Die scheinheilige Aufregung über Instagram

Publiziert am 9. Oktober 2020 von Matthias Zehnder

Diese Woche hat Instagram seinen zehnten Geburtstag gefeiert: Seit dem 6. Oktober 2010 ermöglicht es die Instagram-App, Fotos zu teilen. Das Jubiläum war für viele Medien Anlass, über Instagram zu berichten – und den grossen Warnhammer auszupacken. Der «Tages-Anzeiger» warnt vor «Social-Media-Dominanz», SRF2 vor «auf Hochglanz polierten Scheinwelten». Die Netflix-Doku «The Social Dilemma» gar vor Meinungsmanipulation, sozialem und psychischem Zerfall. Es klingt dramatisch. Doch die Aufregung über Instagram ist scheinheilig.

Es ist eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch: Kevin Systrom und Mike Krieger entwickelten zusammen ein Programm, das es ermöglichte, Fotos mit Freunden zu teilen. Die entsprechende App veröffentlichten sie am 6. Oktober 2010 im App Store von Apple. «Instagram» nannten sie die App – ein Kofferwort aus «Instant» im Sinne von Sofortbild wie bei der Kamera von Polaroid und «Telegram» im Sinne der schnellen, elektronisch übermittelten Nachricht. Das Teilen von Fotos mit Freunden erfreute sich rasch grosser Beliebtheit. Obwohl Instagram auch zwei Jahre nach seiner Gründung noch kein Ertragsmodell hatte, also noch nicht einmal wusste, wie man damit irgendwann Geld verdienen könnte, kaufte Facebook 2012 den Fotodienst für eine Milliarde Dollar und machte die Gründer zu reichen Männern.

Hier geht es zur Videofassung des Kommentars

Seither ist die Plattform stark gewachsen. Heute nutzen weltweit über eine Milliarde Menschen Instagram. Die Hälfte davon ist jeden Tag aktiv. Fast zwei Drittel der Benutzer sind zwischen 18 und 34 Jahren alt. Die beiden populärsten Benutzerkonten gehören dem Fussballer Cristiano Ronaldo (160 Millionen Follower) und der Sängerin Ariana Grande (150 Millionen Follower).[1] Dass man nicht jung sein muss, um Erfolg zu haben auf Instagram, bewies kürzlich der britische Naturforscher und Tierfilmer Sir David Attenborough: Der 94-Jährige eröffnete einen Instagram-Account und meldete sich mit einem emotionalen Video, um vor der derzeitigen Umweltkatastrophe zu warnen. Nach nur vier Stunden folgten dem britischen Senior schon über eine Million Menschen – ein neuer Rekord. Die bisherige Rekordhalterin Jennifer Aniston hatte bei ihrem Debüt noch fünf Stunden und 16 Minuten benötigt, um die 1-Millionen-Follower-Marke zu knacken.[2]

Herrschaft der sozialen Medien

In den Schweizer Medien sorgte der Geburtstag von Instagram weit herum für erhobene Zeigefinger. «Instagram gaukelt auf Hochglanz polierte Scheinwelten vor», sagte etwa SRF2 Kultur und zitierte Katja Rost, Soziologin an der Universität Zürich: «Instagram ist ein sehr oberflächliches soziales Medium, bei welchem sehr stark die Emotionalität der Bilder im Vordergrund steht und der Text, sofern es überhaupt einen gibt, in den Hintergrund rückt.»[3] «10vor10» lud zum Geburtstag des Bilderdiensts einen Suchtexperten ins Studio ein[4] und der «Tages-Anzeiger» schrieb von der «Social-Media-Dominanz» von Instagram.

In der Tat ist Facebook mit den beiden Tochterfirmen Instagram und WhatsApp mittlerweile so mächtig geworden, dass sogar amerikanische Politiker deren Zerschlagung fordern. Einen Tag, nachdem Instagram Geburtstag feierte, kam der Wettbewerbs-Unterausschuss des US-Repräsentantenhauses zum Schluss, dass Facebook und weitere Technologiefirmen ihre Macht missbrauchen würden. Die Politiker fordern, dass die Macht von Facebook, aber auch von Firmen wie Amazon, Apple und Google, eingeschränkt und einer Aufsicht unterworfen werden. Sogar von einer Zerschlagung der Tech-Konzerne ist die Rede.

