Hundert Zeilen Hoffnung

Publiziert am 3. Januar 2020 von Matthias Zehnder

Schlechte Nachrichten gibt es genug und die Medien sind voll von Warnungen und Bedenken. Zum Auftakt des neuen Jahrzehnts habe ich deshalb fünf Entwicklungen zusammengetragen, die mich hoffnungsvoll stimmen. Es sind zum Teil zarte Pflänzchen. Nur wenn wir ihnen Sorge tragen, werden sie unsere Hoffnungen bestätigen. Trotzdem geben sie jetzt schon Anlass für Zuversicht. Zum Jahresbeginn biete ich Ihnen deshalb hundert[1] Zeilen Hoffnung.

Wir wissen es eigentlich schon lange: Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Will heissen: Für wirklich viel Aufmerksamkeit sorgen nur Nachrichten, die Sie scharf nach Luft holen lassen, die Sie erschrecken, empören oder gar wütend machen. Deshalb sind Zeitungen und das Internet voll von Meldungen über Unglücke und Verbrechen. Oder haben Sie gedacht, dass die Medien darüber berichten, weil es so wichtig ist?

Das Äquivalent zur schlechten Nachricht ist zu Beginn eines neuen Jahres die Warnung: Experten werfen ihre Stirn in Falten und warnen vor Krieg und Katastrophen, vor einer Abkühlung der Wirtschaft, vor dem Ende der Börsenhausse, vor Umweltkatastrophen, Krankheiten, Unwettern und Unglück allenthalben. Es muss fürchterlich sein, dieses Jahr, das da auf uns zukommt. So fürchterlich, wie nahezu jedes Jahr. Denn bei Lichte betrachtet und überhaupt geht es uns eigentlich gut. Ja: Es geht uns immer besser. Eindrücklich gezeigt hat das der schwedische Arzt und Statistiker Hans Rosling in seinem Buch «Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.»[2]

Ein Fazit des Buches: Wir Menschen neigen systematisch dazu, Gefahren zu überschätzen, deshalb unterschätzen wir den Entwicklungszustand der Welt. Ein Grund dafür liegt in den Filtern, mit deren Hilfe unser Gehirn die vielen Eindrücke der Welt für uns filtert. Der Filter im Gehirn lässt nur jene Informationen durch, die wichtig sind. Und wichtig war in der Evolutionsgeschichte vor allem, was mit Überleben zu tun hat. Schlagzeilen über Gewalt, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Waldbrände, Unfälle und Verbrechen durchdringen den Schutzfilter, deshalb publizieren die Medien überproportional viele solche Meldungen. Unser Hirn erreichen darum vor allem schlechte Nachrichten – entsprechend pessimistisch schätzen wir den Zustand der Welt ein. Hans Rosling und sein Team zeigen anhand von Daten und Grafiken, wie sich die Welt tatsächlich entwickelt und beweisen damit (mindestens für die Vergangenheit), dass es besser um die Welt steht, als wir meinen.[3]

Ich habe deshalb fünf Aspekte herausgesucht, die mir für 2020 Hoffnung machen.

1) Die (Klima-) Jugend

Mit Slogans wie «Wir sind viele, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!» Oder: «The Oceans are rising, and so are we!» sind sie im letzten Jahr auf die Strasse gegangen[4] und haben uns vor Augen gehalten, was wir mit dem Planeten angestellt haben. Die Jugendlichen, die in der Schweiz und in vielen anderen Ländern auf die Strasse gegangen sind, machen mir Hoffnung. Es sind widerständige, kreative junge Menschen, die sich die Zukunft nicht vorschreiben lassen wollen von den Strategen in den Marketingabteilungen der grossen Konsumgüterkonzerne. Sie singen und tanzen sich einen eigenen Weg. Das macht mir Hoffnung auf eine farbige Zukunft mit selbstbestimmten Menschen. Den jungen Demonstranten vorzurechnen, dass ihre Generation gerne auch nach Barcelona oder Stockholm jettet, dass iPhones die Umwelt auch schädigen und dass ihre Visionen Haken haben, ist Buchhalterblödsinn. Schön ist, dass die Jugendlichen ihr Heft in die eigene Hand nehmen und sich um die Zukunft kümmern wollen. Das macht mir Hoffnung. Nein, ich habe keine Erwartungen. Ich weiss nicht, ob die Jugendlichen irgendwo ankommen werden. Hoffnungsvoll scheint mir, dass sie aufgebrochen sind.

