Ist Geld eine Religion?

Publiziert am 11. Februar 2022 von Matthias Zehnder

Dieser Tage habe ich Besuch vom Schweizer Dokumentarfilmer und Regisseur Hercli Bundi erhalten. Bundi ist daran, einen Film über das Geld zu drehen. Eine Frage war: Ist Geld eine Religion? Es ist eine verführerische Frage. Gerade in der Schweiz, wo viele Banken auch architektonisch an Tempel erinnern und es als Sakrileg gilt, den Rappen nicht zu ehren. Aber ist es so einfach? Zusammen mit Industriepfarrerin Delphine Conzelmann habe ich versucht, einige der Fragen von Hercli Bundi zu beantworten und bin dabei ins Grübeln gekommen. Ins Grübeln über das Geld. Unsere Gesellschaft ist auf Geld gebaut, – doch da, wo das Geld sein sollte, klafft eine Leerstelle. Denn was Geld genau ist, das lässt sich gar nicht so einfach sagen. Also doch ein Fall für die Pfarrerin? In meinem Wochenkommentar sage ich Ihnen, warum ich meine, dass das Geld nicht in ihr, sondern in mein Fach fällt – und was das für uns alle bedeutet. 

Hercli Bundi stellt in seinem Film allen Beteiligten dieselbe Einstiegsfrage: Er bringt ein Set der aktuellen Schweizer Banknoten mit und bittet die Protagonist:innen, sich dieses Geld anzuschauen. Die Frage dazu lautet: «Was halten Sie da in der Hand?» Ich war, muss ich gestehen, zunächst einmal fasziniert. Ich hatte zuvor noch nie eine Tausendernote gesehen, geschweige in der Hand gehalten. Die Note ist gleich breit wie alle anderen, bloss etwas länger. Die Grundfarbe der Note ist Violett. Abgebildet sind die Hände von zwei Menschen, die sich die Hände schütteln. Das Bild erinnert mich irgendwie an die betenden Hände von Albrecht Dürer, es wirkt etwas pathetisch auf einer Tausendernote. 

Die Banknoten knisterten in unseren Fingern. Sie fühlen sich nicht wie Papier an und sie bestehen auch nicht mehr aus Papier, sondern aus einer mehrschichtigen Folie. Die Nationalbank nennt es «Kompositsubstrat» – man könnte auch schlicht von einer mehrschichtigen Plastikfolie reden. Ich schaute mir die Noten an und mir wurde bewusst, dass ich seit mindestens einem halben Jahr kein Bargeld mehr in meiner Hand gehabt hatte. 

Die Noten, die Hercli Bundi vor uns ausbreitete, als seien sie Beweismittel in einem Prozess, waren mir also fremd. Nicht auf die Art fremd, wie es Banknoten einer fremden Währung sind. Rupien, Yen oder Dollar haben etwas Fremdes an der Oberfläche. Da kann ich die Schrift nicht lesen oder kenne die abgebildeten Menschen nicht. Bei den Schweizer Banknoten ist das anders: Grafisch waren sie irgendwie vertraut. Die Farben zum Beispiel. Gelb steht nach wie vor für zehn Franken, rot für 20, grün für 50, blau für 100. Das war, gefühlt, schon immer so. Auch die Zeichnungen auf den Noten wirkten vertraut, selbst wenn es neue Sujets sind. Es waren die Noten selbst, die mir fremd waren. 

Kein Wert an sich 

«Was halten Sie da in der Hand?», fragte Hercli Bundi. Mir kam der Roman «Das grosse Spiel» von Claude Cueni in den Sinn. Darin erzählt der Basler Romancier die Geschichte von John Law, einem professionellen Glücksspieler, der das Papiergeld zwar nicht erfunden, aber doch als erster damit im grossen Stil Finanzpolitik gemacht hatte. Mir kamen Bilder aus der Türkei in den Sinn, wo wütende Bürger Banknoten verbrennen, weil die türkische Lira so rasch an Wert verliert, dass die Menschen nicht mehr wissen, wie sie Nahrungsmittel und Heizöl kaufen sollen. «Was halten Sie da in der Hand?» Ich drehte und wendete die Banknoten in meiner Hand. Es ist bedrucktes Papier oder meinetwegen Plastikfolien, die keinen Wert an sich haben. Die Noten erhalten den Wert erst durch den Aufdruck. Sie haben keinen Wert, sie stehen stellvertretend für einen Wert.