Netflix hat einen Dokumentarfilm veröffentlicht, der mit Instagram und anderen sozialen Netzwerken hart ins Gericht geht: In «The Social Dilemma» kritisieren Wissenschaftler und ehemalige leitende Angestellte von Instagram, Facebook, Google und Pinterest die Tech-Firmen für die Art und Weise, wie sie aus Benutzern Süchtige machen. Der Film kritisiert insbesondere, wie die Sozialen Medien mit Falschinformationen umgehen und suggeriert, sie seien verantwortlich für die sozialen Unruhen in den USA. Der deutsche «Tagesspiegel» schrieb, den Machern sei ein packender Film über die «Verführungskraft sozialer Netzwerke» gelungen. Doch der Film verführe damit «selbst zu vorschnellen Urteilen».[5]

Die drei grossen Probleme

Der Film tut so, als wären wir alle sozialen Netzwerken völlig hilflos ausgeliefert. Als kämen Instagram und Facebook über uns wie zwei der sieben Plagen der Ägypter.  Und das stimmt sicher nicht: Es ist durchaus möglich, sich den sozialen Netzwerken zu verweigern oder sie sehr selektiv zu nutzen. Es stimmt aber auch: Soziale Medien haben problematische Seiten. Ich sehe vor allem drei Punkte, die besonders zu denken geben.

1) Die Intransparenz des Algorithmus: Soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram funktionieren so, dass sie dem Benutzer einen konstanten (und endlosen) Feed von Beiträgen zusammenstellen. Welche Beiträge der Benutzer dabei sieht, das bestimmt der Algorithmus des Netzwerks. Das ist ein Programm, das aufgrund der bisherigen Aktivität der Benutzer Beiträge auswählt und anzeigt. Dabei geht es nicht um Relevanz oder ein anderes objektives Kriterium, es geht einzig und alleine darum, den Benutzer möglichst lange am Bildschirm zu halten und ihn zu weiteren Interaktionen mit Instagram oder Facebook zu bringen. Aus Sicht des Anbieters ist das logisch und verständlich. Aus Sicht des Benutzers ist das Problem, dass der Vorgang intransparent ist. Die meisten Benutzer sind sich nicht bewusst, dass sie eine auf sie präzise zugeschnittene Auswahl an Beiträgen sehen. Besonders verheerend ist das in einem politisch gespaltenen Land wie den USA: Demokraten sehen auf Facebook und Instagram eine blaue Welt, Republikaner sehen eine rote Welt. Dass sich Fox News und CNN unterscheiden, das ist verständlich und nachvollziehbar. Dass ein Demokrat und ein Republikaner auf Facebook aber zwei völlig unterschiedliche Welten zu Gesicht kriegen, das ist für einen normalen Benutzer nicht einleuchtend.

2) Die Vermischung von Werbung und Inhalt: Facebook und Instagram leben von Werbung. Das Interessante für Werbetreibende: Man kann auf den Netzwerken eine Werbeanzeige ganz präzise nur genau jenen Bevölkerungsgruppen anzeigen lassen, die man ansprechen will. Man kann Beruf, Alter, Wohnort und Interessen genau auswählen und so die Anzeige fast ohne Streuverlust ausspielen. Das ist gut für Werbetreibende – und für das Publikum. Es verhindert nämlich, dass ich mit Werbeanzeigen belästigt werde, die für Dinge werben, die für mich gar nicht infrage kommen. Das ist an sich nicht problematisch. Heikel ist, dass die bezahlten Postings sich von normalen Postings kaum unterscheiden. Für Benutzer sind Werbung und normale Inhalte also höchst verwechselbar. Weil die Werbung auch noch individualisiert geschaltet wird, also jeder Bildschirm anders aussieht, ist es kaum möglich, sich über Werbung auszutauschen. Dazu kommt, dass auch normale Postings voller Werbung sein können. Wenn ein Instagrammer ein Produkt zeigt, kann es sich dabei immer um bezahlte Werbung handeln. Das soll zwar deklariert werden, aber erstens ist das so gut nicht sichtbar und zweitens halten sich viele Influencer nicht daran. Auf diese Weise mischt sich auf mehreren Ebenen authentischer Inhalt mit bezahlter Werbung. Wenn es um Kosmetika oder Kleider geht, mag das nicht ganz so schlimm sein – spätestens dann, wenn es um politische Inhalte geht, wird es sehr heikel.

3) Der Zwang zum Like: Das vielleicht grösste Problem an Facebook und Instagram sind die Herzchen respektive die hochgereckten Daumen. Ganz grundsätzlich sind Postings auf den sozialen Netzwerken auf Likes aus. Der Ausdruck von Like oder Dislike ist (übrigens nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch unter vielen Zeitungsartikeln auf Websites) zur primären Stellungnahme geworden. Diese Verengung des Diskurses auf «mag ich» oder «mag ich nicht» ist schon so selbstverständlich geworden, dass es uns gar nicht mehr auffällt, wie unnatürlich das ständige Liken ist. Gerade junge Menschen sollten sich aktiv und kritisch mit der Welt auseinandersetzen und nicht in der blossen Like/Dislike-Kategorie verharren. Man kann sich mit einem Thema intensiv beschäftigen, ohne es gleich mögen oder ablehnen zu müssen. Sich selbst, die eigene Person, dieser Like-Maschinerie auszusetzen, kann zudem gerade bei Heranwachsenden verheerende Konsequenzen haben.