2) E-Bescheidenheit

2019 ist die Autoindustrie endlich aufgewacht. All die (deutschen) Autobauer, die bis dahin mit fantasievollen Namen ihre Dieseldreckschleudern unters Volk brachten, sind jetzt plötzlich «e». Abgesehen vom Antrieb hat sich aber wenig geändert. Automodelle wie der Audi e-tron, der Porsche Taycan oder der Tesla Model X setzen nach wie vor auf automobilen Protz und wollen die Käufer (bewusst nur die männliche Form) mit Superlativen ansprechen. Dabei sollten wir uns doch gerade von den unnötigen Kraftmeiereien verabschieden. Dicke SUVs mit Allradantrieb braucht bei Lichte besehen niemand. Doch es geht auch anders. Hoffnung macht mir eine kleine Start-up-Firma namens Sono Motors. Das ist ein deutsches Unternehmen, das ein neuartiges E-Auto entwickelt. Der «Sion» von Sono Motors lässt sich auch über Solarzellen laden. Die Zellen sind in die Karosserie des Autos eingebettet und verschaffen dem Auto Strom für eine Tagesreichweite von etwa 30 Kilometern. Darüber hinaus lässt sich das Auto auch an einer Steckdose aufladen. Das Auto ist auf praktische Bescheidenheit ausgelegt und soll etwa ab 2021 im ehemaligen Werk von Saab im schwedischen Trollhättan gebaut werden. Voraussetzung dafür ist, dass die laufende Crowdfunding-Kampagne genügend Geld einbringt.[5] Die traditionellen Finanzdienstleister wollen das Projekt nämlich nicht vorfinanzieren. Das Auto ist ihnen wohl zu bescheiden. Sollte das nicht klappen, gibt es mit bescheidenen E-Modellen etwa von Honda, Mini und VW etwas traditionellere E-Autos, die dennoch nicht dem Protz verfallen sind. Wenn es denn überhaupt ein Auto sein muss. Denn eigentlich ist 2020 klar: Es geht auch ohne.

3) Frauen in der Politik

Die Wahlen 2019 haben in die Schweiz einen grossen Schritt weitergebracht. Ich denke dabei nicht an die Umwelt. Die Gewinne der Grünen und die Verluste der SP heben sich ja fast auf. Wie umweltfreundlich das neue Parlament sein wird, das hängt vor allem an FDP und CVP. Nein, ich denke an die Frauen. Ich glaube, die Präsenz von mehr Frauen in Bern wird die Politik nachhaltiger verändern als die minimalen Verschiebungen auf dem Links-Rechts-Raster. Auch international haben Frauen damit begonnen, das Heft in die Hand zu nehmen. In Neuseeland etwa hat die junge Premierministerin Jacinda Ardern nach dem Attentat von Christchurch die Waffengesetze deutlich verschärft und halbautomatische Waffen verboten. Besitzer solcher Waffen konnten sie bis Weihnachten dem Staat zurückgeben und erhielten bis zu 95 Prozent des Kaufpreises erstattet.[6]

In Sachen «jung und weiblich» hat aber wohl Finnland die Nase vorn: Im Dezember wurde die 34-jährige Sanna Marin zu Finnlands Regierungschefin gewählt. Sie ist damit die jüngste Ministerpräsidentin der Welt. Abgesehen von ihrem Alter ist die Wahl keine Sensation in Finnland. Wie die «Deutsche Welle» berichtet, wurde in Finnland jedes politische Amt, von der Bürgermeisterin bis zur Staatspräsidentin, schon mindestens einmal von einer Frau besetzt.[7] Das kommt nicht von ungefähr: Finnische Frauen dürfen bereits seit 113 Jahren wählen! Bereits 1926 übernahm in Finnland zum ersten Mal eine Frau ein Ministeramt. Die Ministerpräsidentin wird sich in ihrem Kabinett übrigens nicht besonders jung vorkommen: Zwei Ministerinnen sind noch jünger als sie, eine weitere Ministerin ist gleich alt.