Bei Gold ist das etwas anderes. Gold hat einen bestimmten Wert, egal, welche Form es annimmt. Ein Gramm Gold kostet derzeit etwas mehr als 50 Franken, ganz egal, ob das Gold die Form eines Eherings, eines Löffels oder eines Goldbarrens hat. Wenn ich den Löffel in der Mitte in zwei Hälften zerschneide, dann ist die eine Hälfte des Löffels immer noch halb so viel wert wie der ganze Löffel. Bei einer Banknote ist das nicht so. Die hat keinen Wert an sich. Sie steht für einen Wert. Erst die aufgedruckte Information macht das Stück Papier zu einer Banknote. Ursprünglich liessen sich Banknoten als Schuldscheine lesen: Mit einer 100er Note bestätigte die Nationalbank, dass sie jederzeit dieses Stück Papier in Goldmünzen im selben Wert tauschen würde. Banknoten waren also Zertifikate, die man jederzeit gegen Goldmünzen eintauschen konnte. 

Banknoten stellen Wert nur dar

Der Goldstandard führte zu harten Währungen, aber auch dazu, dass die Länder kaum Geldpolitik machen konnten. Kein Land konnte mehr Geld in Umlauf bringen, als es Gold in seinen Tresoren liegen hatte. Wirtschaftshistoriker sagen, dass diese enge Bindung an die Goldreserven ein Grund für die Wirtschaftskrise von 1929 waren. Schrittweise lösten sich die Länder deshalb in den 30er-Jahren vom Goldstandard. Ab 1933 lösten sich zum Beispiel die Vereinigten Staaten vom Goldstandard, um die Geldmenge auszuweiten und die Deflation, also die Aufwertung der Währung, zu beenden. Die Schweiz brauchte dafür etwa länger: Die Goldpreisbindung des Schweizer Frankens wurde erst mit Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung am 1. Januar 2000 aufgehoben. Seither hat die Nationalbank einen Teil ihrer Goldreserven verkauft und die Banknoten sind keine Schuldscheine mehr, welche die Nationalbank jederzeit in Gold umtauscht. Aber was sind sie dann?

Sie sind nicht selbst von Wert, sie stellen Wert nur dar. Sie sind Medien. «Medium» ist lateinisch und bedeutet auf Deutsch «das Mittlere» und «der Mittler». Das passt sehr gut: Das Medium steht in der Mitte zwischen dem Sender und dem Empfänger. Es wird zum Medium, indem es eine Botschaft vom Sender zum Empfänger trägt. Er «vermittelt» also eine Botschaft. Ohne Empfänger, kein Medium. 

Die ursprüngliche Botschaft des Mediums Banknote war die Bestätigung der Nationalbank, dass der Eigentümer der Note das Anrecht hat, diese Note gegen Gold im entsprechenden Wert einzutauschen. Was der Eigentümer natürlich nie gemacht hat. Denn das Geniale an der Banknote war, dass sie zum universellen Stellvertreter im Tauschhandel wurde. Der Metzger lebt vom Fleisch, der Bäcker lebt vom Brot. Der Metzger kann auch dann beim Bäcker ein Brot holen, wenn der Bäcker Vegetarier ist, weil er ihm sein Fleisch nicht direkt zum Tausch anbieten muss. Die Kunden des Metzgers bezahlen sein Fleisch mit dem universellen Konversionsmittel Geld. Georg Simmel sagt deshalb, dass Geld die Menschen befreit und ihre Beziehungen versachlicht hat.

Und was ist Geld?

Banknoten sind also Medien. Sie sind Medien, weil es sich um bedrucktes Papier handelt. Das Papier transportiert die Zahlen und Buchstaben zum Empfänger, diese Zahlen und Buchstaben bergen das Versprechen der Nationalbank. Banknoten sind Medien für Geld – aber was ist Geld? Von Marshall McLuhan stammt der berühmte Satz: «Das Medium ist die Botschaft.» Auf den ersten Blick ist es ein fast sinnloser Satz: Wenn Medien Botschaften tragen und Medien Botschaften sind, dann bedeutet das, dass Medien immer nur andere Medien transportieren können. Auf den zweiten Blick hilft uns das gerade bei der Banknote weiter. Das Papier trägt Zahlen und Wörter. Die Zahlen und Wörter transportieren Geld. Und das Geld? Das transportiert als Medium das Versprechen.

