. Die Geschichte wird nicht direkt trivial, aber hier kommt man als Leser in die Situation, wo man dem Landvermesser zwar nicht „Gibs auf!“ zurufen möchten, aber etwas in der Richtung. Dieses Schloss ist einfach den Einsatz nicht mehr wert. Mozart stellt sich der Aufgabe: Schreib eine Symphonie! Und das macht er. Und man sieht, dass er es gut und auf eine manchmal neu anmutende Weise macht. Was ist die Aufgabe bei Kafkas Schloss? Schreib eine Geschichte von einem Unglücklichen, der irgendwo rein will, aber nicht kann resp. man ihn nicht lässt. (Also die Parallelaktion zum Verschollenen.) Und das macht er. Aber welch ein Unterschied! Kafka kann schreiben. Das sieht man an den kürzeren Texten, merkt aber erst, wie gut er ist, wenn man ihn in den Romanfragmenten daran misst. Und kehrt dann zu den Kurz-Erzählungen zurück. Auf der Galerie – das ist sein bestes Stück. In den „Romanen“ gibt es ähnlich gute Episoden. Das Theater von Oklahama zB., die Begegnung mit der alten Freundin – hab gerade vergessen, wie sie heisst. (Natürlich heisst sie Fanny … ;-)) ) Übrigens: Gedichte liest man nicht als Appell, sondern zuerst als Struktur. Ist ergiebiger. In (fast) allen Fällen.
Aber da werden wir wahrscheinlich nicht zusammen kommen. MfG CHR.
Lieber Christoph
In einigen Punkten sind wir uns ja einig. (> Kafka kann schreiben). Und ganz sicher bringt informiertes Lesen mehr. Trotzdem gibt es gerade bei Kafka Werke oder mindestens Stellen, die sprachlich phantastisch sind. Zum Beispiel die kurzen Erzählungen aus dem Nachlass, etwa «Gibs auf!». Die sind sprachlich so präzise geformt, dass ich sie auch ohne viel Hintergrundinformation als solche geniessen kann. und bevor Du mir das Wort «geniessen» um die Ohren haust: Ich meine damit, dass ich mich an der sprachlichen Perfektion freue. Das ist so gut geschrieben, dass auf mich eine poetische Wirkung hat. Und das heisst: Die Wörter bringen beim Lesen mehr als nur den Kopf in Schwingung. Deshalb habe ich auf Gedichte verwiesen. Gemeint hab eich damit die poetische Kraft der Sprache. Natürlich sind (respektive waren bis Anfang 20. Jahrhundert) Gedichte vor allem Struktur. Spätestens seit Brecht und seiner reimlosen Lyrik ohne Rhythmus («Der Radwechsel») ist das aber nicht mehr unbedingt so. Ich kann mich am «Blauen Klavier» von ELS als sprachlichem Bild freuen, ohne einen Hintergrund zu kennen. Natürlich lassen sich Kafka, Brecht, ELS, Ball und alle anderen auch entschlüsseln. Ihre poetische Kraft liegt aber darin, dass ihre Sprache auch ohne Entschlüsselung unmittelbar wirkt. Und genau das erlebe ich auch bei Kafka so. Ganz abgesehen davon geht mir der Hype um die von Banalitäten nur so strotzenden Biopics, Dramatisierungen und Inszenierungen von Kafka schlicht auf den Sack.
herzlich, m.