4) Ermutigende Schritte

Überhaupt muss die Politik nicht immer nur schlechte Schlagzeilen liefern. Island zum Beispiel hat extrem strenge Vorschriften für Schiffe beschlossen: Seit Anfang Jahr dürfen Schiffe, die mit Schweröl betrieben werden, die Insel nicht mehr anlaufen. Innerhalb der isländischen Gewässerzone dürfen nur noch Schiffe verkehren, deren Treibstoff einen Schwefelgehalt von 0,1 Prozent nicht übersteigt. Bisher waren 3,5 Prozent zulässig.[8] Viele Kreuzfahrtschiffe dürfen deshalb zumindest vorerst Island nicht mehr anlaufen. Dass Island eine so drastische Senkung der Schwerölvorschriften vornimmt, ist bemerkenswert, weil der Tourismus für das Land eine wichtige Einnahmequelle ist. Island hat offenbar eingesehen, dass der Tourismus nur dann langfristig funktioniert, wenn die Umwelt intakt bleibt.

Auch die Niederlande haben sich zu erstaunlichen Schritten entschlossen: Auf den Autobahnen im Land gilt künftig eine Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern. Ministerpräsident Mark Rutte erklärte, das sei zwar eine «beschissene Massnahme», das Tempolimit sei jedoch unumgänglich, weil das Land den Ausstoss von Stickoxiden senken müsse.[9] Jetzt sind die Niederlande gemeinsam mit Zypern das Land mit der geringsten Geschwindigkeit auf der Autobahn.

Die Schweiz ist da weniger fortschrittlich. Mindestens theoretisch darf man auf unseren Autobahnen weiterhin mit 120 Kilometern pro Stunde fahren. In der Praxis ist das selten möglich, weil die Strassen verstopft sind. 2020 wird dafür Bewegung in die Debatte über Pestizide kommen. Seit Anfang Jahr ist das Fungizid Chlorothalonil verboten. Es wurde zur Bekämpfung von Pilzerkrankungen eingesetzt, konnte aber auch im Grundwasser nachgewiesen werden. Dabei wurde der Grenzwert an vielen Orten in der Schweiz überschritten. 2020 werden voraussichtlich die beiden Pestizidinitiativen zur Abstimmung kommen: «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» und «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung – Keine Subventionen für den Pestizid- und den prophylaktischen Antibiotika-Einsatz». Der Nationalrat hat im Juni beide Initiativen abgelehnt und will sie ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung bringen.[10] Er hat damit ganz im Sinne des Bauernverbands entschieden. Doch der Ständerat besann sich eines Besseren: Er hat Ende August eine parlamentarische Initiative beschlossen, mit der eine stetige Verringerung des Einsatzes von Pestiziden umgesetzt werden soll.[11] Die Bauern werden sich dem Wunsch nach sauberem Wasser in der Schweiz also nicht so einfach entziehen können. Der Ball liegt diesbezüglich jetzt beim Nationalrat – es besteht wieder Hoffnung.