Geld kann diese universale Rolle spielen, weil es als Medium ein Versprechen transportiert: Das Versprechen, einen Wert in Gold aufzuwiegen. Dieses Versprechen ist aber nur so lange nützlich, als es nicht eingelöst wird. Ich will ja (in der Regel) kein Gold haben, sondern Fleisch oder Brot. Das hat es möglich gemacht, dass das Gold sich aus dieser Gleichung verabschiedet hat und das Geld zum universellen Versprechen geworden ist.

Geld ist also ein Medium, deshalb fällt es nicht ins Fachgebiet von Pfarrerin Conzelmann, sondern in mein Fachgebiet. Aber inwiefern hilft uns das weiter?

Ich glaube, Geld wie ein Medium zu behandeln erklärt einige der Eigenschaften von Geld. Ein Medium, das wir alle gut kennen, ist die Sprache. Indem ich diese Buchstaben schreibe oder diese Wörter spreche, produziere ich Sprache. Das grosse Geheimnis der Sprache ist das, was sie in unseren Köpfen anzurichten imstande ist. Nehmen wir ein Wort wie «Baum». Das Wort besteht aus den vier Buchstaben «B» «A» «U» «M», die wir benutzen, um den Laut «Baum» abzubilden. Weder die Buchstaben noch der Laut haben auch nur das geringste mit einer Buche, einer Eiche oder einer Lärche zu tun. Warum entsteht dennoch in unseren Köpfen das Bild einer Eiche oder einer Buche, wenn wir das Wort «Baum» lesen oder hören? Anders gesagt: Wie kann es sein, dass der Laut «Baum» die Bedeutung «Baum» tragen kann? Ganz einfach: Weil wir das so miteinander vereinbart haben. 

Linguisten reden von der «Arbitrarität der Zeichen», also von der Beliebigkeit ihrer Bedeutungen: Das Wort «Baum» ist ein sprachliches Zeichen für den Baum in der Welt, das willkürlich mit diesem Teil der Welt verbunden wird. Willkürlich heisst: Weil wir es so miteinander abgemacht haben. Deshalb ist die Bedeutung von Wörtern auch nicht fest, sie kann sich mit der Zeit verändern. Genau dasselbe gilt für das Geld. Auch Geld ist nicht etwas an sich wie ein Baum. Auch das Geld selbst ist nur ein Medium, das eine Botschaft transportiert. Die Botschaft ist das Versprechen, dass sich dieses Geld wieder in Brot oder Fleisch, Kleider oder von mir aus eine Yacht umtauschen lässt. Geld ist ein Medium wie Sprache oder Töne. Ob ich dieses Versprechen auf ein Stück Plastikfolie der Nationalbank festhalte oder in einem Bankcomputer notiere, macht sachlich keinen Unterschied. Entscheidend ist nur, dass meine Umwelt dem Versprechen glaubt. 

Entscheidend ist, dass die Menschen es glauben

Hat Geld also doch mit Glauben zu tun? Natürlich. Aber das macht Geld noch nicht zur Religion. Eine Brücke überqueren wir auch nur, wenn wir daran glauben, dass sie hält. Das universelle Versprechen, das das Medium Geld transportiert, funktioniert nur, so lange die Menschen daran glauben, dass sie es einlösen können. Geld ist also abhängig vom Vertrauen der Menschen. Wenn die Menschen dem Geld nicht mehr vertrauen (also nicht mehr daran glauben), verliert es seinen Wert. So, wie das jetzt in der Türkei passiert. Jetzt sagen Sie vielleicht: Aber das hat doch volkswirtschaftliche Gründe, dass die Lira abstürzt. Ja, diese Gründe erklären, warum das Vertrauen der Menschen schwindet. Deshalb reagiert wohl der türkische Präsident auch so empfindlich auf die Inflation: Die Geldentwertung bringt zum Ausdruck, dass die Menschen in der Türkei nicht mehr an das Geld des Landes und damit nicht mehr an den staatlichen Rahmen glauben. Das Medium für dieses Vertrauen ist das Geld. 

Dass Geld ein Medium ist, erklärt auch, warum es sich so einfach digitalisieren lässt. Ob ich das Versprechen auf eine Plastikfolie der Nationalbank, in einer Datei meiner Hausbank oder in einer kryptografisch verschlüsselten Datei auf einer Blockchain notiere, ist dabei völlig egal. Ich kann Geld telegraphieren, per Internet verschicken oder mit einer Bluetooth-Verbindung von meinem Handy aus transferieren. Entscheidend ist nur, dass die Menschen dem Medium vertrauen. 