Warum die Aufregung scheinheilig ist

Der Algorithmus, die Vermischung von Werbung und Inhalt, die Likes – das alles zeigt, dass Instagram letztlich eine kommerzielle Werbemaschine ist. Das Netzwerk will mit der Aufmerksamkeit seiner Benutzer Geld verdienen. Die Unterschiede zu herkömmlichen Medien sind dabei aber nur graduell: Wie Instagram will auch jeder Fernsehsender so viel Aufmerksamkeit wie möglich von seinem Publikum – und ihm so viel Werbung wie möglich zu zeigen. Wie Instagram möchte auch jede Zeitung und jedes Magazin im Internet die Benutzer so lange wie möglich fesseln, so viele Klicks wie möglich generieren und so gut ankommen, wie es geht.

Die Aufregung über Instagram ist deshalb scheinheilig. Nicht Instagram ist das Problem, sondern die kommerzielle Logik dahinter. Wir sollten uns nicht über das amerikanische Bildernetzwerk aufregen, sondern über die Fahrlässigkeit, mit der wir unsere Kinder kommerziellen Medienanbietern in die Arme treiben. Ob es sich dabei um Instagram und Youtube oder um kommerzielle Internetangebote oder Fernsehsender handelt, kommt letztlich etwa auf dasselbe heraus. Wir setzen unsere Kinder und Jugendlichen höchst professionellen Werbe- und Manipulationsangeboten aus, die nach beinhart kommerzieller Logik aufgebaut sind, an der Oberfläche aber so tun, als seien sie nur lieb und nett und als ginge es ihnen nur um das Wohl der BenutzerInnen, der LeserInnen oder der ZuschauerInnen.

Wenn wir unseren Kindern schon nichts Besseres zu bieten haben als die Kälte der kommerziellen Medienwelt, dann sollten wir sie wenigstens warm anziehen: mit Bildung. Auf dass sie resilient werden gegenüber den Tricks der Aufmerksamkeitsgesellschaft und besser wissen als der Algorithmus, was ihnen gut tut. Wir müssen unsere Kinder und Jugendlichen früh mit jenem Wissen und jenen Fertigkeiten ausstatten, die sie dazu befähigen, sich mündig durch die Medienwelt zu bewegen. Dazu gehört auch das Wissen über die Funktionsweise der Neuen Medien und über die medienökonomische Mechanik. Das ist weniger einfach, als auf Instagram einzuprügeln. Aber es ist wesentlich wirksamer.

Basel, 9. Oktober 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jede Woche ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar und einen Buchtipp. Einfach hier klicken. Wenn Sie am abonnieren sind, abonnieren Sie doch auch meinen Youtube-Kanal. Und wenn Sie den Wochenkommentar unterstützen möchten, finden Sie hier ein Formular, über das Sie spenden können.


Quellen

Bild: © Look! – stock.adobe.com

[1] Siehe Social Media Statistik des Influencer Marketing Hub: https://influencermarketinghub.com/social-media-statistics/

[2] Vgl. «Tages-Anzeiger» vom 27. September 2020: https://www.tagesanzeiger.ch/tierfilmer-knackt-anistons-instagram-rekord-201548785193

[3] Vgl. SRF2 Kultur, 6. Oktober 2020: https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/10-jahre-instagram-instagram-gaukelt-auf-hochglanz-polierte-scheinwelten-vor

[4] Vgl. «10vor10» vom 6. Oktober 2020; https://www.srf.ch/play/tv/10vor10/video/fokus-einfluss-und-auswirkungen-von-social-media-plattformen?urn=urn:srf:video:0ada9554-ef6b-4f8d-a6b0-cfddf28c634e

[5] Vgl. «Der Tagesspiegel», 16. September 2020: «Warum diese Doku Teil des Problems ist»; https://www.tagesspiegel.de/kultur/the-social-dilemma-auf-netflix-warum-diese-doku-teil-des-problems-ist/26191666.html

2 Kommentare zu "Die scheinheilige Aufregung über Instagram"

  1. Bei diesen Medien geht es in erster und in zweiter Linie sowenig um Soziales wie beispielsweise bei der Pharmawirtschaft um Gesundheit. Und so geht es auch bei Schulen, wo mit Rennbahnpädagogik unterrichtet wird, nicht um Bildung, sondern um das Gewinnen. Was vor allem zählt, ist Macht, Profit und Spass. Aber eigentlich ist das alles nicht wirklich lustig, auch wenn es perfekt so daherkommt.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.