5) Das Cheops-Mission

Eine Hoffnung besonderer Art ist für mich die Schweizer Cheops-Mission: Seit Mitte Dezember kreist das Satellitenteleskop Cheops präzise auf der Tag-Nacht-Grenze um die Erde.[12] Auf der Tagseite streckt es Solarzellen ins Sonnenlicht und tankt so Energie, auf der Nachtseite untersucht das Teleskop bereits bekannte Exoplaneten genauer. Kurz vor dem erfolgreichen Start von Cheops war den Genfer Astrophysikern Michel Mayor und Didier Queloz in Stockholm der Physiknobelpreis für die Entdeckung des ersten Exoplaneten verliehen worden. Hoffnung gibt mir Cheops nicht, weil ich mir ganz besondere Entdeckungen erhoffe oder weil es eine Mission der Universität Bern ist. Als die ersten Astronauten die Erde aus dem Weltall erblickten, wurden sie sich der Schönheit und der Zerbrechlichkeit unseres Planeten bewusst. Von der Cheops-Mission erhoffe ich mir, dass die Suche nach fremden Planeten uns vor Augen führt, wie einmalig unser eigener Planet ist. Das gibt mir Hoffnung.

Basel, 3. Januar 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

Bild: Start der Cheops-Mission, © esa 2019, https://www.esa.int/Science_Exploration/Space_Science/Cheops

[1] Es gibt sicher eine Layout-Ansicht, in der dieser Text hundert Zeilen lang ist.

[2] Vgl. mein Buchtipp hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/factfulness/

[3] Vgl. Gapminder, https://www.gapminder.org/

[4] Vgl. «NZZ am Sonntag», 12. April 2019, https://nzzas.nzz.ch/kultur/sag-mir-wo-die-lieder-sind-klimajugend-schulstreik-ld.1474920

[5] Siehe hier: https://sonomotors.com/de/

[6] Vgl. «Die Zeit», 6. August 2019: «Neuseeländer geben 9.000 Waffen zurück», https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-08/waffenbesitz-neuseeland-rueckgabe-terroranschlag-moscheen

[7] Vgl. «Deutsche Welle», 10. Dezember 2019: «Finnlands Regierung: jung, weiblich, kompetent», https://www.dw.com/de/finnlands-regierung-jung-weiblich-kompetent/a-51607118

[8] Vgl. «Die Zeit», 6. Dezember 2019: «Island kündigt Teil-Verbot von traditionellem Schweröl in der Schifffahrt an», https://www.zeit.de/news/2019-12/06/island-kuendigt-teil-verbot-von-traditionellem-schweroel-in-der-schifffahrt-an

[9] Vgl. «Manager Magazin», 14. November 2019: «Niederlande führen Tempo 100 auf Autobahnen ein», https://www.manager-magazin.de/digitales/it/niederlande-tempolimit-100-auf-autobahnen-ab-2020-a-1296293.html

[10] Vgl. SRF, 20. Juni 2019: «Der Nationalrat unterschätzt die Pestizid-Initiativen », https://www.srf.ch/news/schweiz/volksinitiativen-abgelehnt-der-nationalrat-unterschaetzt-die-pestizid-initiativen

[11] Vgl. «NZZ», 30. August 2019: «Ständeräte durchkreuzen Kalkül des Bauernverbands» https://www.nzz.ch/schweiz/trinkwasser-initiative-staenderaete-wollen-griffige-vorgaben-ld.1505451

[12] Vgl. «NZZ», 18. Dezember 2019: «Zwei Sternstunden der Schweizer Astronomie in einer Woche», https://www.nzz.ch/panorama/cheops-mission-schweizer-weltraumteleskop-im-orbit-angekommen-ld.1528824

Ein Kommentar zu "Hundert Zeilen Hoffnung"

  1. Seit Jahren mache ich Good-Practice-Beispiele , die mir ganz konkret in meinem Europäischen Netzwerk «Bildung&Raum» begegnen, im Sinne dieser „Hundert Zeilen Hoffnung“ für andere bekannt und mache damit bereichernde und ermutigende Erfahrungen. Das ist die eine Seite. Es gibt in meinem Leben auch immer wieder die andere, wo ich mich hüte, den Kopf in den Sand von Hoffnungen zu stecken, die eigentlich schon gestorben sind.

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