Wir sind selber schuld

Weil Geld ein Medium ist, hat es selbst keine Natur. Ich glaube, wir betrügen uns selbst, wenn wir dem Geld die Schuld für die Zustände auf der Welt. Zugegeben: Das Geld ist extrem ungleich verteilt. Laut Solidar Suisse besitzen die zwei Dutzend reichsten Milliardäre auf der Welt gleich viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung zusammengezählt. In der Schweiz ist es nicht ganz so extrem: Hierzulande besitzen die reichsten zehn Prozent der Haushalte etwa 57 Prozent der Vermögenswerte. Möglich ist das, weil sich Geld als Medium beliebig anhäufen lässt. Ob sich auf meinem Konto 100 Franken oder 100’000 Franken befinden, das unterscheidet sich nur durch drei Nullen am rechten Ort vor dem Komma. Die Ungleichheit ist aber nicht das Resultat der Natur des Geldes. Daran sind wir Menschen schon selber schuld. Wer Geld zur Religion überhöht oder das Geld verteufelt, lenkt nur davon ab, dass Geld letztlich das ist, was wir daraus machen. Anders als ein Baum ist Geld für sich genommen nichts – so wenig wie die Buchstabenfolge «drzewo». Es sei denn, Sie verstehen Polnisch und hätten gelernt, dass «drzewo» auf Deutsch «Baum» heisst. Den Buchstaben selbst ist das nicht anzusehen – die Bedeutung der Buchstaben ist arbiträr, eine soziale Konvention. Wie Geld auch. Es kommt darauf an, was wir daraus machen.

Whitney Houston, die übrigens heute vor 20 Jahren starb, ist von der amerikanischen Journalistin Diane Sawyer in einem Interview für ABC News einmal gefragt worden, welches der grösste Teufel für sie sei, Alkohol, Kokain oder Pillen. Whitney Houston antwortete ihr: «That would be me». Es ist unsere Entscheidung, was wir daraus machen. Das gilt auch für das Geld. Und das macht das Ganze dann vielleicht doch zu einem Fall für Frau Pfarrer.

Basel, 11. Februar 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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PPS: Wenn Sie den Wochenkommentar nur hören möchten, gibt es jetzt hier eine Audioversion (noch im Experimentalstadium). Hier der Link auf die Apple-Podcast Seite oder direkt auf die Episode:


Quellen

Bild: © KEYSTONE/Gaetan Bally

ABC News (2012): Whitney Houston Admits To Drug Use In Diane Sawyer ABC News Interview. In: YouTube. [https://www.youtube.com/watch?v=8nzV5UL4CjA; 11.2.2022].

Cueni, Claude (2006): Das grosse Spiel. München: Heyne.

Kuhn, Ursina (2019): Gleiche Einkommen, ungleiche Vermögen. In: Republik. [https://www.republik.ch/2019/10/28/gleiche-einkommen-ungleiche-vermoegen; 11.2.2022].

Schweizerische Nationalbank (SNB) Neue Banknoten Für Die Schweiz. In: Schweizerische Nationalbank. [https://www.snb.ch/de/iabout/cash/series9/id/cash_series9; 11.2.2022].

Simmel, Georg (1900): Philosophie des Geldes. Leipzig.

Solidar Suisse Extreme Ungleichheit. In: Solidar Suisse. [https://solidar.ch/de/mithelfen/extreme-ungleichheit/; 11.2.2022].

Wiegers, Elvira (2003): Nationalbank Verkauft Gold. In: Swissinfo.ch. [https://www.swissinfo.ch/ger/nationalbank-verkauft-gold/3172542; 11.2.2022].

3 Kommentare zu "Ist Geld eine Religion?"

  1. In der Studierendenzeitschrift „déjà-vu“ hatten wir uns vor Jahren mal intensiv mit der Frage befasst, was Geld ist und was es historisch für Bedeutungen hatte. Ein paar Ausschnitte finden sich noch hier: https://web.archive.org/web/20030908064947fw_/http://www.unibas.ch/deja-vu/archiv/indexarchiv.html
    speziell zur Geld-Geschichtsforschung: https://web.archive.org/web/20030908064947fw_/http://www.unibas.ch/deja-vu/archiv/indexarchiv.html

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